Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Wenige Tage später, am 18. Januar 1779, schreibt er den Eltern, und die Kraus-Forschung bezieht diese Äußerung auf Etwas von und über Musik: „[…] bis endlich mein Zeug nach Darmstadt gerith, wo es ein vornehmer Mann über sich nahm, und das Kind unter die Presse jagte. Mit der Manier bliebs so grob, als es zuvor war, und es gereut mich nicht – und es soll noch gröber kommen“Merck, Johann Heinrich66. Zuletzt könnte eine briefliche Bemerkung von Kraus’ Schwester Marianne Lämmerhirt aus dem Jahr 1801 angeführt werden, die nach dem Erhalt von „drei Werkchen vom Bruder“ fragt, die ihre Eltern dem ersten Kraus-Biografen Silverstolpe geschickt hatten, darunter als Nummer drei „Etwas über Musik“.67 Das sind keine Beweise, gleichwohl Indizien. Und gewiss ist die Zuschreibungsthese mit den Indizien kompatibel, aber eben auch nicht nachweisbar, und keine Rede kann davon sein, Kraus’ Verfasserschaft sei „gründlich bezeugt“68 oder „vielfach bezeugt“69.

      Drei Textstellen sind in der Schrift irritierend. Erstens spricht der Autor von „O mein Müller“70, eine ähnliche Redeweise verwendet auch Schubart in seiner Autobiografie.Maler Müller71 Ist das somit ein Indiz dafür, dass Etwas von und über MusikEtwas von und über Musik fürs Jahr 1777 nicht von KrausKraus, Joseph Martin stammen kann? Dagegen spricht, dass Kraus selbst in Mannheim studiert hat, dort Maler MüllerMaler Müller hätte kennenlernen können:

      „O komm – komm du, dessen Sprache Seele und Kraft ist – der mit einem Blicke zu einem Bilde ganze Welten durchläuft – mir den Odem benimmt, wenn er allmälig tief aus dem Innersten die verborgensten – nie gesehne Bilder herauf – mir vor meine Seele zaubert – mich auf dem Sturme mit sich fortschleudert, wenn er raßt und mich hinwirft, daß Wälder und Klipp’ und Sterne um mich rumtaumeln – dann mir auf die Brust kniet und’s Innerste hinauf bis an die Augen treibt – der aus mir machen kann, was er will – Gott, Held, Teufel und Furie – O mein Müller – nimm meine Seele und schüttel sie, daß sie wieder munter wird. Ihr – die ihr noch Kraft in euch fühlt, einen grossen göttlichen Funken ausser euch zu denken – die ihr Trieb fühlt, euch ihm zu nähern und euch dran zu erwärmen – leßt eine Seite aus seinem Tod Abels – eine einzige aus Faust – Könnt ihr dann noch eine Zeile, eine einzige aus Alzesten verdauen – so laßt euch ins Gesicht spucken und aus der Welt hinausprügeln: Die beste und lezte Kur für euch! Daß so ein Mann – daß Müller verkannt werden kann – Ha! Konduite muß der Musiker nicht haben – keine soll er haben, denn der Pursch muß von der Leber wegsprechen – Thut ers nicht, so nehmt ihm die Feder und treibt sie ihm durch beide Ohren, daß ihm Hören und Sehen vergeht!“72

      Maler Müller wiederum war schon 1765 zur Zeichenausbildung in Zweibrücken. Von ihm erschien erstmals 1774 ein Gedicht im Göttinger MusenalmanachGöttinger Musenalmanach, und der junge Autor zog damit sogleich die Aufmerksamkeit der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Autoren, auch Schubarts, auf sich. Ab 1775 hielt sich MüllerMaler Müller in Mannheim auf, KrausKraus, Joseph Martin hingegen war nicht mehr vor Ort. Zweitens heißt es in der Schrift, nachdem der Verfasser KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb als den einzig wahren, lyrischen Dichter gelobt und einen solchen für die Oper gefordert hat: „Wollte er es – wollte es F.L.G. v. StollbergStolberg, Friedrich Leopold Graf zu – wollte es der Mahler Müller – wollte es mein H… – Dann – dann erst würden wir […] wahre und gute Opern bekommen“73. Ähnlich heißt es an anderer Stelle über die Liederdichter: „Das ist gewiß: Klopstock – F.L. Stollberg – Maler Müller – H… und des Gelichters schicken sich dazu nicht“74. Die Initiale H wird von der Kraus-Forschung für Kraus’ Göttinger Studienfreund Johann Friedrich HahnHahn, Johann Friedrich (1753–1779) in Anspruch genommen. Wenn aber SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel der Verfasser wäre, bezöge sich das H auf Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp.

      Auf die Singbarkeit von Schubarts Gedichten, und nicht zu reden von seinen Eigenkompositionen, wurde bereits von den Zeitgenossen hingewiesen; nicht ganz zu Unrecht wurde der Germanistik vorgeworfen, sie habe diesen Aspekt bis heute „vollkommen ausgeblendet“Die Fürstengruft75. Und Schubart galt nicht nur in seiner eigenen Wahrnehmung als begnadeter Organist und Flügelspieler, sondern er hatte sich diesen Ruf schon in den ersten Jahren des Jahrzehnts 1770 in Fachkreisen erworben. Davon zeugt das Buch Musikalisches TagebuchMusikalisches Tagebuch (1773) von Carl BurneyBurney, Carl, der Folgendes berichtet:

      „Ludewigsburg.

      Der Grund, worauf diese Stadt gebauet, ist unregelmässig und wild, dennoch findet man manche schöne Gassen, Spaziergänge und Häuser darin. Die umliegende Gegend ist nicht eben angenehm, aber fruchtbar, an Wein besonders, denn sie liefert eine grosse Menge von dem sogenannten Nekkerweine.

      Eigentlich ist Stutgard die Hauptstadt des Herzogthums Würtenberg, allein seit länger als zehn Jahren hat der Herzog nicht mehr daselbst residirt; und die Opern und andre musikalischen Stiftungen dieses Prinzen, welche die sieben Jahre, daß JomelliJommelli, Niccolò die Direktion darüber hatte, die besten und prächtigsten zu seyn pflegten, sind nur noch bloß der Schatten, von dem was sie gewesen sind.

      Unter andern Einschränkungen, die der Herzog vorgenommen, hat es auch seine Oper und Kapelle mit betroffen, indem eine grosse Anzahl der alten Kapellisten auf halben Sold gesetzt sind: allein wie die meisten musikalischen Virtuosen zu hohe Seelen haben, um mit der ganzen Besoldung auszukommen, sie sey so groß sie wolle, so haben diejenigen unter den besten am hiesigen Hofe, welche Talente für Geld hatten, die Herabsetzung ihres Gehalts als eine Verabschiedung angesehen, und sobald sich nur eine Gelegenheit zeigt, anderwärts unterzukommen, suchen sie Erlaubniß, andre Dienste zu nehmen.

      Als ich von Schwetzingen abreisete, verließ ich den geraden Weg nach Wien ein wenig, um Ludewigsburg zu besuchen, woselbst ich, wie man mir sagte, nicht nur den Herzog von Würtenberg finden, sondern auch Opern, Concerte und grosse Virtuosen zu hören bekommen würde. Allein nachdem ich mich vierzehn bis funfzehn Stunden auf dem Postwagen hatte zusammen rütteln lassen, und fast lebendig geröstet zu Ludewigsburg ankam, fand ich leider, die erhaltne Nachricht so wenig wahr, daß sich der Herzog dreyzehn Meilen entfernt zu Graveneck aufhielt, und kaum ein guter Musikus in der Stadt geblieben war. Indessen erhielt ich ein genaues Verzeichniß von der gegenwärtigen Verfassung der Würtenbergischen Musik, für den Hof, das Theater und die Kirche. […] Die vornehmsten Organisten sind Friedrich Seemann und Schubart. Vier Hoboen, Alrich, Hitsch, Blesner und Commeret. Flöten, Steinhart, der sehr schön bläset, und Augustinelli. Drey Waldhörner; zwey Bassons, Schwarz, ein vortreflicher, und Bart.

      […]

      Der Herzog von Würtenberg, der sonst so grosse Kosten auf die Musik für seinen Hof und Opern verwendet, hat, so viel ich gehört, bey seinen Regimentern keine andre Instrumente, als Trompetten, Trommeln und Pfeifen.

      Dieser Prinz, welcher selbst ein guter Clavicimbelspieler ist, hatte einst zu gleicher Zeit in seinem Dienste drey der grössesten Violinisten in Europa, Ferari, Nardini und Lolli. Die beyden Hoboisten Le Plats, einen berühmten Bassonisten, Schwarz, der noch hier ist, den Waldhornisten Walther, und JomelliJommelli, Niccolò zum Komponisten, und die besten ernsthaften und komischen Sänger von Italien. Gegenwärtig ist die Liste seiner Virtuosen freylich nicht so glänzend; dennoch glaub’ ich, ist die Einschränkung mehr scheinbar als wesentlich. Denn zur Solitude, einem lieblichen Sommerpallaste, hat er mit erstaunlichen Kosten eine Schule für die Künste, oder ein Conservator[i]um errichtet, zur Erziehung von zweyhundert armer und verlassener Kinder, welche Fähigkeiten zeigen. Einer grossen Anzahl von diesen wird Musik gelehrt, und es sind schon verschiedne sehr vortrefliche Sänger und Spieler fürs Theater daraus hergenommen werden. Einige lernen die gelehrten Sprachen und treiben die Poesie, andre lernen agiren und tanzen. Unter den Sängern in dieser Schule befinden sich schon funfzehn Kastraten, denn der Hof hat zwey Bologneser Wundärzte im Dienste, welche diese Operation sehr gut verstehen sollen. Zu Ludewigsburg ist gleichfals ein Conservatorium für ein Hundert Mädchen, die auf eben die Art und zu eben den Zwecken erzogen werden. Das Gebäude, das zu Solitude zur Kunstschule für die Knaben errichtet worden, hat eine Fronte von sechs bis sieben hundert Fuß. Eine von den Lieblingsbeschäftigungen des Herzogs ist, diese Schule zu besuchen, und die Kinder essen und lernen zu sehen.

      Ich kann hier nicht unterlassen,


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