Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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der Sprache in der stilistischen Gestaltung entsprechen genau seiner eigenen poetologischen Maßgabe. Die Botschaft des Stücks ist klar, am Ende solle gezeigt werden, „Wie Recht und Macht den Platz behaͤlt“ (S. 18) und die Tugend siege. Das entspricht durchaus der Programmatik eines barocken Trauerspielsbarockes Trauerspiel. Weise bietet kein Revolutionsstück, an dessen Ende der Umsturz der bestehenden Verhältnisse stünde.

      Das Drama gliedert sich gleichmäßig in fünf Akte. Zu den im Personenverzeichnis genannten 82 Personen treten noch die stummen Figuren hinzu, sodass leicht eine Zahl von 100 oder mehr Schauspielern vorstellbar wird. Masaniello, der Titelheld und „Haupt der Rebellion“ (S. 14), tritt erst im 14. Auftritt des ersten Akts auf. Diskursiv anwesend ist er jedoch schon im zweiten Auftritt, er ist dort Gegenstand eines Dialogs zwischen dem Herzog von Arcos und neapolitanischen Vizekönig Roderigo und seinem Hauptmann Anaclerio. Die Macht, die der Offizier an Masaniello fürchtet, ist dessen Redegewalt (vgl. S. 21). Der Fischer vermag durch Reden die aufständischen Massen zu binden und erfüllt damit im Zeugnis seiner Gegner das wesentliche Merkmal des rhetorischen moveremovere. Um Einfluss und letztlich Macht zu gewinnen, muss eine Rede die Zuhörer bewegen, sie also affektiv disponierbar machen.18 Öffentliche Rede – ein wesentlicher Bestandteil von Weises Verständnis des Politischen – hat für Roderigo und Masaniello gleichermaßen instrumentellen Charakter. Während Masaniellos Reden den Widerstandswillen der Aufständischen festigt, fühlt sich der Herzog an ein öffentlich gegebenes Wort ebenso wenig gebunden wie an schön klingende Versprechungen (vgl. S. 22).

      Einer der häufigsten Begriffe des Stücks heißt Autorität. Er wird doppelt so oft gebraucht wie der nicht weniger bedeutungsvolle Begriff der TugendTugend.19 Das dargestellte tugend- und untugendhafte Verhalten ist dem sprachlichen Rekurs auf Macht und Herrschaft untergeordnet. Öffentliches Reden muss sich also mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen auseinandersetzen. Und genau dies tut WeiseWeise, Christian in seinem Stück. Er zeigt nicht nur die repräsentative Öffentlichkeit des Hofes und der Kirche, sondern auch die Lebensformen, die Verhaltens- und Redeweisen der BürgerlichenBürgerliche im weitesten Sinne. Die Gattungszuordnung orientiert sich nicht mehr am jeweiligen Stand, sondern durchbricht vertikal die StändeordnungStändeordnung. Tragisches gibt es auch bei den Kleinbürgern und Unterprivilegierten, komisch sind auch Verhaltensweisen der höhergestellten Personen von Hof und Kirche.

      Der Herzog Roccella klagt darüber, dass er nicht in der Lage ist, seinen Empfindungen Celinde gegenüber, der Tochter von Herzog Roderigo, den adäquaten sprachlichen Ausdruck zu verleihen (vgl. S. 27) – man ist geneigt zu sagen, er hat nicht Weises Schule besucht. Auch dazu präpariert die weisesche Wohlredenheit, die Sprachlosigkeit und Unsagbarkeit in jeder Hinsicht zu überwinden. Doch die Haupthandlung dreht sich um einen politischen Sachverhalt. Das Anliegen der Neapolitaner besteht darin, dass sie den Zoll auf Getreide und Mehl abgeschafft haben wollen. Adressat dieser Forderung ist nicht etwa der spanische König, zu dessen Herrschaftsbereich Neapel gehört, sondern die korrupte Stadtverwaltung und der neapolitanische Vizekönig (vgl. S. 35). Die politische Kritik Weises hat dort ihre Grenzen, wo sie an die Grundfesten des absolutistischen Staates des 17. Jahrhunderts rührt. Damit zeigt Weise seinen Schülern auch, welche Gefahr droht, wenn sie sich später als zukünftige Staatsdiener zu „boßhafftigen und ungerechten Diener[n]“ (S. 35) verbiegen lassen. „Politische Klugheit“ (S. 179) erfordert aber auch, das Staatswohl nicht zu jeder Zeit und um jeden Preis zu verteidigen. Ferrante, der Herzog von Caracciolo, sagt, dass ein vernünftiger Mensch gelegentlich auch einem wilden Tier weichen (vgl. S. 34) und die Niederschlagung des Aufstands abgewartet werden müsse.

      Das Beispiel eines völlig sinnentleerten Redens, gleichsam eine Parodie auf gelehrtes Buchwissen, stellt Allegros Selbstbekenntnis dar: „ich habe geredt ich weiß selber nicht / was es heist“ (S. 37). Sein lateinisches Kauderwelsch trägt maßgeblich dazu bei, diese Figur, die im Personenverzeichnis als der kurzweilige Diener des Vizekönigs vorgestellt wird, als Narren zu begreifen. WeiseWeise, Christian verstärkt dieses Moment der Narrheit noch dadurch, dass er Allegro, der erkennt: „Nun bin ich der Narr allein“ (S. 54), kleine Narren als stumme Figuren beiordnet, die diesen durch das Stück begleiten (vgl. etwa S. 55 u. S. 115). Und man kann sich durchaus fragen, ob in dieser Figur nicht etwas Simplicianisches fortlebt. Allegro ist natürlich auch ein sprechender Name, der das Bewegte, Lebhafte und Heitere im Sinne musikalischer Tempobezeichnung betont. Durch ihn kommt ein beschleunigendes Element in den Text, das zugleich die Gattungsgrenzen zwischen Tragödie und Komödie aufweicht. Allegro wird zum Grenzgänger zwischen Komischem und Tragischem, ohne selbst nur komisch oder nur tragisch zu sein. Weise begeht damit einen poetologischen Tabubruch. In der Figur des Allegro übertritt er wohl am radikalsten die Grenzen einer normativen Gattungstrennung. Denn in der barocken Tragödiebarockes Trauerspiel ist kein Platz für einen solchen Narren. Von hier nehmen auch Überlegungen ihren Ausgang, Weises MasanielloMasaniello als deutschen Prototyp des Mischspiels TragikomödieTragikomödie zu verstehen. Dies macht dann Sinn, wenn man Weises Tragikomödie so begreift, dass durch die komische Figur stets Tragisches bei anderen verursacht wird, Komik also Tragik bedingt.20 Die komische Figur selbst bleibt komisch.

      Die meisten komischen Handlungs-, Figuren- und Redeelemente in Weises Stück stammen aus der Tradition der italienischen Commedia dell’arte, denn schließlich spielt das Stück auch in Italien. Hierzu zählt unter anderem die komische Szene zwischen Buffone und Masaniello in der neunten Szene des vierten Akts, in der auf den „aus der Commedia dell’arte bekannten Lazzo der Furcht“21 angespielt wird. „Die lazzi sind Kristallisationspunkte der körperlichen ‚Beredsamkeit‘ des Schauspielers, bereitstehende Formen, denen Geschehen und Situation nur als Anlaß, als Vorwand dienen. Im Gefüge der KomödieKomödie erscheinen sie am Abschluß bzw. innerhalb der Situationen als Zellen der Improvisation“22. Im fünften Akt erscheint Allegro über mehrere Szenen hinweg als ein Papagei und sitzt gefangen in einem Vogelbauer. Auch dieses Motiv mag WeiseWeise, Christian der italienischen Tradition entlehnt haben, tritt doch in der Commedia dell’arte der Harlekin mit Papageienstimme auf. Schließlich weist auch Allegros Kostümwechsel (Allegro trägt Frauenkleider, vgl. S. 147) und Gestaltwechsel auf diese Tradition hin. Daneben kann aber auch der Einfluss der englischen und deutschen Wanderbühnen geltend gemacht werden, wenn etwa Allegro als ein „leibhafftiger Pickelhering“ (S. 97, Regieanweisung) erscheint.23 Weise nimmt also höchst verschiedene und unterschiedliche Theatertraditionen in seinem Stück auf und nutzt sie dramaturgisch zur Entfaltung des Komischen im Tragischen.

      Auch das Stück selbst gibt Anhaltspunkte für die Grenzgänge zwischen den Gattungen KomödieKomödie und TragödieTragödie. So wird etwa die wehklagende Interjektion ach im Laufe des Stücks insgesamt 160-mal24 ausgerufen. Durch diese übertrieben häufige Nennung wandelt sich der tragische Schreckensruf fast selbst schon zu einem komischen Signalwort. Bei allen diesen Argumenten für einen absichtsvollen Gattungswechsel darf freilich nicht übersehen werden, dass Weise selbst sein Drama Trauerspiel nennt und die Gattungsdiskussion dadurch an Brisanz verliert. Im Titel findet sich dies nur auf dem Titelblatt des gleichzeitig zum Erstdruck erschienenen Einzeldrucks Trauer-Spiel | Von dem | Neapolitanischen | Haupt-Rebellen | MASANI- | ELLO, | præsentiret in Zittau / | Den 11. Febr. M DC LXXXII. Und auch in der Leseranrede spricht Weise selbst von der „Tragœdie vom Masaniello“ (S. 9).

      Masaniellos Forderung an Roderigo ist eindeutig. Er verlangt von den Beamten des Vizekönigs, dass die Menschen als „Buͤrger und nicht als Hunde“ (S. 41) behandelt werden. Die alte Ordnung, die in der Zollfrage den Bürgern ein Privilegium zusicherte, soll wiederhergestellt werden. Masaniello tritt also zunächst, d.h. aus der Perspektive des Textes gesehen, mit einer berechtigten Forderung auf. Die Wiederherstellung der alten Verhältnisse bedeutet für ihn, die „alte Freyheit“ (S. 58) wiederzuerlangen. Doch bereits im zweiten Akt wird Masaniello als ein Mensch vorgestellt, dessen Ansichten über Recht und Gerechtigkeit höchst eigenwillig sind. In der 12. Szene entwickelt WeiseWeise, Christian förmlich eine GerichtssatireGerichtssatire. Masaniello und die anderen Anführer der Aufständischen sprechen Recht über Kavaliersdelikte. Die Drastik der Bestrafung – am Ende erfolgt jeweils die Tötung des Delinquenten – steht in keinem Verhältnis zum Vergehen. Einzig Allegro entgeht der Todesstrafe, seine gewitzte Antwort auf Masaniellos Befragung erhält ihn am Leben. Weise lässt also von Beginn an keinen Zweifel, wie er Masaniello charakterisiert


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