Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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mit Sympathie, gar als positiven Helden, der nach ethischen Grundsätzen handle.25 Einen Fischer zur Hauptfigur eines barocken Dramas zu machen, verstößt zwar gegen die Norm barocker Poetik, in der TragödieTragödie die FallhöheFallhöhe zur Geltung zu bringen. Nur hochgestellte Persönlichkeiten aus Kirche und Adel wären demnach in der Lage, exemplarisch das unverschuldete tragische Geschehen vor Augen zu stellen. Doch ist die Aufhebung der Ständeklausel im protestantischen Schuldramaprotestantisches Schuldrama gang und gäbe.26 Insofern greifen jene Deutungen zu kurz, die außer Acht lassen, dass Masaniello nicht erst im Verlauf des Stücks ungerecht und maßlos wird, sondern dies von Anfang an schon ist.

      Im dritten Akt wird das Komplott gegen Masaniello ins Werk gesetzt. Antimo und weitere Banditen sind von den Adligen gedungen. „Der rasende Fischer-Knecht muß uͤber den Hauffen geschossen werden“ (S. 89), heißt ihr Auftrag. Unter dem Schutz des Kardinals und neapolitanischen Erzbischofs Philomarini wird der Wortlaut des Privilegiums verlesen (vgl. S. 95). Die Revolutionäre scheinen an ihrem Ziel zu sein. In diesem Augenblick beginnen die Banditen auf Masaniello zu schießen, und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Ein versöhnliches, friedfertiges Ende ist von nun an ausgeschlossen.27 Bravo, ein Mitstreiter Masaniellos, rechtfertigt Gewalt und Gegengewalt mit den Worten: „Der Todschlag ist ehrlich / welcher dem Volcke zum besten geschiehet“ (S. 107).

      Nach dem gescheiterten Anschlag erlässt Masaniello am Ende von III/17 den Befehl, dass Männer und Frauen ohne Ansehung des Standes keine langen Kleider mehr tragen dürfen, aus Angst, dass sich darunter Waffen verbergen ließen. Selbst Geistliche sind davon nicht ausgenommen. Laura, eine Bürgersfrau, kommentiert dies euphorisch: „Kurtze Roͤcke und keine Contribution, das ist unsere Losung“ (S. 130).28 Wenn Masaniello also nun schon wahnsinnig wäre, so hätte der Wahn zwischen dem Anschlag (vgl. III/6) und diesem Befehl (vgl. III/17) von ihm Besitz ergreifen müssen. Doch der Text bietet dafür keine Anhaltspunkte, denn Masaniello tritt in den dazwischen liegenden Szenen nicht auf. Dies verstärkt natürlich die Dringlichkeit der Frage, ob Masaniello in III/17 nun schon wahnsinnig oder schlicht komisch ist. Vor den Augen des Publikums wird dem Herzog Caraffa in III/18 von Masaniellos Schwager Formaggio mit einem Messer der Kopf vom Rumpf getrennt. Wie kommt es zu diesem Umschlag von politischer Forderung zum Wahn, wenn es denn Wahn ist?

      Schon LessingLessing, Gotthold Ephraim hatte an der Figur Masaniello die „endliche Zerrüttung seines Verstandes“29 als besonders tragödienfähig erkannt. Sein Bruder KarlLessing, Karl beabsichtigte sogar, ein Masaniello-Drama zu schreiben. Am 14. Juli 1773 zeigte sich Lessing sehr interessiert an diesem Plan, habe er sich doch selbst einmal mit dem Gedanken getragen, den Masaniello-Stoff zu dramatisieren. Masaniello eigne sich als exemplarische tragische Figur: „Ich glaubte sonach den Mann in ihm zu finden, an welchem sich der alte rasende Herkules modernisieren ließe“30. Die psychische Komplexität, „die allmähliche Entwicklung einer solchen Raserei“31 historisch zu entfalten, betrachtet Lessing als dramatische Herausforderung. Diese Herausforderung hatte seiner Meinung nach beispielhaft Christian WeiseWeise, Christian mit seinem Masaniello-Drama bewältigt, obwohl Lessing dem Stück neben shakespeareShakespeare, Williamscher Genialität auch ‚pedantischen Frost‘ bescheinigt.32 In der knappen Inhaltsangabe zum Stück spricht der Autor Weise selbst vom schlechten und obskuren Menschen Masaniello, dessen zehntägiger revolutionärer Lebensweg sich von Torheit zur Raserei entwickle (vgl. S. 12). Als der Kopf des Herzogs zur Schau gestellt wird, legitimiert Masaniello in einer Rede die Gewalt, sie sei „die Goͤttliche Straffe“ (S. 112). Auch der Adel und der Klerus berufen sich darauf, im göttlichen Auftrag zu handeln. Und wenn man bedenkt, dass Masaniello am Ende der 18. Szene die Verantwortung der Revolutionäre für „die gantze Wohlfahrt von Neapolis“ (S. 113) herausstellt, dann kann dies eigentlich nicht die Rede eines Wahnsinnigen sein, soll nicht die Sorge um das Gemeinwohl schlechthin einem deliranten Diskurs entspringen.

      Auch das zweite Treffen in einer Kirche mit der Partei des Vizekönigs und mit Erzbischof Philomarini in IV/10–12 enthält ein komisches Element. Seiner Macht bewusst, diktiert Masaniello zwar Ergänzungen zu den schriftlichen Freiheitsprivilegien des Königs. Doch während seiner Schlussrede bahnt sich die Komik an, die prächtigen Festtagskleider, die er seit seinem Besuch beim Vizekönig trägt (vgl. IV/1), will er nun wieder ablegen. Dabei kommt es zu Ungeschicklichkeiten. „Er reist an dem Kleide / und kan nicht zu rechte kommen“ (S. 140, Regieanweisung). Er kniet vor dem Vizekönig nieder und wendet sich Hilfe suchend an ihn, was dem symbolischen Widerruf der Revolution gleichkommt. Roderigo jedoch komplimentiert ihn in dieser Situation so sehr, dass sich Masaniello fast schon verzweifelt an die Umstehenden wendet: „Ach jhr Leute / […] ach erbarmet euch / und betet vor mich / daß ich wieder zu meinen Fischer-Hosen komme“ (S. 140).

      Der erste Hinweis auf Masaniellos Wahnsinn kommt ausgerechnet von einem Adligen. Was sich zunächst wie der Teil einer Diffamierungsstrategie ausnimmt, erweist sich im weiteren Verlauf des Stücks als reelle Diagnose. Laudato vermutet, Masaniello müsse wahnsinnig sein, und stützt sich dabei auf die beobachteten Ungeschicklichkeiten (vgl. S. 140). Die Szenen bis zu Masaniellos nächstem Auftritt in V/14 sind fast ausschließlich komische Szenen oder aber haben Masaniellos Wahnsinn zum Thema. In der 11. Szene des letzten Akts bringt Arpaja, der als Masaniellos Ratgeber bezeichnet wird, die Nachricht, dass Masaniello rasend geworden sei. Arpaja und Formaggio fordern vom Vizekönig die Verwahrung Masaniellos. Nun benennt auch für die gesamte Szene V/14 die Regieanweisung mit ihrer objektivierenden Intention Masaniellos Verhalten als „rasend“ (S. 164).

      Auch das närrische Trommelspiel inszeniert die Figur Masaniello als fast komischen Narren, dessen Handlungen aber für andere tragisch sind. Er hält sich für den Papst und macht „possierliche Lectiones“ (S. 166, Regieanweisung). Masaniello bedroht Frauen und Kinder und verkündet im Gottesdienst ketzerische Lehren. Rechtzeitig bevor das Stück in Klamauk abzustürzen droht, erkennt der Fischer seine Lage und bittet darum, ihn vom Kommando der Rebellen zu entbinden (vgl. S. 170). Er wird in ein Kloster gebracht und in einer Zelle verwahrt. Seiner Selbsteinschätzung „ich bin gantz vernuͤnfftig worden“ (S. 170) mag indes niemand mehr Glauben schenken. Im Kloster wird er von den Adligen Salvador, Angelo, Laudato und Afflitto mit mehreren Schüssen niedergestreckt. Sein Leichnam wird zerstückelt und zur Schau gestellt.

      Die letzten 28 Zeilen des Textes sind in sechshebigen Jamben gereimt (aabbcc). Weise kehrt zur Traditionsnorm des barocken Trauerspielsbarockes Trauerspiel zurück. Zwei Adlige, die Brüder Ferrante und Carlo, formulieren das Ergebnis des Stücks:

      „FERR.

      Es ist ein edles Thun / wer klug und tapffer ist /

      CARL.

      Und gleichwohl der Gedult im Schrecken nicht vergist.“ (S. 177)

      Tugendhaftigkeit, die Gnade Gottes, Klugheit, Warten, Schweigen, Tapferkeit und Geduld – das sind jene in den Schlussversen beschworenen Begriffe und TugendTugenden, die resümierend als Grundlage für „Politische Klugheit“ (S. 179) genannt werden. Die „vielen nachdencklichen Lehren“ (S. 178), die aus dem Stück gezogen werden können, bündeln sich in der Erkenntnis, dass hochgestellte Personen wie der Vizekönig und der Erzbischof ihr politisches Handeln und damit ihre Verantwortung für das Gemeinwohl nach dem Grad des Widerstands bemessen, den sie erfahren. Einer Weide gleich passe sich diese Verhaltensweise dem „Sturmwinde“ (S. 179) an, um nach dem (politischen) Unwetter sich umso gefestigter wieder aufrichten zu können.33 Der Adlige und der Kleriker werden von WeiseWeise, Christian als Vorbilder und Leitfiguren exponiert, so wie politische Einsichten und Klugheiten im Stück ausnahmslos von Höfischen formuliert werden. Philomarini kann insofern als „Verkörperung staatspolitischer Klugheit“34 gelten. Der Narr Allegro hingegen zeigt jene Anpassungsfähigkeit, die nur den individuellen Vorteil sucht und keine Spur von der Verantwortung für das Gemeinwesen zeigt. Masaniello schließlich beschwört zwar die „tapffere Bestaͤndigkeit“ (S. 113) politischen Handelns, konterkariert diese Einsicht aber wenig später durch seine Raserei. Ihm gelingt nicht die Verinnerlichung des neostoizistischen, barocken constantia-Ideals, wonach constantia (Beständigkeit) Einübung in die beherrschte Gleichmäßigkeit von Affektlagen bedeutet.35 Die Kluft zwischen Wort und Tat wird bei ihm am deutlichsten. Dass sich im Bild der anpassungsfähigen Weide auch subtile Kritik an solcher Art Verhalten verbirgt, liegt auf der Hand. Inwieweit sie von den Zeitgenossen aber erkannt werden konnte und sie


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