Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Dialekt übernimmt, die aber einem Juden in den Mund gelegt sind, mit einer Ausnahme, als nämlich der Schulz vom „Hinkelhabicht“ (S. 141) spricht, was pfälzisch Hühnerhabicht bedeutet. Jene Wörter sind also weniger jiddisch, als vielmehr pfälzisch-dialektale und regionale Wörter.34 Zu diesen sprachlichen Besonderheiten im Text, die in der Forschung bislang keine Rolle gespielt haben, zählen: „Kluppen“ (S. 95), das bedeutet eigentlich Wäscheklammern, hier im Sinne von Folterzangen gemeint; „Zalmer“ (S. 96) sind kleine Münzen, Zall oder Zalmer bedeutet Kreuzer und jiddisch Münzeinheit; „Schabes“ (S. 97) ist im Pfälzischen die Krätze, hier jiddisch Schabbes im Sinne von Sabbat gemeint; „Mischemaschinne“ (S. 116) ist selbsterklärend; „gedalkt“ (S. 116 u. S. 117), pfälzisch dalakern bedeutet verprügeln; „Ette“ (S. 117) ist jiddisch und heißt Vater; „Ganver“ (S. 96, S. 117 u. S. 123), das Verb ganfen, das mit f geschrieben wird, bedeutet im Pfälzischen stehlen, ein Ganfer ist also ein Dieb, hier eventuell Druckerfehler; „diwren“ (S. 117), das Verb diwwern oder dibbern bedeutet im Pfälzischen heimlich reden, hier im Sinne von erklären; „Schaude“ (S. 117 u. S. 122) heißt pfälzisch eigentlich Schoten, einfältiger, dummer, jähzorniger, närrischer Mensch, Possenreißer; „Rosch“ (S. 117) ist pfälzisch für Kopf; „Goie“ (S. 117), eine Goje ist jiddisch eine Nichtjüdin; „Banum“ (S. 117 u. S. 122) ist vielleicht vom pfälzischen Banem oder Bonem für Gesicht abgeleitet, hier im Sinne von Mund; „broches“ (S. 117), pfälzisch eigentlich broges, bedeutet verkracht, verfeindet, beleidigt, zornig, böse; „Schabesdeckel“ (S. 122), eigentlich Schabbesdeckel, pfälzisch für Zylinderhut für den Besuch in der Synagoge; „Ische“ (S. 122), pfälzisch und jiddisch bedeutet Judenfrau; „Erv“ (S. 124), eigentlich Erf geschrieben, ist pfälzisch für Bürge, hier eventuell Druckerfehler; „tov“ (S. 124), pfälzisch tof oder duf(t) für klug. Die Tatsache, dass HahnHahn, Ludwig Philipp den Anschein erweckt, der Jude spreche jiddisch, in Wirklichkeit aber vorwiegend Wörter des pfälzischen Dialekts gebraucht, unterstreicht, dass der Autor Hahn gar nicht daran interessiert ist, eine sprachhistorisch beglaubigte und damit authentische Wiedergabe historischer Wirklichkeit zu liefern. Er stellt durch diese Sprachdystrophie ein poetologisches Regeldenken fundamental in Frage. In seinem nächsten Stück Robert von HoheneckenRobert von Hohenecken wird Hahn dies noch weiter fortführen, nun aber ignoriert er historische Sachverhalte. Dass ihm dies von der wilhelminischen GermanistikGermanistik des späten 19. Jahrhunderts als ein eklatanter Fehler und als ein schriftstellerisches Versagen ausgelegt wurde, erstaunt angesichts der Tatsache, dass die Gallionsfigur dieser Germanistik selbst mit historisch ungenauen oder frei erfundenen Daten und Sequenzen gearbeitet hat, man denke etwa an Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Drama Maria StuartMaria Stuart (1800).

      Hahns Stück spielt auf der Burg Adelsberg, eine gespielte Zeit wird nicht festgelegt, es kann also sowohl im Mittelalter als auch in Hahns Gegenwart spielen. Der Autor zeichnet eine starke Frauenfigur, die sich selbst bald „rasend“ nennt und damit dem Typus einer rasenden Sturm-und-DrangSturm und Drang-Frau entspricht. Sie will Reichhard zu einer Liebe zwingen, die dieser vehement zurückweist. Aber Karoline geht weit über den diskursiven Rahmen hinaus, sie nötigt Reichhard zu einem Kuss, sie bedrängt ihn körperlich, berührt ihn, obwohl sich Reichhard entschieden dagegen wehrt. „Du musst mich lieben“ (S. 98) lautet ihre kategorische Anweisung. Karoline verfolgt den Plan, Reichhard zur Mittäterschaft an der Ermordung ihres Mannes zu verleiten. Mit der emphatischen Interjektion Ha! bedient sich Reichhard eines sprachlichen Merkmals der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Dramatik. In einem kurzen Monolog im fünften Auftritt antwortet die Gräfin Karoline darauf mit einem dreifachen Ha! und offenbart damit sukzessive neben ihrer kriminellen Energie auch ihren Wahnsinn. Reichhard räsoniert in aufgeklärter Tradition über den Liebesimperativ der Gräfin und kann diesen noch mit folgender Überlegung parieren: „O beym Himmel! wer den Menschen, den seine Leidenschaften elend gemacht haben, nicht beklagt, nicht herzlich bemitleidet, ist ein Barbar“ (S. 102). Zugleich muss er aber erkennen, dass die bloße Berührung, der bloße körperliche Kontakt „wie ein Bliz, durch Mark und Bein“ (S. 102) geht und alle vernünftigen Disziplinierungsregularien zum Entgleisen bringt. Karoline kombiniert ihren Liebesimperativ mit einer körperlichen Züchtigung („Gibt ihm einen sanften Schlag“, S. 102), bevor sie Reichhard um den Hals fällt und ihn küssen will. Sie nennt ihn „rasend“ und „vom Bösen besessen“ (S. 103) und projiziert damit ihre eigene Seelenlage auf den Mann, der sich ihrem Willen nicht unterwirft und ihr nicht gehorcht. Sie wünscht sich sogar seinen Suizid (vgl. S. 103). In einer berechnenden Eigendiagnose erklärt sie Reichhard, dass sie lange ihrer Neigung habe widerstehen wollen, doch sie lasse sich nicht verdrängen, was ihr ein Beleg für die Intensität und Echtheit ihrer Gefühle sei. Karoline bedient sich dabei der zeitüblichen Metapher vom Dammbruch und bettet ihre individuelle Affektlage in einen allgemeinen Leidenschaftsdiskurs ein, mit der entscheidenden Frage, wie eine Selbstbändigung von solch gewaltigen Leidenschaften überhaupt möglich sei. Ihre „Neigung […] riss’ alle Schranken nieder, überstieg alle Dämme der Vernunft. Ich bin eine Thörin – eine rasende, leichtfertige Thörin, und doch gäb ich mein Leben um Berührung deiner Lippen“ (S. 103). HahnHahn, Ludwig Philipp wiederum fügt dieses wilde Begehren ein in den für den Sturm und Drang spezifischen Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen einer Emanzipation der LeidenschaftenEmanzipation der Leidenschaften. Das populärste Beispiel hierfür ist sicherlich GoetheGoethe, Johann Wolfgangs WertherDie Leiden des jungen Werthers-Roman (1774). Im dritten Aufzug dieses zweiten Akts bietet Hahn das erste von zwei Liedern dar (im Original nicht paginiert). Zuerst kommt der Liedtext im Haupttext des Dramas, danach folgt die Komposition mit der Satzbezeichnung ‚traurig, schmachtend‘. Ein Schäfer singt und bietet mit dem Text die Kontrafaktur zum Handlungsgeschehen mit umgekehrten Geschlechterrollen. Der Komponist ist nicht bekannt. Ob HahnHahn, Ludwig Philipp möglicherweise selbst das Lied komponiert hat, bleibt Spekulation.

      Karolines Mann Graf Karl von Adelsberg ist ein kranker Mann, der seine Burg ebenso als Kerker empfindet wie er seinen Körper als giftgetränkt erfährt. In seinem Zimmer atme er Moder, spricht er zu seinem Vertrauten Schulz. Das ist ein bildlicher Hinweis darauf, dass das alte Regime bereits dem Untergang geweiht ist, die Ritterherrlichkeit und Obrigkeitswillkür wird keinen weiteren Bestand haben. Hierin bleibt der Autor Hahn dem zeitgenössischen Verständnis des Sturm und DrangSturm und Drang als einer Haltung der Rebellion gegen Ständeunterschiede treu. Auch wenn der schmerzgeplagte Graf, der über „die höllische Pein!“ (S. 107) klagt, an Gicht leidet, so macht seine Zurschaustellung auf der Bühne in einem Rollstuhl deutlich, dass er eine Macht und Handlungssouveränität für sich beansprucht, die er in Wahrheit gar nicht mehr hat. Er will sich aus seinem Rollstuhl erheben, fällt aber zu Boden und wird erst später vom Schulz wieder in den Rollstuhl gesetzt (vgl. S. 111). Die Botschaft lautet: das alte System hat sich überlebt. Krankheit und Behinderung werden somit zu politischen Metaphern in Hahns Stück. Dass die Gräfin ihren Mann nicht liebt, ihn abstoßend findet und ihn sich lieber tot wünscht, ist dem Grafen nicht verborgen geblieben. Sie bezeichnet ihren Mann als „Höllenbraten“ und „Weibermörder“ (S. 110), dem sie am Ende des sechsten Auftritts eine Ohrfeige gibt, dass ihm die Mütze vom Kopf fällt – all das sind Hinweise darauf, dass der Liebesimperativ von Karoline sich auf Gewalt gegen Männer gründet. Sie ohrfeigt nicht nur den eigenen Mann, sondern auch den begehrten Mann Reichhard.

      Das zweite Lied mit der Satzbezeichnung ‚aufgeräumt, bäurisch‘ (vgl. III/1; im Original nicht paginiert) singt Hänsel, der als Mörder gefangen genommen worden und vom Grafen in absolutistischer Willkür zum Tode verurteilt worden ist. Dieser Liedtext konterkariert Karolines Handlungsweise und nimmt das tragische Ende vorweg. Zugleich offenbart das Lied, dass Karolines Liebesimperativ ihren Mitmenschen nicht verborgen geblieben ist. Hänsel dient auch als Kontrastfigur zur Adelswillkür, er ist derjenige, der eine dezidierte Sozialkritik vorträgt, dabei ist er gefesselt und im Gefängnis verwahrt. Über die Obrigkeit sagt er: „Ihr seyd doch Diebe, und just des Galgens so – ja öfter noch würdiger, als ich und meines Gleichen. Warum? Uns abzuhalten, braucht man nur Hüter, gute Schlösser und Riegel; aber vor euch ist so gar unsers Herrgotts Schazkammer nicht sicher, und stund ein Cherub mit einem feurigen Schwerdt an der Pforte. Wie das zu verstehen sey, ist leicht zu begreifen.“ (S. 113) Diese monologische Reflexion über die soziale und politische Ungleichheit ist an die Zuschauer oder das Lesepublikum adressiert, da Hänsel in dem gesamten Auftritt allein bleibt. Erst danach tritt


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