Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Übereinstimmung darin zu erzielen, worin diese definierten Textmerkmale bestehen, zum anderen ist der Tolon bislang kaum bekannt, geschweige denn von der Sturm-und-Drang-Forschung wahrgenommen worden.1

      Joseph Martin Kraus wurde am 20. Juni 1756 in Miltenberg am Main geboren.2 1761 zog die Familie nach Buchen im Odenwald, wo sich heute ein Kraus-Museum befindet. Der Vater war kurpfälzischer Beamter, die Familie also katholisch. 1768 ging Kraus nach Mannheim auf die jesuitische Schule und lernte den musikalischen Stil der ‚Mannheimer Schule‘ kennen. Seit dieser Zeit komponierte KrausKraus, Joseph Martin und schrieb Gedichte. Er begann im Januar 1773 ein Jurastudium in Mainz und setzte es zum Jahreswechsel in Erfurt an der zweiten mainzischen Universität fort, bis familiäre Verhältnisse ihn 1775 zwangen, das Studium zu unterbrechen und nach Buchen zurückzukehren. Dem Vater wurden ungerechtfertigte Untreuevorwürfe gemacht, ein drei Jahre dauernder Gerichtsprozess belastete die Familie. Im November 1775 musste Kraus für ein Jahr nach Buchen zurückkehren, um seinen Vater zu unterstützen. Im November 1776 ging Kraus nach Göttingen, um sein Studium fortzusetzen.3 Hier knüpfte er auch Kontakte zu den restlichen Vertretern des Göttinger HainGöttinger Hain, einer Dichtergemeinschaft, die sich im Herbst 1774 wieder aufgelöst hatte und die vor allem dem großen Vorbild KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb huldigte und die Lyrik des Sturm und DrangSturm und Drang maßgeblich prägte.4 Namentlich mit Friedrich Leopold von StolbergStolberg, Friedrich Leopold Graf zu (1750–1818) und dem jungen Johann Friedrich HahnHahn, Johann Friedrich (1753–1779) verband ihn eine enge Freundschaft.5 In diesem Umfeld entstanden auch eigene Gedichte. Welche davon später von ihm in eigenen Liedkompositionen auch vertont wurden, bedarf weiterer exakter Untersuchungen. Im Juni 1778 wanderte er nach Schweden aus, um dort sein Glück als Komponist, Musiker und königlicher Kapellmeister am Hof von Gustav IIIGustav III.. zu finden. Seine musikalisch-literarische Doppelbegabung entschied sich schließlich für die Musik. Er schrieb ein umfangreiches musikalisches Werk, darunter Symphonien, Opern, Kantaten, Lieder, Instrumentalmusik.6 Kraus starb am 15. Dezember 1792 in Stockholm. Dass sein Geburtsjahr das gleiche ist wie dasjenige von MozartMozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791), hat für allerhand bedeutungsvolle Interpretationen genügt. Auch die Titulierung als sogenannter Odenwälder Mozart oder als Badener Mozart trug mit dazu bei, den Musiker und Komponisten KrausKraus, Joseph Martin sehr gründlich zu erforschen.7 Anders steht es um den Literaten Kraus, der in den für die deutsche Literaturgeschichte so umwälzenden Jahren zwischen 1770 und 1776 versuchte, sich literarisch zu positionieren, durch eigene Gedichte, durch eine Satire, durch ein Drama und durch den musikkritischen Almanach Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777 (Frankfurt a.M. 1777. Faksimilenachdruck hgg. v. Friedrich W. Riedel 1977).8 Die Autorschaft für den anonym erschienenen, ebenfalls musikkritischen Almanach Wahrheiten die Musik betreffendWahrheiten die Musik betreffend […] (Frankfurt a.M. 1779) konnte eindeutig geklärt werden, Kraus ist nicht der Verfasser, wie gelegentlich noch zu lesen ist, sondern der Weimarer Hofkapellmeister Ernst Wilhelm WolfWolf, Ernst Wilhelm (1735–1792).9

      Die frühen literarischen Texte – seine späteren Textvertonungen und Libretti werden hier nicht mitgerechnet – von Joseph Martin Kraus sind in ihrer literaturhistorischen Bedeutung nach wie vor nur wenig erhellt. Das beginnt schon mit einem Gedichtband, der heute als verschollen gilt und dessen Titel nicht verifiziert werden konnte. Hieß das Büchlein tatsächlich Versuch in SchäfersgedichtenVersuch in Schäfersgedichten, wie in der Kraus-Forschung tradiert wird, und erschien es in Mainz im Jahr 1773? Oder hieß es vielleicht doch Idyllen? Oder trugen die Gedichte einen völlig anderen Titel? Gab es ein Autodafé von Kraus in Stockholm? Wollte er von dieser Arbeit nichts mehr wissen? Immerhin hat er einige eigene Gedichte und ähnliche Gedichte anderer vertont. Erhalten geblieben ist dieser Gedichtband nicht, selbst nicht in Kraus’ eigenem Nachlass. Es sollen insgesamt 15 Schäfergedichte gewesen sein, immerhin hat am 5. Oktober 1800 sein ehemaliger jesuitischer Musiklehrer Pater Alexander KeckKeck, Alexander (1724–1804) bestätigt, dass er damals ein Bändchen mit den Gedichten von Kraus erhalten hatte.10

      Der Versuch in SchäfersgedichtenVersuch in Schäfersgedichten bleibt weiterhin geheimnisumwittert. Denn nicht auszuschließen ist, dass es sich um eine philologische Mär handelt. Die Fakten sind dürr, wir wissen lediglich, dass KrausKraus, Joseph Martin eine Handvoll Gedichte in Art traditioneller Schäferlyrik geschrieben hat und diese in Mainz 1773 drucken ließ. Allerdings macht der Titel stutzig. Denn dieser Titel wäre die namensgleiche Reprise des Gedichtbands Versuch von Schäfer-Gedichten und andern poëtischen AusarbeitungenVersuch von Schäfer-Gedichten und andern poëtischen Ausarbeitungen (o.O. [Dresden] 1744) von Johann Christoph RostRost, Johann Christoph (1717–1765). Nach der Erstauflage von 1744 folgten mehrere Nachdrucke und Neuauflagen, so in den Jahren 1748, 1751, 1760, 1768 und zuletzt in einer neuen, vermehrten Auflage 1778. Einem „I. Krauß“ wird ein Buch mit dem Titel Versuch in Schäfer-Gedichten (Maynz 1774 [!]) zugeschrieben. Quelle ist das Buch Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod (Bd. 2, Berlin 1798, S. 193) von Erduin Julius KochKoch, Erduin Julius. Wir wissen nicht, ob ihm ein Original vorlag oder ob auch er diese Daten nur vom Hörensagen kannte. Nach heutigem Stand der Wissenschaft lässt sich das nicht mehr rekonstruieren, man ist auf Zufallsfunde angewiesen. Da die Titelgleichheit von Rosts Gedichtband und Kraus’ Gedichtband also zu auffällig ist, muss man so lange von einer Verwechslung oder einem gravierenden Irrtum der Überlieferung ausgehen, bis tatsächlich der Gedichtband von Kraus eines Tages auftauchen und zu autopsieren sein wird.

      Der Musiker und Musikkritiker Birger Anrep-Nordin (1888–1946) stützt sich in seiner schwedischen Dissertation Studien über Josef Martin Kraus (Stockholm 1924) auf Samuel SilverstolpeSilverstolpe, Samuel (1769–1851) und dessen Kraus-Biografie, die auf Schwedisch 1833 in Stockholm erschienen ist.11 Aus der Beschreibung Silverstolpes, dass es sich bei Kraus’ Gedichten um Idyllen handle und Kraus selbst sie einen „Versuch“ genannt hatte, ist im Laufe der Überlieferungsgeschichte mutmaßlich der an Rost angelehnte Titel Versuch in Schäfersgedichten geworden. Nach Anrep-Nordin erscheint der Titel in der Wissenschaft mit unterschiedlichen Schreibweisen, die aber lediglich auf orthografischen Ungenauigkeiten beruhen. Dass SilverstolpeSilverstolpe, Samuel selbst ein Exemplar vorgelegen hat, kann angenommen werden. Der Versuch, in seinem Nachlass und dessen Umfeld fündig zu werden, blieb ohne Ergebnis. Silverstolpe spricht jedenfalls von 15 Idyllen und 47 Druckseiten. Er schreibt:

      „Zu dieser Zeit überließ er sich zum ersten Mal dem Reiz, Schriftsteller zu sein. Er schrieb damals die Idyllen zusammen, 15 an der Zahl, welche Herr Klein in seinem Brief erwähnt, und ließ sie 1773 in Maynz [!] mit seinem Namen auf dem Titelblatt drucken. Sie ergaben 47 Seiten in kleinem Oktavformat. In seinem Vorwort bat er um ‚Nachsicht, wenn er sich bei dieser ersten Arbeit, mit der er sich in die Welt hinauswagte, gegen die Sprache und gegen das Natürliche versündigt habe, das in Idyllen herrschen sollte.‘ – Wenn man bedenkt, dass er sich im Alter von 17 Jahren an eine der heikelsten Gesangsarten sogar für den ungebundenen Stil wagte, fürchtet man doch, dass seine Entschuldigung in letzter Hinsicht nötig ist. Aber stattdessen erkennt man in diesem sicherlich auf sein Betreiben so genannten Versuch alle Spuren der einfachen und edlen Eingebungen der Natur. Die Einfalt und Zufriedenheit des tugendhaften Hirtenlebens durchdringt die kleinen Geschichten; sie sind sozusagen planlos und im Ausdruck frei von allem Anspruch. Es ist erwähnenswert, dass die gleiche Reinheit der Empfindung sich in seinen zwei und drei Jahre später gewagten Musikkompositionen für die Kirche offenbart, welche mit ihrer geringeren Vollkommenheit bezeugen, dass Tonkunst und schöne Literatur bei KrausKraus, Joseph Martin die gleiche Urquelle hatten, die Natur.“12

      Gemeinhin bezeichnet man die Periode der Jahre 1770 bis 1776 in der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte als die Hochphase des Sturm und DrangSturm und Drang.13 1776 erscheint das Drama TolonTolon, KrausKraus, Joseph Martin ist eindeutig der Verfasser, obwohl auch dieser Text – wie in der Zeit üblich – anonym erschienen ist. Allerdings liegen hier Briefe von Kraus an seine Eltern vor, in denen er auf das Drama Bezug nimmt.14 Der äußere Anlass zur Abfassung des Dramas bestand in dem ungerechtfertigten Korruptionsprozess gegen seinen Vater. Diese Beschuldigung hing mit dem Mainzer politischen Regierungswechsel von Kurfürst Wenzel von Breidbach-Bürresheim zu Friedrich Carl Joseph von ErthalErthal, Friedrich Carl Joseph von (1719–1802) 1774 zusammen.15 Dem Vater wurde Bestechlichkeit im Amt


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