Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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50). Damit verweist Kraus zum wiederholten Male in unterschiedlich verteilten Figurenreden auf die Bedeutung des MitleidsbegriffsMitleid für dieses Drama, in dem sich durchaus auch Sedimente von LessingsLessing, Gotthold Ephraim Mitleidstheorie finden lassen, wenn man dessen Maßstab vom mitleidigsten Menschen als dem besten Menschen einer Gesellschaft zugrunde legt. So erklärt sich auch Kraus’ Hinweis auf Tolons Angst, denn Angst als gesteigerte Affektform der Furcht wird in der Lesart dieser lessingschen Mitleidstheorie das auf sich selbst bezogene Mitleid.21 Auf der Ebene einer Dramaturgie der Intrige muss verhindert werden, dass der Prinz die Wahrheit erfährt, Tolon muss für tot gehalten werden. Damit muss er auf der Realebene schnellstens getötet werden, denn seine Schwester soll mit dem Monarchen (immerhin einem König) des benachbarten Staats verheiratet werden. Jennemer erklärt dem Notar, es müsse verhindert werden, dass Tolon dieses Territorium erreicht und dort Schutz und Hilfe erfährt. So sehr sich der Notar eben noch als Verteidiger eines aufgeklärten Mitleidsbegriffs gezeigt hat, so schnell lässt er sich von Jennemer nun überzeugen, dass Tolon gefunden und getötet werden muss. Im vierten Auftritt findet sich wieder eine Evangelienallusion, wenn es heißt: „Die Bürger sogar suchen ihn mit Stangen auf“ (S. 54). Tolon erfährt dadurch beinahe schon christologische Züge. Dies dient der Überzeichnung des dramatischen Geschehens, es macht aber auch deutlich, dass sich selbst ein so unchristlich und mörderisch verhaltender Barwill, der dazugekommen ist, in einem kanonisierten Bild der Passionsgeschichte der LutherLuther, Martin-Sprache bedient. Die alludierte Textstelle verweist auf Jesu Gefangennahme im Garten Gethsemane. Im 26. Kapitel des Matthäus-Evangeliums heißt es, Judas kam „und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und mit Stangen“, um JesusJesus gefangen zu nehmen und ihn zu töten. Jennemer berichtet Barwill, dass der Prinz Tolon persönlich sprechen wolle, um sich von ihm sein Geständnis bestätigen zu lassen. Den Prinzen bezeichnet Barwill als „veränderlich“ (S. 55), wankelmütig und Stimmungsschwankungen unterworfen. „Sein geäussertes Mitleiden [!] heißt und nützt nichts“ (S. 55), meint Barwill, denn längst schon hat er insgeheim die Macht im Staat übernommen. Denn der Prinz hat inzwischen doch Tolons Todesurteil unterzeichnet, da ihm Barwill einen Volksaufstand mit Aufruhr und Tumult wegen Tolons angeblichen Vergehen vorgetäuscht hat. Auch die Schilderung dieser Szene erinnert wieder an die Passionsgeschichte, wenn dort das Volk von Pilatus den Tod Jesu verlangt. Schließlich habe er den Prinzen dadurch überzeugen können, dass er das von seiner Hand gefälschte Schriftstück Tolons aushändigte. Am Ende unterschreibt er das Todesurteil. Als Amalie von Tolons angeblichem Tod erfährt, verfällt sie in Wahnsinn. In Barwills Bericht darüber erwähnt er den Namen einer „Luzinde“ (S. 57), die sich gemeinsam mit einem Arzt um die Genesung Amaliens kümmerte. Diese Figur wird weder in ihrer Funktion erklärt noch taucht sie an einer anderen Stelle des Dramas nochmals auf. Das kann als ein Hinweis gelesen werden, dass der Autor Kraus sein Stück schnell geschrieben und in den Druck gegeben hat.

      Schließlich kommt Tolon, der diese Bekenntnisse und Berichte belauscht hat, aus seinem Versteck heraus. Sein Diener kehrt aus der Stadt zurück und bringt Tolon die Nachricht, dass Amalie gestorben ist. Dieser Szenenabschnitt mit Tolons Schmerz arbeitet vollständig mit den sprachlichen Mitteln des Sturm und DrangSturm und Drang, Gedankenstrich reiht sich an Gedankenstrich, Aposiopesen wechseln einander ab.22 Tolon beschließt „mit einer Miene die eine gräßliche Munterkeit ausdrückt“ (S. 61) zur Beisetzung Amaliens zu gehen. Und obwohl Tolons Diener ihm treu bis in den Tod folgen will, bleibt er im Stück doch namenlos, er ist und bleibt „Bedienter“. In der siebten und achten Schlussszene wird das Finale dieser Tragödie vorbereitet. Es erfolgt mitten in der Szene ein Kulissenwechsel – und dieser plötzliche Ortswechsel ist ein Sturm-und-DrangSturm und Drang-typischer Verstoß gegen das aristotelAristotelesisch-lessingLessing, Gotthold Ephraimsche Reglement einer Einheit des OrtsEinheit des Orts –, der einen Friedhof zeigt. Da es Nacht ist, kann sich Tolon später ungesehen an einem Grabstein in einen Mantel gehüllt verbergen. Man sieht „hie und da grosse Grabsteine als Merkmale verfallener Hoheiten“ (S. 64), heißt es in der Regieanweisung, was man als eine ironische Brechung absolutistischer Macht durch den Text verstehen kann. Tolon spricht über seine Liebe, die SexualitätSexualität nicht ausschloss („hier Amalie vereinigen wir uns – mit einem heiligern Triebe als sonst – “, S. 65). Das ist nur wenig sprachlich codiert, um den Schicklichkeitsstandards der Zeit zu entsprechen. Als der Sarg in die Erde gelassen wird, drängt sich Tolon zwischen Jennemer und Barwill, entledigt sich seines Mantels und sticht mit dem Ausruf „Rache für Amalien und Tolon!“ (S. 67) die beiden Männer zeitgleich mit zwei Messern nieder. Ein drittes dient seinem Selbstmord, den er mit den letzten Worten drapiert „Amalie, wir vereinigen uns auf ewig“ (S. 67), er sticht sich mitten ins Herz und fällt in die Grube. Dieser Selbsthelfer (so lautet das goetheGoethe, Johann Wolfgangsche Wort) als dem männlichen Handlungsmuster des Sturm und Drang wird zum Selbsträcher und endet im Scheitern. Eine Lösung im Sinne einer Utopie wie in LenzLenz, Jakob Michael Reinholdens HofmeisterDer Hofmeister (1774) oder in den SoldatenDie Soldaten (1776) bietet das Stück nicht, auch kein harmonisches Schlusstableau, wie ihn das Bürgerliche Trauerspiel kennt. Der TolonTolon ist eine TragödieTragödie des Sturm und Drang, die von Beginn an den Zugriff auf eine Architektur des Selbsthelfertums verweigert und stattdessen das Scheitern in dessen Erweiterung als Selbsträchertum demonstriert. Der Tolon von Joseph Martin KrausKraus, Joseph Martin hat als ein Stück des Sturm und Drang zweifelsohne eine ausführliche wissenschaftliche Würdigung verdient.

      Karl Philipp Moritz Blunt oder der Gast (1780)

      Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp (1756–1793) veröffentlichte als 24-Jähriger das Drama Blunt oder der GastBlunt oder der Gast. Das Stück hat nicht Eingang gefunden in den Kreis jener Literatur, die durch bildungsgeschichtliche, institutionengeschichtliche, sozialgeschichtliche oder lebensgeschichtliche Bedingungen oder einfach durch Gewohnheit kanonisiert worden ist. Die Nennung dieses Dramas fehlt in fast allen literaturgeschichtlichen Lexika; auch in den spezielleren Handbüchern zur Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang findet es erst seit kurzem Erwähnung.1 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass dieser Ausschluss nicht gerechtfertigt ist. Im Gegenteil, dies vorweg als These formuliert: Moritz’ Blunt ist ein großartiger Abgesang auf die Literatur des Sturm und Drang, gleichermaßen seine Vollendung wie sein Ende.

      Blunt oder der Gast. Fragment – unter diesem Titel erscheint der erste Teil des Textes in der Litteratur- und Theater-Zeitung Nr. 25 vom 17. Juni 1780, S. 385–399. Der zweite Teil folgt in der Ausgabe Nr. 29 vom 15. Juli 1780, S. 449–456, der dritte und letzte Teil erscheint in der Nr. 33 vom 12. August 1780, S. 513–527. Ein Jahr später veröffentlicht Moritz eine Buchausgabe (Berlin: Arnold Wever 1781) mit dem veränderten Untertitel Blunt oder der Gast. Ein Schauspiel in einem Aufzuge. Es bleibt Moritz’ einziger abgeschlossener dramatischer Versuch, berühmt geworden ist er damit nicht. Die Buchfassung – und in diesem Sinne muss sie als ein Lesedrama verstanden werden, uraufgeführt wurde das Drama erst 1986 in Heidelberg – unterscheidet sich vor allem in zwei Punkten vom Erstdruck. Einmal wird dem Text selbst eine kleine „Vorrede“ vorangestellt, zum anderen endet das Drama in der Buchfassung versöhnlich. Der Sohn wird nicht vom Vater umgebracht. Der Erstdruck bietet hingegen zwei Schlussfassungen, eine Mordvariante und eine Harmonievariante. Dass die Interpreten sich damit schwergetan haben, liegt auf der Hand. Schon bei der Gattungsbezeichnung wird die Unsicherheit der wenigen Autoren, die sich mit dem Text beschäftigt haben, offenkundig. Es wurde versucht, diesen doppelten Schluss in eine typologische Ordnung und eine literaturhistorische Bewertung zu bringen.2 Das Modell eines doppelten Schlusses ist nicht zu verwechseln mit dem Konzept der TragikomödieTragikomödie, die Trauerspiel und Lustspiel, TragödieTragödie und KomödieKomödie gleichermaßen zu sein beabsichtigt (mit den entsprechenden poetologischen Implikationen). Der doppelte Schluss hingegen unterläuft dieses Konzept, er ist nicht beides zugleich, sondern wechselt innerhalb des Stücks von einer Gattung in die andere. Dass darin weit mehr zum Ausdruck kommt als die bloße Entscheidungsunfähigkeit des Autors, wie vermutet wurde, und es sich um weit mehr als nur um ein „dramengeschichtliches Kuriosum“3 oder ein „merkwürdige[s] Jugendwerk“4 handelt, soll im Folgenden belegt werden. Denn im Fall von MoritzMoritz, Karl Philipp’ BluntBlunt oder der Gast handelt es sich darum, dass innerhalb eines Stücks zwei scheinbar sich ausschließende Schlussvarianten geboten werden. Die dagegen angeführten anderen Beispiele zielen vor allem


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