Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Sturms und Drangs sind, Gottlob! jezt größtentheils […] lahm geritten“16.

      Der alte Blunt als der Aufklärervater schreibt im Traum seine eigene Geschichte um, die Herkunft seines Verbrechens. Mit der Formulierung „nun sind unsre Wünsche erfüllt“ (S. 31) des jungen Blunt am Ende des Stücks weist MoritzMoritz, Karl Philipp das Drama als Wunscherfüllung aus. Zugleich aber wird der harmonische Schluss als Wunsch, eben als fiktiv entlarvt, denn der Mord geschieht ja nicht, im Gegenteil, es gibt ein fast empfindsamesEmpfindsamkeit Schlusstableau der allseitigen Umarmung und Harmonie, ganz im Sinne des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel. Insofern bietet das Stück auch keinen doppelten Schluss. Wo die Repression der Söhne durch die Väter so offensichtlich ist, kann es keine Versöhnung geben. Die Wunscherfüllung in der gesellschaftlichen und familialen Wirklichkeit bleibt den Figuren wie auch ihrem Autor verwehrt.

      Heinrich von Kleist Der zerbrochne Krug (1811) im Deutschunterricht

      Heinrich von KleistsKleist, Heinrich von (1777–1811) Lustspiel Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug ist 1803 entstanden. Dem Motiv des zerbochenen Krugs liegt ein Kupferstich von Le Veau aus dem Jahr 1782 zugrunde, worauf die Gerichtsszene dargestellt ist. Kleist selbst weist in seiner „Vorrede“ zum Stück darauf hin, ein wahrscheinliches „historisches Faktum“ sei Grundlage der künstlerischen Darstellung.1 Im April 1805 ist die Niederschrift beendet. Kleists Freund Adam MüllerMüller, Adam schickt im August 1807 das Manuskript an GoetheGoethe, Johann Wolfgang. Auf dem Weimarer Hoftheater wird das Stück am 2. März 1808 uraufgeführt. Erst 1811 erscheint Der zerbrochne Krug als Buchausgabe. Von 1820 an gehört es zum Repertoire deutscher Bühnen. Soweit die historischen Daten – was aber lässt uns den Zerbrochnen Krug heute noch als Schulklassiker lesen?

      In einem Brief an Adam Müller vom 28. August 1807 hebt Goethe die außerordentlichen Verdienste des Stücks hervor und betont, dass die ganze Darstellung sich mit „gewaltsamer Gegenwart“2 aufdringe. Worin mag dies begründet sein? Ist dies ein nur historisches Urteil, das heutige Leser, Lehrer wie Schüler, nur mühsam zu überzeugen vermag, oder wohnt dem Stück eine literarische Kraft inne, die zeitlos ist? Für die Beharrlichkeit einer Lektüre – und das ist ja auch ein Kennzeichen von Klassikerlektüre – des Zerbrochnen Krugs in der Schule (wie übrigens auch in der Hochschule) sprechen mehrere Gründe:

      1.) Der Zerbrochne Krug dokumentiert anschaulich Formen des Sprachwandels. Der Text ist geeignet, die Sprachsensibilität der Schüler/Leser zu schärfen. Dies liegt zum einen an der Versform der fünfhebigen, jambischen Blankverse, die ein aufmerksames, konzentriertes Lesen und den intensiven Informationsaustausch und eine ebensolche Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern erfordern. Durch die Verwendung von zahlreichen sprachlichen Anachronismen, deren Gebrauch unüblich, deren Herkunft unklar und deren Bedeutung unbekannt ist, sind Lehrer und Schüler zu einem Dialog mit dem Text gezwungen, der weit über das bloß historische Verständnis hinausgeht. Wörter wie „Gevatter“ (V. 128), „Muhme“ (V. 261) und „ahnden“ (V. 265) müssen nicht nur von ihrer Herkunft und Bedeutung her erklärt, sondern ihre moderne, synonyme Verwendung muss im Zusammenhang der Belegstelle diskutiert werden. Dadurch werden Normen des Sprachgebrauchs sichtbar gemacht und können kritisch erörtert und auf die Gegenwart bezogen werden. Schon am Beispiel des Titels kann ein sensibler Umgang mit sprachlichen Nuancen geübt werden: Im Partizip „zerbrochne“ ist ein ‚e‘ elidiert; selbst moderne Textausgaben und Literaturgeschichten modernisieren im Übereifer hier gelegentlich. In KleistsKleist, Heinrich von Text kommen beide Varianten vor, zerbrochne und zerbrochene. Dem Schülereinwand, ‚so spricht doch kein Mensch‘, kann durch den wiederholten, aber dadurch um nichts weniger richtigen Hinweis begegnet werden, die Künstlichkeit des Sprechens ist die Kunst der Sprache. Darin liegt nicht die Komik des Stücks begründet, sondern diese Kunst der Sprache ist poetologisches Programm des Autors und Aufweis der ‚Klassizität‘ des Stücks. Damit wird ein Anspruch des Autors formuliert, der mit den Schülerinnen und Schülern kritisch überprüft werden kann.

      Die Komik des Textes ist auf mehreren Ebenen nachzuweisen. Auf der Sprachebene durch Missverstehen und durch sprachliche Doppeldeutigkeiten; auf der thematisch-analytischen Ebene dadurch, dass der Richter Adam selbst mehr und mehr zum Angeklagten und seine nächtliche Tat Schritt für Schritt aufgedeckt wird; auf der Figurenebene, indem Kleist in die Individualität der Figuren standardisierte komische Typeneigenschaften einzeichnet; und auf der Namensebene, indem die Namen der einzelnen Figuren bereits ihr im Stück offenbartes Verhalten karikieren. Am deutlichsten wohl beim Dorfrichter Adam, dessen Namen auf den biblischen Sündenfall anspielt und der als Figur diesen Sündenfall mit Eve – als Variante der biblischen Eva – wiederholt. Der Name des Gerichtsrats Walter spielt gewiss mit dem lutherischenLuther, Martin ‚das walte Gott‘ als ‚walt(e) er‘. Licht ist, entgegen seinem Namen, nicht derjenige, der Licht in die dunkle Angelegenheit von Adams Tat bringt. Die Lichtsymbolik, wonach Aufklärung als Licht dargestellt wird, hat sich erschöpft. Die Aufklärung der Tat ist keine Tat der Aufklärung. Doch findet sich dennoch ein letzter, fast schon parodistischer Nachhall auf die AufklärungAufklärung im Text. In guter aufgeklärter Tradition erweist sich der vermeintliche Teufel, den Frau Brigitte zu sehen glaubte, als die reale Gestalt des Dorfrichters Adam. Im Sinne der Vorurteilskritik der Aufklärung sind es die Beteiligten selbst, die nach und nach Einsicht und Erkenntnis gewinnen, indem sprachlich überprüft wird, was vermeintlich gesehen, gehört und gerochen (man denke an die Schwefeldämpfe) wurde. So gesehen dient der Klumpfuß des Dorfrichters weniger als intertextueller Verweis auf Sophokles’Sophokles ÖdipusÖdipus, der ja wörtlich der Schwellfuß bedeutet. KleistKleist, Heinrich von benötigt vielmehr den richterlichen Pferdefuß, um die Analogie zum Teufel in der elften Szene herstellen und die beharrliche Kraft der AufklärungAufklärung vor Augen führen zu können. In diesem Sinne ist der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug auch ein Stück gegen Vorurteile, mithin ein literarisches Dokument der Vorurteilskritik. Die Quintessenz lautet: Vernunft verhilft der Wahrheit zum Recht, was nicht unbedingt gleichbedeutend sein muss mit der Einsicht, dass Recht vernünftig gesprochen wird. In diesem Sinne ließe sich Kleists Komödie sogar als Rechtssatire lesen.

      2.) Auch unter literaturgeschichtlichem Aspekt vermag die Lektüre des Textes zu einer differenzierten historischen Wahrnehmung beizutragen. Kleists Komödie kann insgesamt als ein Beispiel des Epochenumbruchs um 1800 in der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte gelesen werden. Dieser Umbruch dokumentiert den Wandel von literarischen Standards und BewusstseinsformenBewusstseinsformen des späten 18. Jahrhunderts zum Sprach-, Stil- und Themeninventar der Weimarer KlassikWeimarer Klassik. Dies erlaubt eine Problematisierung des Verhältnisses der literaturgeschichtlichen Strömungen von SpätaufklärungSpätaufklärung, FrühromantikFrühromantik und Weimarer Klassik ebenso wie es die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins von Epochenstrukturen fördert und die Einsicht stärkt, dass historisches Denken konstruktives und nicht re-konstruktives Denken bedeutet. In diesem Zusammenhang kann auch am Beispiel des Autors Heinrich von Kleist historisches, biografisches und sozial-geschichtliches Arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern geübt werden. Dies ist freilich ein Argument, das diesem Text nicht allein zugutekommt, sondern von nahezu jedem Autor oder Text gilt.

      3.) Kleist definiert sein Drama im Untertitel als ein Lustspiel. Der Zerbrochne Krug ist der wohl bekannteste Beispieltext für eine deutsche KomödieKomödie. Damit lassen sich allgemeine Gattungsmerkmale ebenso diskutieren wie ein theaterdidaktisches Verständnis für die dramatische Struktur dieser Komödie geschaffen werden kann. Dies wirft die Frage nach dem Verständnis des Komischen auf und erlaubt, Aspekte der reinen (und formalen) Gattungslehre zu diskutieren. Ein Verständnis für die dramatische Struktur des Stücks zu schaffen, heißt, in die Fragen und Probleme der Dramenanalyse einzuführen. Dies betrifft einen grundsätzlichen methodischen Aspekt im Umgang mit einem Klassikertext. So unverzichtbar und wichtig die Kenntnisse über die Struktur des Dramas sind (poetologische Funktion, Ort-Zeit-Handlungs-Schema, FallhöheFallhöhe, StändeklauselStändeklausel, Verlachkomödie, Typenkomödie etc.), so wichtig ist die Frage nach der Aktualität eines Klassikers. Die Übertragung in das eigene Leben der Schülerinnen und Schüler, der Gewinn von Erkenntnissen, Themen, Motiven und Typen, die durch Erfahrungen des eigenen Lebens der Schüler bestätigt werden können, rechtfertigt erst die Rede von einem Schulklassiker.

      Schließlich


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