Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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so muss es jetzt heißen, dass es sich der Vergegenwärtigung dessen verweigert, was es ist, eine soziale Organisationsform, in der Gewaltverhältnisse die Lebensverhältnisse der Menschen bestimmen. Nicht einmal die späte Einsicht des Vaters Meister Anton, der als das Gravitationszentrum von Gewalt gelten kann, gesteht Hebbel seinem bürgerlichen Publikum zu, er verzichtet sogar auf die Exploration eines dramatischen Geschehens, das im kathartischen Erleben des Publikums seinen Abschluss fände. Der Verzicht auf die Potenz kathartischer Wirkung potenziert die Binnenperspektive. Der Verzicht auf die Befreiung vom Schmerz gesellschaftlicher Gewalt schafft erst das Bewusstsein vom eigenen Schmerz. Insofern liefert Hebbel einen sozialpsychologischen Tiefenschnitt gesellschaftlicher Verhältnisse, die vom Emanzipationsbegehren ihres Ursprungs nicht einmal mehr eine Erinnerung bewahren. Konkret heißt dies, LeidenschaftenLeidenschaften sind nicht mehr kathartisierbar, das Begehren ist nicht mehr diskursivierbar zum Zwecke der KatharsisKatharsis, die aufgeklärte Vernunft findet kein Ohr mehr, das sie hört, da kein Wort gesprochen wird, das vernommen werden könnte. Diese weniger restaurative, eher schon apokalyptische Vision entfaltet HebbelHebbel, Friedrich in seinem Stück. „Unser Gott Λόγος“23 ist ein Deus absconditus, die Abwesenheit des Vater-Wortes ist die Anwesenheit der Todesgewalt. Der unvernünftige, schreibunkundige Vater versteht die Welt nicht mehr (vgl. III/11)24, den alphabetisierten wissenden und verstehenden Kindern – Klara bewahrt bereits das Wissen um die Vielfalt der Möglichkeiten auf der Welt (vgl. II/4), wie sie das Kind ihrer Leidenschaft in ihrem Leib bewahrt – bleibt angesichts der realen Gewalt des Vaters nur die Flucht. Der Sohn ergeht sich in der Abenteuer und Ferne garantierenden Fluchtfantasie Seefahrt. Die Tochter hingegen segelt nicht auf dem Wasser, sie ertrinkt in ihm, nicht in der Ferne, sondern in der Nähe unter den Augen des Vaters. Und diesen lässt nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft schaudern, er, der als einziger ein Glas Wasser durchs Mikroskop betrachtet hat (vgl. II/1) und dann nicht mehr trinken konnte. Doch trinken musste der Vater wieder, wenn er anders nicht sterben wollte, aber das Wort, das Tochter und Enkelkind tötet, hätte er nicht sprechen müssen: „Da sprach er [Meister Anton] ein Wort aus, das sie zur Verzweiflung trieb“ (III/11). Der Sekretär, dessen Beruf die Worte sind, entschleiert den verborgenen Gott Logos: „Denk Er nur an das, was Er ihr gesagt hat! Er hat sie auf den Weg des Todes hinaus gewiesen […]“ (III/11).

      Ist LessingLessing, Gotthold Ephraims Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson gewissermaßen der Holotypus des Bürgerlichen Trauerspiels, wonach sich also die Beschreibung der Gattung richtet, so ist Hebbels Maria MagdalenaMaria Magdalena das letzte Exemplar. Der Tod Klaras symbolisiert das Ende des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel. Logos und Leidenschaft werden nicht mehr empfindsamEmpfindsamkeit ausbalanciert oder pathetisch verhandelt. Die KatharsisKatharsis dient nicht mehr als Fluchtpunkt der Macht über das BegehrenBegehren. Nur noch Gewalt kann das literarische Trauerspiel beenden. Wird Literatur bzw. Kunst dekathartisiert, lassen sich fiktionale und nicht-fiktionale Konfliktkonstellationen nur noch gewaltsam lösen.

      Die Katharsis ist keineswegs das, wozu die bürgerlichen Tragiker sie im Sinne eines Versöhnungsprogramms machen möchten, nämlich der Ort behüteter Affektmodellierung, wo sich gleichsam am Locus amoenus die LeidenschaftLeidenschaften das Gefieder putzt. Und gerade hier ist HebbelsHebbel, Friedrich Verzicht auf die Katharsis konsequent. In einer gesellschaftlichen Schicht, der es nicht mehr um Emanzipationsbegehren oder Trauerarbeit an verlorenen Utopien geht, sondern allein um die Stabilisierung von Herrschaftsanteilen, ist Katharsis de facto nicht mehr möglich. Vielleicht war die Katharsis in der Neuzeit schon immer ein Klassenphänomen, man denke nur an die Johann Gottlob Benjamin PfeilPfeil, Johann Gottlob Benjamin zugeschriebene Abhandlung Vom bürgerlichen TrauerspieleVom bürgerlichen Trauerspiele (1755) oder an den Briefwechsel über das TrauerspielBriefwechsel über das Trauerspiel zwischen LessingLessing, Gotthold Ephraim, MendelssohnMendelssohn, Moses und NicolaiNicolai, Friedrich, doch wird spätestens bei Hebbels Maria MagdalenaMaria Magdalena evident, dass es eine Versöhnung zwischen Logos und Leidenschaft, zwischen Macht und BegehrenBegehren in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht geben kann. So ist ich auch Peter SzondisSzondi, Peter Bemerkung zu verstehen, dass Hebbels Denken einen Wendepunkt in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts markiere, „indem es noch den metaphysischen Weg des Idealismus geht, aber ohne das Wissen um den Sinn, in dessen Besitz der Weg einst angetreten wurde.“25 Von hier aus ist es ein weiter Weg bis zu Hans Robert Jauß’Jauß, Hans Robert Bestimmung der Katharsis als eine kommunikative Leistung ästhetischer Erfahrung neben Aisthesis und Poiesis.26 Erst die radikale Vernunftkritik NietzschesNietzsche, Friedrich wird die Möglichkeit einer neuen Funktionsbestimmung der Katharsis eröffnen, mündend in den psychoanalytischen Diskurs BreuersBreuer, Josef und FreudsFreud, Sigmund.27

      Der Verzicht Hebbels auf die Katharsis verschleiert also gerade nicht die wahren Gewaltverhältnisse, sondern treibt sie erst deutlich hervor. Dialektisch kann dieser Verzicht gedeutet werden: Das Emanzipationsbegehren ist so saturiert und die Gewaltverhältnisse sind so stabilisiert, dass der Verzicht auf die KatharsisKatharsis bedrohlicher LeidenschaftenLeidenschaften nicht mehr als bedrohlich empfunden wird. Indem HebbelHebbel, Friedrich diesem Verzichtswunsch folgt und auf ein antik-mythologisches Tragödienschema regrediert, deckt er damit zugleich die wahren Gewaltverhältnisse auf. Die kleinbürgerliche Familie reproduziert die politischen Gewaltverhältnisse: Die Emanzipation des Individuums, noch dazu eines weiblichen, ist gegen das Diktat patriarchaler Unvernunft nicht möglich. Das Begehren der Frau findet seinen einzigen Ausweg in der Todessehnsucht. Im Tod bewahrt sich das weibliche Individuum jene Freiheit, mit deren Vollzug sie auch gleich schon erlischt. Spannt man diese Perspektive kulturgeschichtlichKulturgeschichte auf, dann steht „im Anfang“ der Vater-Logos (ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, „im Anfang war das Wort“, wie der Beginn des Johannes-Evangeliums heißt, vgl. Joh 1, 1) und am Ende steht der Tochtertod und nicht der stellvertretende Erlösertod des Gottessohnes, der über die Gottverlassenheit klagt (vgl. „Eli, Eli, lama asabtani“, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, vgl. Mt 27, 46), sondern die Selbsttötung der Schreinerstochter, die von keinem Gott verlassen wird, vielmehr selbst die Welt verlässt.

      Klara ist nicht exorzistisches und therapeutisches Objekt des Gotteslogos, es ist auch nicht die Rede von „etliche[n] Frauen, die er [JesusJesus] gesund gemacht hatte von bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, genannt Magdalena, von der sieben Dämonen ausgefahren waren“ (Lk 8, 2a). Von allen guten Geistern verlassen wird Hebbels Maria Magdalena krank gemacht, nicht von Ferne schaut sie dem Kreuzestod des Sohnes zu, wie die biblische Magdalena, „und es waren auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter ihnen Maria Magdalena“ (Mk 15, 40). Sie selbst ist diejenige, die getötet wird. „Gott im Himmel, ich würde mich erbarmen, wenn ich du wäre und du ich!“ (II/5), fleht Klara mit Tränen der Verzweiflung und nicht der Empfindung. Schon BüchnersBüchner, Georg Lenz hielt dem Gottesmann und Papa genannte Oberlin entgegen: „Aber ich, wär’ ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten […].“28 Bei Hebbel widerstreitet der Leidenschaft der Tochter der Vaterlogos, Versöhnung gibt es auf der Ebene des Begehrens nicht mehr. Der Leidenschaftsdiskurs ist nun einem Gewaltdiskurs eingeschrieben.

      Schon 1934 arbeitete Leo LöwenthalLöwenthal, Leo diese Form der RezeptionRezeptionsanalyse heraus. Sie diene dem „Studium derjenigen Faktoren […], die über die bloße Machtapparatur hinaus durch ihre psychische Gewalt eine gesellschaftlich konservierende und retardierende Funktion ausüben“29. Allgemein versteht Löwenthal Kunst und Religion als diejenigen gesellschaftlich produzierten affektiven Ausdrucksformen, „in denen sich mehr oder minder intensiv entrechtete Schichten mit der sozialen Wirklichkeit abzufinden suchen und andere den Triumph in ihr verklären“30.

      Klara ist Delinquentin des Vaterwortes, noch bevor sie um ihre Schwangerschaft weiß.

      „AristotelesAristoteles hat auf die dramatische Kunst vielleicht noch schlimmer eingewirkt durch seine Bestimmung, daß die Tragödie FurchtFurcht und MitleidMitleid erwecken solle, als durch seine Einheiten. Und doch ist jene richtig, wenn man nur eine Beschreibung des Gemütszustands, den die TragödieTragödie hervorbringen muß, falls sie echt ist, nicht für die Definition ihres Zwecks hält. Allerdings muß die Tragödie Furcht erregen, denn wenn sie es nicht tut, so ist dies ein Beweis, daß sie aus nichtigen Elementen aufgebaut ist, und wenn sich zu


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