Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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Katharsis von Leidenschaften ist abgelöst durch großräumige geschichtsphilosophische Entitäten. Daher kann ein kleinbürgerliches Trauerspiel auch nicht mehr eine Art von Katharsisangebot machen, sondern nur noch, wenn man die geschichtsphilosophische und historisierende Überformung aufbricht, die sozialen und familialen Verhältnisse so darstellen, wie sie sind. Keine Katharsis befreit von LeidenschaftenLeidenschaften, allein Gewalt liquidiert sie. Benötigte das bürgerliche Emanzipationsbegehren des 18. Jahrhunderts noch die Katharsis, um mit der eigenen Misere fertigzuwerden, so will der Kleinbürger des 19. Jahrhunderts, dem eine geschichtsphilosophisch-teleologische Umformung versagt bleibt, nicht mehr daran erinnert werden, und der Bürger verbindet sich die Augen mit dem einst empfindsamenEmpfindsamkeit Requisit (auch weinender Väter!), der Kleinbürger spielt die Tragödie zu Ende, eben gewaltsam.

      HebbelsHebbel, Friedrich Maria MagdalenaMaria Magdalena ist die adäquate Ausdrucksform eines Kleinbürgertums in dem Sinne, dass es „Gelegenheit“ gibt, „in die Mikrologien eines Daseins hineinzuschauen“,44 wie es in SchnockSchnock. Ein niederländisches Gemälde heißt. Dieses Kleinbürgertum hat sein Emanzipationsbegehren endgültig aufgegeben, es besitzt nun weder ökonomische Macht noch partizipiert an politischer Macht. Für das BegehrenBegehren nach Emanzipation der LeidenschaftenEmanzipation der Leidenschaften ist hier kein Raum mehr, man hat sich mit den bestehenden Gewaltverhältnissen arrangiert. Insofern ist HebbelsHebbel, Friedrich Drama Prototyp eines kleinbürgerlichen Trauerspiels,45 in dem die Gewalt die Katharsis ersetzt hat, weil das Bürgertum zur herrschenden Macht geworden ist und keiner KatharsisKatharsis mehr bedarf. Denn die Katharsis hält das Bewusstsein von einem Ungenügen wach, von jenen Leidenschaften, aus denen immer noch bedrohlich Rebellion blickt.

      Goethe Prometheus-Ode (1785)

      Die Aktualität des PrometheusPrometheus-Mythos ist ungebrochen. Ein Sammelband dokumentiert eindrucksvoll wichtige Stationen der europäischen Rezeptionsgeschichte des Mythos PrometheusMythos Prometheus1. Die Prometheus-Gestalt, die Gottfried BennBenn, Gottfried in einem Brief einen „seltsam durch Jahrhunderte eindrucksvoll gebliebene[n] Geist“2 nannte, gehört zum festen weltliterarischen Gepäck. Vor Jahren legte Peter HandkeHandke, Peter eine eigenwillige Übersetzung des aischyleischenAischylos PrometheusPrometheus vor.3 Und aus dem Nachlass von Franz Fühmann erschien 1996 der Band Prometheus. Die ZeugungPrometheus. Die Zeugung.4 Von daher lohnt es sich stets aufs Neue, Goethes Prometheus-Gedicht dem literarischen Gedächtnis gegenwärtig zu halten, auch wenn Jean PaulsPaul, Jean Aphorismus nicht unbegründet ist: „Göthe [hat] überall etwas Titanisches. Das Alter frißt freilich dem Prometheus die Leber weg, aber die Gallenblase darin wird stärker.“5

      Die Literatur zu GoethesGoethe, Johann Wolfgang Prometheus-Ode ist indes, um es vorsichtig zu sagen, reichhaltig.6 Zwar hatte auch Goethe zeitgenössische Vorlagentexte, die ihn anregten, von denen er sich inspirieren ließ und die ein intertextuelles Netz aufzuspannen durchaus in der Lage sind, neben AischylosAischylos’ Prometheus desmotesPrometheus desmotes sind hier WielandsWieland, Christoph Martin Traumgespräch mit PrometheusTraumgespräch mit Prometheus und RousseausRousseau, Jean-Jacques Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den MenschenAbhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen zu nennen. Und auch ist in der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte bekannt, dass der Prometheus-Mythos zum festen Inventar der Selbstexplikationen des Sturm und DrangSturm und Drang gehört und gelegentlich allzu deutlich kraftgenialische Ansprüche der Autoren unterstreicht. Am deutlichsten mag dies in einem Brief KlingersKlinger, Friedrich Maximilian zum Ausdruck kommen:

      „Ich leb wie ewig, und ieder von Prometheus wahren Söhnen im innern Krieg der Kräfte und Thätigkeit mit den Grenzen die die Menschen den halb Göttern gelegt haben, und das zu ihrer Behaglichkeit, weil sie sonst ewig ecrasirt würden! Bruder! der Menschen Sache sind zwey: Schaffen und Zerstöhren“7.

      Bei HeinseHeinse, Wilhelm und LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, bei BürgerBürger, Gottfried August und StolbergStolberg, Friedrich Leopold Graf zu, bei KlingerKlinger, Friedrich Maximilian – sein Dramolett Der verbannte GöttersohnDer verbannte Göttersohn8 (1777) verweist bereits im Titel auf den Prometheus-Mythos –, bei WagnerWagner, Heinrich Leopold9 und HerderHerder, Johann Gottfried und anderen taucht die PrometheusPrometheus-Figur auf. Die Achtung vor dem aufmüpfigen Göttersohn der Fabel weicht aber im Sturm und DrangSturm und Drang zunehmend einer vorbehaltlosen Bewunderung, ja Identifikation. Dieser Überblendungsprozess geht so weit, dass am Ende kaum mehr ein Unterschied auszumachen ist zwischen dem Identifikation stiftenden Vorbild des Mythos und dem Selbstwertgefühl der Autoren. Bei Jakob Michael Reinhold Lenz heißt es knapp in seinem Gedicht Lied zum teutschen TanzLied zum teutschen Tanz: „Frei wie der Wind / Götter wir sind“10. Diese Verwischung der Differenzen zwischen antikem Mythos, dessen neuzeitlicher Anverwandlung und der Eignung des Mythos als Projektionsfläche und Programmforum hat in der Goethe-Forschung immer wieder dazu geführt, in Goethes PrometheusPrometheus ausschließlich ein poetologisches Programmgedicht zu sehen.11 ShaftesburyShaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Earl ofs ‚second maker‘ steht hierbei Pate, Prometheus wird also als Künstler, als zweiter Gott dechiffriert. Die Bedeutung der Schöpferkraft in Goethes Gedicht soll nicht bestritten werden, spricht doch schon Herder in der Einleitung zur zweiten Sammlung seiner Schrift Über die neuere Deutsche LitteraturÜber die neuere deutsche Literatur (1767) vom Genie als einem „zweite[n] Prometheus“12, und in seiner ShakespearShakespear-Abhandlung (1772) nennt HerderHerder, Johann Gottfried das Sturm-und-Drang-Sturm und DrangGenie einen „glückliche[n] Göttersohn“13. Auch Wilhelm HeinseHeinse, Wilhelm schöpft den Bildbereich des Prometheus-Mythos als dichterischer Schöpfungskraft aus. Im ersten Kapitel seiner Dogmatik für junge GenieenDogmatik für junge Genieen, die zuerst 1775 im Deutschen Merkur erschien, legt er dar, wer beim Studium der antiken und der klassischen Texte, Skulpturen und Kompositionen „das allgegenwärtige Feuer der Gottheit“ in sich spüre und „in heftigen Wallungen alle Lebensgeister anschwellen“ fühle und wessen Blick sich dann der „Schöpfungsgeist“ zeige, der habe die Anlage zum Genie.14 Gar von der „Feuerkraft des Gefühls“15, die ein Genie auszeichne, ist wenig später die Rede. EmpfindsamEmpfindsamkeit vermittelt, doch in der Sache ähnlich, personifiziert Friedrich Leopold Graf zu Stolberg in seiner Programmschrift Über die Fülle des HerzensÜber die Fülle des Herzens (1777) Dichtkunst und poetische Schöpferkraft als PrometheusPrometheus-Gestalt. Dort heißt es, fast schon hymnisch-psalmodisch: Auf Adlersflügeln erhebe sich der Geist und entzünde seine Fackel am himmlischen Feuer, die göttliche Dichtkunst erhebe das Herz, fliege gen Himmel – die Nähe zu PlatonsPlaton PhaidrosPhaidros ist augenfällig – und nehme die Flammen vom Altar.16 Unverkennbar geht es auch um den Aufweis, dass Dichtung, und das meint die Dichter, mit mehr als nur menschlicher Autorität sprechen.

      Die Epitheta, mit denen der Mythos Prometheus stets angereichert wurde, reichen vom gefesselten Prometheus (AischylosAischylos) über den gekreuzigten Prometheus (LenzLenz, Jakob Michael Reinhold) und den ungefesselten Prometheus (ShelleyShelley, Percy Bysshe) bis hin zum schlechtgefesselten Prometheus (GideGide, André), dem Dulder Prometheus (SpittelerSpitteler, Carl) und dem Prometheus-Komplex (BachelardBachelard, Gaston), ohne sich darin zu erschöpfen. In seinem kleinen Aufsatz Psychopathische Personen auf der BühnePsychopathische Personen auf der Bühne17 (1905/06) schreibt Sigmund FreudFreud, Sigmund, dass ein Drama seelisches Leiden inszeniere, das aus der Entwicklung der dramatischen Handlung einsichtig gemacht werden müsse. Der Zuschauer wolle sein Ich in den Mittelpunkt stellen, Dichter und Schauspieler ermöglichten ihm dies über die Identifikation mit einem Helden. Im Drama werde das ausgespielt, was im wirklichen Leben des Zuschauers nicht gestattet sei, das Aufbegehren gegen den Zwang zur Bändigung der LeidenschaftenLeidenschaften. Freud nennt dies die „Prometheusstimmung des Menschen“18. Der Mensch ist demnach kein „gekreuzigter Prometheus“19 mehr, wie dies LenzLenz, Jakob Michael Reinhold über GoethesGoethe, Johann Wolfgang Werther-Figur gesagt hatte. Goethe verzichtet in seinem PrometheusPrometheus auf diese Attribuierungsmöglichkeit, denn sie ist in den Text selbst hineingenommen.

      Anders als die Dichtungen des Göttinger HainGöttinger Hain, die eher einer ästhetizistischen Richtung in der Lyrik des Sturm und DrangSturm und Drang zuzurechnen sind, welche im Formalen durchaus Erweiterungen


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