Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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genießt immer ein sicheres Vergnügen, wenn er den Sinn der Allusion getroffen zu haben glaubt“ (Br, S. 114).

      Es mag also erstaunen, vielleicht sogar befremden, dass Johann Heinrich Merck als Lyriker angesprochen wird. Ist er uns denn als Gedichteschreiber bekannt? Finden wir seine Verse etwa in Schulauswahlen oder in Anthologien?3 Merck, der Prosaist, Merck der Briefschreiber, MerckMerck, Johann Heinrich, der kulturelle Redakteur, der in den wenigsten Fällen geschäftlich erfolgreiche Unternehmer in der Res publica litteraria, der aufgeklärten Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, Merck, der Rezensent und Beiträger der wichtigsten Literaturzeitschriften des 18. Jahrhunderts, Merck, der Paläontologe und naturwissenschaftlich interessierte und gebildete Laie,4 schließlich Merck, der GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Freund oder Merck, der Kriegsrat – all diese Etikettierungen sind uns hinlänglich bekannt. Aber Merck, der Lyriker? Ein Autor, zu dessen Lebzeiten niemals ein Gedichtband erschienen ist?

      Es nimmt nicht wunder, wenn wir einen Blick in die einschlägige, gleichwohl spärliche Forschungsliteratur zu Johann Heinrich Merck werfen, dass seine Lyrik keineswegs Gegenstand großen wissenschaftlichen Interesses bislang gewesen ist. Franz MunckerMuncker, Franz sieht in seinem Merck-Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie (1885)5 in den Fabeln LessingsLessing, Gotthold Ephraim und in Mercks lyrischen Versuchen den Einfluss der Dichter des Halberstädter und Göttingischen Kreises, aber auch den Einfluss HerdersHerder, Johann Gottfried am Werk. Muncker bescheinigt diesen Gedichten gleichwohl tiefe und zarte Empfindung.6 1911 bietet Hermann Bräuning-Oktavio in einem Aufsatz neu entdeckte Gedichte von Merck.7 In Helmut Prangs Monografie Johann Heinrich Merck. Ein Leben für andere (1949)8 finden sich nur marginale Bemerkungen zum Thema. Anders verhält es sich in einer späteren Publikation Hermann Bräuning-Oktavios, er veröffentlicht 19619 in einem Aufsatz auszugsweise, dann 1962 in einer Buchpublikation erstmals vollständig alle Fabeln aus der Feder Mercks. Es handelt sich dabei um die Darmstädter Handschrift, die heute in der Hessischen Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt aufbewahrt wird.10 Zuvor waren von den 73 Fabeln, von denen insgesamt nur noch 71 erhalten sind, schon 17 durch Karl Wagner 1835 veröffentlicht worden, allerdings teilweise mit erheblichen Weglassungen durch den Herausgeber. Gerhard Sauder würdigt die Fabeln und Gedichte Mercks in seinem Jubiläumsaufsatz von 1991.11 Walter Pabst (1993)12 druckt in seinem Aufsatz MercksMerck, Johann Heinrich Gedicht Michel Angelo ab und schließt eine 21-zeilige Paraphrase an. Zum 210. Todestag und 260. Geburtstag Mercks legte Walter Schübler ein Buch vor mit dem Titel Johann Heinrich Merck 1741–1791. Biographie (Weimar 2001). Diese Arbeit ist eine durch Kommentare unterbrochene Auslese aus Mercks Briefen, seinen Schriften und zeitgenössischen Dokumenten, eben ein „kaleidoskopisches Porträt“13. Auch hier finden wir über Mercks Lyrik wenig.

      Man muss es also deutlich sagen, wenn es um die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik im 18. Jahrhundert geht, wird ein Name nie genannt, Johann Heinrich Merck. Über ihn als einen Lyriker zu sprechen bedeutet daher, sich einer poetischen Produktivkraft zu erinnern, die es erst freizulegen gilt. Wenn wir uns über Mercks Lyrik verständigen, müssen wir zwischen drei kleinsten Werkgruppen unterscheiden. Da sind zunächst die Fabeln zu nennen, dann die empfindsamenEmpfindsamkeit oder die lyrischen Gedichte (einschließlich der sogenannten Kasuallyrik) und schließlich die Satiren.14 Nach Arthur Henkel sind die Fabeln „wohl vor 1770“ (W, S. 633) entstanden. Hermann Bräuning-Oktavio datiert sogar genauer zwischen 1760 und 1770,15 doch gibt es für eine verlässliche Datierung keine Anhaltspunkte. Einige der Fabeln wurden im Göttinger Musenalmanach 1770, andere erst später von dem Merck-Forscher und Merck-Editor Karl Wagner 1835 oder sogar erst 1962 durch Bräuning-Oktavio zum Druck befördert. Die lyrischen Gedichte sind überwiegend in der Zeit Anfang der 1770er-Jahre geschrieben worden, Bräuning-Oktavio datiert die meisten dieser insgesamt 27 Gedichte hingegen auf das Jahr 1771.16 Doch ist das nicht mehr als ein Mittelwert, da er an anderer Stelle die Jahre 1770 bis 1772 als Entstehungszeitraum angibt.17 Die meisten davon wurden in zeitgenössischen Zeitschriften auch gedruckt. Spät, im November 1778, wird MerckMerck, Johann Heinrich WielandWieland, Christoph Martin für dessen Teutschen Merkur ein Gedicht schicken, das vorgeblich von einem Fräulein geschrieben sein soll. Im Merkur wurde es nicht gedruckt, und ob Mercks Angabe richtig war, lässt sich nicht mehr feststellen. Schwer jedenfalls ist es sich vorzustellen, dass Merck sieben Jahre nach dem Ende seiner empfindsamenEmpfindsamkeit Phase nochmals ein Gedicht aus jener Zeit hervorholt und es Wieland zum Druck anbietet. Die Schottischen LiederSchottische Lieder, die zu den lyrischen Gedichten gerechnet werden, sind Übersetzungen Mercks aus dem Englischen und wurden 1776 veröffentlicht. Zu den Verssatiren gehören schließlich insgesamt drei Texte in Reimform: die Rhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt, dem JüngerenRhapsodie von Johann Heinrich Reimhardt, dem Jüngeren (1773), eine „burleske Prosodie in Knittelversen“,18 Pätus und Arria. Eine Künstler-RomanzePätus und Arria (1775) und die Matinée eines RecensentenMatinée eines Recensenten, die zwar schon 1776 an WielandWieland, Christoph Martin geschickt, aber erst 1838 durch Wagner veröffentlicht wurde. Aus der Zeit nach 1776 liegen kein Gedicht, kein einzelner Vers, keine Satire und keine Fabel von Mercks Hand vor. Das wirft natürlich die Frage auf, weshalb Merck, der von der Forschung treffend als „Autor der Diskontinuität“19 beschrieben wurde, nahezu plötzlich seine lyrische Produktion abbricht. Ein kleiner historischer Exkurs erlaubt eine Annäherung an die Antwort auf diese Frage. Dass Literatur gefährlich, genauer, dass ein Bürgerliches TrauerspielBürgerliches Trauerspiel und mithin der Umgang mit Literatur bisweilen tödlich enden kann, zeigt das Ende des 78-jährigen hessischen Landgrafen Ludwig VIII., der während einer Theateraufführung tot zusammenbrach. Am 17. Oktober 1768 gab die Leppertsche Gesellschaft von George LilloLillo, George den Kaufmann von LondonDer Kaufmann von London auf dem Darmstädter Hoftheater. Von Charlotte BuffBuff, Charlotte erfahren wir Genaueres:

      „Es rührte ihn [den Landgrafen] sehr, wie natürlich und ihm gewöhnlich; er fand es schön, erwähnte gegen den Prinzen George die darin steckende Moralen und bemerkte die guten Stellen; er klatschte in die Hände, und plötzlich sank er tot, unter einem Bravo! in die Arme des Prinzen George. […] Die jetzige Frau Landgräfin […] hat das Comödien-Haus zunageln lassen, wie es heisst, und will nie wieder Comödien in Darmstadt spielen lassen“20.

      Vielleicht liegt die historische Lehre dieses Vorfalls darin, dass es ein Adliger war, der ein Bürgerliches TrauerspielBürgerliches Trauerspiel gesehen hat und dabei einen Schlaganfall erlitt. Die Fabeltheoretiker nennen dies Fabula docet, also das Epimythion, die Moral der Geschicht, und dem späten MerckMerck, Johann Heinrich, dem Sympathisanten der Französischen RevolutionFranzösische Revolution, hätte dieser Vorfall, hätte er sich 1790 ereignet, sicherlich einige beißende Bemerkungen entlockt. Denn wie kritisch Merck Despotismus, Günstlingswirtschaft und Hofschranzentum gegenüber eingestellt war, belegen über die Jahre hinweg die Fabeln, zahlreiche einschlägige Briefstellen und Bemerkungen in seinen Prosaschriften.

      Betrachten wir uns nun etwas genauer das Fabel-Werk und bleiben wir gleich bei diesem ersten Aspekt, der politischen Dimension von Mercks Fabel-Dichtung. Nicht die Form dieser Fabeln, sondern der Inhalt, also Mercks Gedanken „zu ethischen und sozialen Fragen“21 seien das eigentlich Interessante an diesen Gedichten, meinte Bräuning-Oktavio. Andere hingegen sahen in den Fabeln mehr oder weniger unbedeutende Jugendarbeiten. „Mehr als Gebrauchs- und Unterhaltungslektüre für den Geschmack des Tages“ (W, S. 33) seien sie schon damals nicht gewesen, sie erhöben sich nirgends über die zeitgenössische Bildungs- und handwerkliche Kunstfertigkeit, meinte Peter Berglar in seiner Einleitung zur Werkausgabe von 1968.

      Merck bietet Höpfner am 16. November 1769 einige seiner Fabeln zum Druck an, fünf werden im Göttinger Musen-Almanach 1770 veröffentlicht.

      „Ob Sie meine Fabeln in den Almanach sollen druken lassen? – Sie können sich doch vorstellen daß ein Bettler wegen seines schlechten Rocks nicht darf besorgt seyn, wenn man ihn dem Volck unter einer Versammlung reichgekleideter Männer zeigt – Es wird sich niemand über ihn aufhalten, weil niemand auf ihn Achtung giebt, und so kommt er doch mit Ehre zum Thor hinaus. Machen Sie mit was Sie wollen, schneiden Sie ab, setzen Sie zu, nehmen Sie was Sie wollen, aber setzen Sie nur meinen Namen unter nichts“ (Br, S. 33).

      Merck bedient sich vorwiegend der Tradition der Tierfabeln, so finden sich in dieser Werkgruppe Titel wie


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