Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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ausgesprochen, so unterminiert Merck genau dies, er setzt sich einfach über das Vorbild Lessing hinweg. Salopp gesagt: Merck macht 1770 etwas, das Lessing 1759 tabuisiert hatte. Lessing hatte in seinem Buch Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten InhaltsFabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts (1759) folgende Definition einer – selbstredend guten – Fabel gegeben: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel“25. In der Verbindung von Moral und Poesie sah Lessing, der auch als der „intellektualistische Fabeldichter“26 des 18. Jahrhunderts bezeichnet wurde, die besondere Herausforderung dieser Gattung. Eine eigene Untersuchung wäre es wert, die Nähe zwischen den Fabeln von Gottlieb Konrad Pfeffel (vgl. etwa dessen Poetische VersuchePoetische Versuche von 1761) und denjenigen Mercks zu diskutieren.

      In der zweiten Werkgruppe der lyrischen oder empfindsamenEmpfindsamkeit Gedichte27 begegnen wir Titeln wie An Herrn LeibMed. L., Bey einer Schlittenfahrt, An den Mond, Bey Wiederkunft des Mond im Monat May, An den Mond. 2, Den 1ten Aug., Lila an ihr Lämmchen, Lila über ihren Stab, Bey einer OhnMacht oder Bey den Klagen Lila’s über die Langsam ankommenden Briefe. Diese Gedichte sind überwiegend situationsgebunden, Gelegenheitsgedichte eben, Gebrauchsgedichte, Widmungsgedichte, Huldigungs- und Auftragsgedichte und im Rollenspiel versteckte Liebesgedichte. Verglichen mit den Liebesgedichten von Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, denen MerckMerck, Johann Heinrich immerhin wahre LeidenschaftLeidenschaften bescheinigt (vgl. Br, S. 145), ist dies ein Ton, den er selbst nie getroffen hat, möglicherweise auch nicht treffen wollte.

      Das erste Gedicht der Sammlung kann gleichsam als Introitus gelesen werden, der rückblickend Bilanz zieht.

       Elegie

      „Wohin? – was seh ich weit und breit?

      Verflogne Jugendträume –

      Mein liebster Wunsch war Eitelkeit

      und ew’ger Gram im Keime!

      O Gott! sein volles Hertz so sehn

      in bittrer ThränenFluth zergehn!

      Komm, Gruftkleid! mich mit Freuden

      in Brautgewand zu kleiden.“ (W, S. 111)

      Diese ElegieElegie könnte durchaus nachträglich als Eingangsgedicht von Merck in seiner handschriftlichen Gedichtsammlung platziert worden sein, gleichsam als Rückblick auf die vor ihm ausgebreitete poetische Produktion, eben seine verflogenen Jugendträume. Die Datierung von Bräuning-Oktavio auf Herbst 1774 wäre demnach wenig überzeugend. Auch Henkel zweifelte diese Jahreszahl schon an, schließt aber nicht aus, dass das Gedicht gar nicht von Merck, sondern von HerderHerder, Johann Gottfried sei (vgl. dazu W, S. 637).

      Man könnte etwas despektierlich den jungen Merck – oder, wie er von Herder genannt wurde, den „Herrn Kriegs- und LustVersezahlmeistern Merk“28 – jener Jahre auch den Lila-Launebär der Darmstädter EmpfindsamenEmpfindsamkeit nennen, der schon zeitgenössisch die Grenze zum Kitsch überschritt.29 Er lebe wie ein Schwärmer unter den Rosen der Freundschaft, lässt er Höpfner wissen (vgl. Br, S. 65), gesäumt von zwei Freundinnen, deren körperliche Gestalt und deren Esprit er lobend erwähnt. Gemeint waren damit Luise von ZieglerZiegler, Luise von, die Lila der Gedichte und des empfindsamen Zirkels, und Caroline Flachsland, genannt Psyche, Herders spätere Frau. Im Grunde ist diese empfindsameEmpfindsamkeit Phase aber schon in dem Moment vorbei, wo HerderHerder, Johann Gottfried an Caroline Flachsland unter dem Datum des 20. April 1771 schreibt: „Der Mensch ist zu Etwas beßerm in der Welt da, als eine Empfindungspuppe, oder ein Empfindungströdler zu seyn“30. Ende 1771 kündigt Merck Höpfner an, dass er ihm bald den ersten Band seiner Gelegenheitsgedichte schicken werde. Darunter befänden sich „nicht weniger als Vier MondOden“ (Br, S. 59). Allerdings sind nur drei Mond-Oden überliefert. Zum Druck dieser Gelegenheitsgedichte kam es nie. Die Handschrift hat sich aber erhalten und befindet sich heute noch in Familienbesitz.

      In Mercks empfindsamen Gedichten findet sich – neben dem eher zeit- und genrebedingten tändelnden Ton einiger Verse – aber auch ein politischer, gesellschaftskritischer Akzent. Beispielsweise wenn es am Ende des Gedichts Als Lila zwey junge Bäume in ihren Gärten fällen saheAls Lila zwey junge Bäume in ihren Gärten fällen sahe heißt:

      „Aber die Welt des Hofes glaubt

      Weil rothes Bluth nicht floß – kein Stöhnen

      Kein Zuken folgt – sie wähnen

      Daß sie nichts übels thun“ (W, S. 138).

      Das Gedicht Im Merz. An A. + W.Im Merz ist nur vordergründig ein Naturgedicht, wie der Titel vielleicht suggerieren könnte:

      „Des Sehers Blik, der in dem MeeresSchoos

      der Zukunft, sich der Ahndung Zauberschloß

      Erschaft, und in dem öden Labyrinth

      dich ferne schon in EngelsKlarheit findt!

      Sieh wie er dämmert! Von der Wahrheit

      Fernen Sonnenfahrt! Und von der Menschheit

      Tasten wir ermüdet! Hingebeugt

      Zur Brust ersinkt sein Haupt! Und ihm entsteigt

      der Hofnung Lächeln, ihre Zähne nie!

      Nur sie, der Wehmuth bittre Thräne, sie

      die trübe Mahlerin der Schöpfung nur

      Füllt ihm sein Aug, und mahlt ihm die Natur

      Im Nebel! deine Mutter! die so schön

      In allen ihren Kindern ist! Verwehn

      will seinem Ohr ihr Schluchzen schon

      der Sympathie und Liebe Lauten Ton.

      Sein Arm in Wüsten taumeln, tastet kalt

      Statt KörperSchöne, flache WandGestalt!

      Gewebe des verkehrten Teppichs! Sie

      die HimmelsSchön’ auf Erden wandelnd, wie

      sie Plato dachte, Alcamenes Hand

      Erschuff, wie sie in Coischem Gewand

      sich deinem Gang, und deinem Aug enthüllt

      die sah er niemals im verklärten Bild!

      Drum blik’ ihm in sein adelgläubig Hertz

      den süßten HofnungsStrahl; den bittren Schmertz

      der Menschheit, der sein inneres verzehrt

      den halt an seinem Ort, wies WürgeSchwerd!

      Die Balsamthräne, die dir gern entfliest

      Heil eh’ er friedsam seine Straße zieht

      Des Pilgers Wunden, die ihm Wahn und Trug

      der grosen Sklav’ u. NarrenErde schlug!

      Sey ihm ein Quell des Lebens in dem Sand

      der Wüste, wo das Schiksal dich verbannt!

      dein Bild geh’ ihm nicht wie ein Wetterstrahl

      Vorüber, es begleit ihn in dem Thal

      des Lebens, wenn er WolkenHöhen klimmt,

      da wo er des Abgrunds Steinweg nimmt

      Da auch wo gebeugt er stille steht

      Schein es ihm in TugendMajestät

      Reich ihm hohes Lächeln, BeyfallDank

      Und Liebe deines Augs zum Labetrank.

      Und geht er jenseits hin, woher er kam

      So seys dein Bild, das ihn der Erd’ entnahm

      den


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