Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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376) erschließt. KulturKultur ist bei Merck die Identität der Lektüre des Buchs der Kunst und des Buchs der Natur.

      Die Unerfahrenheit der jüngeren zeitgenössischen Autoren wird von Merck 1778 aufs Korn genommen. Er verknüpft damit das Bekenntnis, dass er sich selbst längst nicht mehr zu den Poeten rechnet. „Die Herren Poeten sollen sich zu uns Jägern verhalten, wie die Stubenhunde zu den Hühnerhunden. Sie mögen das gerne genießen, was die andern gefangen haben“ (W, S. 395). Er spottet sogar im gleichen Jahr gegenüber WielandWieland, Christoph Martin über den ganzen Imaginationskram der Schriftstellerei (vgl. Br, S. 167). „Die Dichterey verhält sich ohngefähr wie der Wein. Die meiste Nachfrage darnach ist immer da, wo er nicht mehr wächst“ (W, S. 402), fährt er an anderer Stelle fort. Ob Merck dabei auch an sich selbst gedacht hat, bleibt spekulativ. Ab dem Jahr 1781 wird der Ton noch kritischer. Er habe kürzlich die Beobachtung gemacht, schreibt Merck, dass die meisten Poeten traurig, träge und missvergnügt, dumpf, abgespannt, kraftlos und niedergeschlagen seien, während Gelehrte munter, behände und stets gegenwärtig wären (vgl. W, S. 440). In einem melancholischen Ton fährt er fort: „So sehe ich aber es geht mit der Poesie wie mit der Liebe. Es ist ein Zustand der nicht dauern kann, und dessen traurige Folgen auf das ganze Leben des Menschen ernsthafter sind, als man oft im Anfange überlegt […]“ (W, S. 440f.). Er unterscheidet zwischen Poesie treiben (gleichsam als einer Lebensform) und Poesie schreiben (vgl. W, S. 442). Es überrascht kaum, dass Merck dem Lebens- und Handlungsmoment hier den Vorrang einräumt. Natürlich gebe es auch von Zeit zu Zeit einen guten Schriftsteller, konzediert er spöttisch, er nennt die Zahl von eins zu 5000 (vgl. W, S. 491). Insgesamt hält er die zeitgenössischen Schriftsteller jedoch für recht große Barbaren (vgl. W, S. 494). Die Schweizer hingegen seien die wahrhaft Aufgeklärten. „Trotz und Kühnheit gegen Vorurtheil, Haß gegen alle Sklaverey in Worten und Werken“ (W, S. 208) findet er bei ihnen. Diese und ähnliche Äußerungen haben ihm den Vorwurf Heinrich Christian BoiesBoie, Heinrich Christian eingetragen, er neige sich „zu sehr nach den Ausländern hin“39. Und auch über die Leserinnen und Leser seiner Zeit urteilt MerckMerck, Johann Heinrich enttäuscht: „Das Publikum […] hier […] ist wie es allenthalben ist, ungerecht“ (Br, S. 45). In einem Brief vom 10. September 1771 an Sophie von La RocheLa Roche, Sophie von hatte der Briefeschreiber und der Kritiker, der Prosaist und der Essayist, der Lyriker und der Naturwissenschaftler in einer Mischung aus Enttäuschung und Selbstüberschätzung schon geschrieben: „Wenn Sie wüßten, wie oft ich in meinem Leben bin verkannt worden“ (Br, S. 53).

      Schubart Die Fürstengruft (1781)

      Reiner Wilds Buch Literatur im Prozeß der Zivilisation. Entwurf einer theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft (1982) versucht, die Zivilisationstheorie von Norbert EliasElias, Norbert für eine zeitgemäße literaturtheoretische Diskussion fruchtbar zu machen. Wilds Ansatz, insbesondere sein auf Raymond WilliamsWilliams, Raymond zurückgreifendes Modell residualer, dominanter und progredierender Verhaltensstandards im Prozess der Zivilisation, hat in der Aufklärungsforschung eine Zeitlang eine differenzierte diskurshistorische Diskussion erlaubt, wonach residuale, dominante und progredierende Diskursformen unterschieden wurden und als Schnittstelle von Macht – als der soziohistorischen Denkfigur bürgerlicher Emanzipation des 18. Jahrhunderts – und BegehrenBegehren – als der psychohistorischen Denkfigur der zivilisatorisch indizierten Disziplinierungserfordernis – verstanden werden konnten.

      Das Werk des Schwaben Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel (1739–1791) ist überschaubar, eine Gesamtausgabe auf editionsphilologisch verlässlicher und vollständiger Grundlage fehlt bis heute. Seit einiger Zeit liegt der erhaltene Briefwechsel in einer mustergültigen Edition vor.1 Als Journalist ist Schubart vor allem in seiner Rolle des Herausgebers, Redakteurs und maßgeblichen Beiträgers der Deutschen ChronikDeutsche Chronik bekannt, die in den Jahren 1774 bis 1777 zweimal in der Woche erschien. Die Deutsche Chronik trug maßgeblich zur Publizistik des Sturm und DrangSturm und Drang bei. Die meisten Beiträge schrieb Schubart selbst, sein erklärtes Ziel war es, eine nationale Zeitschrift zu schaffen. Mit einer Auflage von zunächst 1600 Stück im Jahr 1775 wurde die Deutsche Chronik ein durchschlagender Publikumserfolg. Die Zahl seiner Leser in ganz Europa wird auf 20000 geschätzt.2 Einen Großteil seiner eigenen Gedichte veröffentlichte er hier. Viele der Gedichte, Erzählungen, Kompositionen, historischen Schriften und musikästhetischen Arbeiten, journalistischen Texten, Satiren und Sottisen sind allerdings längst vergessen, viele Drucke gehören heute zu den Rara und Rarissima öffentlicher Bibliotheken. Einem größeren bildungsbürgerlichen und literaturgeschichtlich interessierten Publikum ist Schubart vor allem als Verfasser des Gedichts Die ForelleDie Forelle (1783) bekannt geworden. Allerdings löschte die Vertonung durch Franz SchubertSchubert, Franz Schubarts eigene Vertonung geradezu aus der Erinnerung aus. SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel hat darüber hinaus einige weitere seiner Gedichte selbst vertont, eine Übersicht über seine Kompositionen bietet die Monografie von Kurt Honolka.3

      Schubart war weder ein Volksdichter noch ein Rebell, auch wenn dieser Habitus zur eigenen Inszenierung passte und bis heute in der Germanistik gerne als Ursprungsmythos eines politischen Sturm und Drang in Deutschland in Anspruch genommen wird. Ob insgesamt sein politisch kritisches Werk für eine wie auch immer geartete politische Tendenz des Sturm und Drang überhaupt zu Recht herhalten kann, bleibt umstritten.4 Demgegenüber steht ein nicht unbeträchtlicher Teil seines lyrischen Werks, das sich in Huldigungs- und Widmungs- und Gelegenheitsgedichten, in Idyllen und in dynastischer Lobhudelei ergeht. Das Schicksal, ins Repertoire bürgerlicher KulturKultur aufgenommen worden zu sein, teilt Schubart mit SchillerSchiller, Friedrich.

      Im Jahr 1781 lernt Friedrich Schiller neben Andreas StreicherStreicher, Andreas (1761–1833), der ihn nach Mannheim und Frankfurt auf der Flucht aus Stuttgart begleitete, eben auch Christian Friedrich Daniel Schubart kennen. Wie Schubart ist auch der junge Schiller als Publizist aktiv, so gründet er im März 1782 zusammen mit Jakob Friedrich Abel (1751–1829), Johann Jakob AtzelAtzel, Johann Jakob (1754–1816) und Johann Wilhelm PetersenPetersen, Johann Wilhelm (1758–1815) seine erste Zeitschrift Wirtembergisches Repertorium der LitteraturWirtembergisches Repertorium der Litteratur. Sie erscheint allerdings nur in drei Stücken ein knappes Jahr lang bis Frühjahr 1783. Die meisten Beiträge stammen von den Herausgebern selbst. Und wie Schubart macht auch Schiller früh seine prägenden Erfahrungen mit dem duodezfürstlichen Absolutismus. Die erste literarische Reaktion darauf findet sich in den RäubernDie Räuber, die bis Ende 1780 fertig waren. SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel Erzählung Zur Geschichte des menschlichen HerzensZur Geschichte des menschlichen Herzens, auf die sich SchillerSchiller, Friedrich bei der Entwicklung seiner Räuber-Fabel maßgeblich stützt, erschien im Januar 1775 im Schwäbischen Magazin von gelehrten Sachen auf das Jahr 1775.5 Schiller hat sie gekannt und für seine Räuber ausgewertet. Einige Übereinstimmungen sind bemerkenswert. In Schubarts Erzählung heißen die beiden Brüder Wilhelm und Carl. Während Wilhelm den scheinbar moralischen, in Wahrheit aber schlechten Charakter verkörpert, entwickelt sich Carl vom Lebemann zum wiederkehrenden verlorenen Sohn. In der Geschichte des menschlichen Herzens wird Wilhelm als fromm, geradezu bigott, zelotisch, misanthropisch, ordnungsliebend und wirtschaftlich denkend beschrieben. Carl hingegen ist der Antipode seines Bruders, beide sind aristokratischer Abstammung. Wein, Sex, Schulden, schließlich ein Duell und seine Flucht zum Militär lassen ihn eine adlige oder bürgerliche Karriere verfehlen. Er landet als Knecht bei einem Bauern in der Nähe seines Vaterhauses. Seine Briefe an den Vater, worin er um Vergebung bittet, werden vom Bruder unterschlagen. Als dieser einen Mordanschlag auf den Vater einfädelt, kann Carl das Leben des Vaters retten und wird schließlich als verlorener Sohn wieder aufgenommen. Wilhelm hingegen gründet eine Sekte der Zeloten. Bemerkenswert ist die Schlussformulierung Schubarts: „Wann wird einmal der Philosoph auftretten, der sich in die Tiefen des menschlichen Herzens hinabläßt, jeder Handlung bis zur Empfängniß nachspührt, jeden Winkelzug bemerkt, und alsdann eine Geschichte des menschlichen Herzens schreibt, worinn er das trügerische Inkarnat vom Antlize des Heuchlers hinweg wischt, und gegen ihn die Rechte des offenen Herzens behauptet.“6 Kein Philosoph wird es sein, sondern ein junger Dichter, der diesem Anspruch genügt. Man ist geneigt, Schillers Bemerkungen in seiner Unterdrückten VorredeUnterdrückte Vorrede zu den Räubern als direkte Antwort


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