Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


Скачать книгу
Schlussstrophe in GoethesGoethe, Johann Wolfgang Gedicht bringt aber den eigentlichen Unterschied zur Tragödie. Das Gedicht endet nicht tragisch, sondern programmatisch. Prometheus ist kein Suchender, anders als FaustFaust, Johannes (Georg) sucht er nicht nach Erkenntnis. Prometheus ist entschlossen, er hat eine Entscheidung bereits getroffen und befindet sich dabei zu handeln. Prometheus handelt, denn er formt Menschen nach seinem Bild. Auch dies ist eine beziehungsreiche Anspielung auf den biblischen Schöpfungsmythos. Das gesamte Gedicht ist so gesehen die Darstellung eines perlokutiven Akts. Es endet mit dem Anspruch von Prometheus, selbst Menschen zu bilden, welche die Autorität des Vaters nicht zu achten brauchen. Darin kann man ein poetologisches Selbstbekenntnis des Autors lesen. Die literarische und ästhetische Selbstständigkeit, die der Sturm und Drang beanspruchte, erfährt hier nochmals bekenntnishaften Ausdruck. Auch führt Goethe die Themen des Selbsthelfertums („Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“, V. 31f.) sowie der Rebellion gegen die Vaterautorität an, sei sie als ästhetisch-dramatische Norm gedacht, sei sie als religiöse, gesellschaftliche oder als familiale Vaterinstanz erfahren („Ich dich ehren? Wofür?“, V. 36).

      Neben dem Verständnis von Prometheus als Sinnbild poetischer Schöpferkraft kann die Berufung auf den Prometheus-Mythos auch den grundsätzlichen Anspruch einer Demokratisierung des Wissens meinen. Dem entspricht im Selbstverständnis des Sturm und Drang die Absicht, Volkslieder zu sammeln. Literatur ist in diesem Sinne allgemein und das heißt für alle da, unabhängig vom Bildungsgrad und unabhängig von Geburts- und Ständeprivilegien. PrometheusPrometheus stiehlt das Feuer und das Wissen ums Feuermachen vom Himmel, er stellt es allen Menschen zur Verfügung. Poesie ist somit nicht länger das „Privaterbteil“31 weniger privilegierter Menschen, wie GoetheGoethe, Johann Wolfgang im zehnten Buch von Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit schreibt. Dieses Verständnis des rebellierenden Göttersohns als Personifikation bürgerlicher Freiheitsrechte wird besonders deutlich bei Gottfried August BürgerBürger, Gottfried August formuliert. In seinem PrometheusPrometheus betitelten Gedicht von 1785 heißt es: „Ist’s weise, daß man dich verdamme, / Gebenedeite Gottesflamme, / Allfreie Denk- und Druckerei?“32 In der Prosaversion wurde Bürger noch deutlicher, mit Blick auf den Flammenraub schrieb er: „Dabei könntest du, Flamme Gottes, Denk- und Preßfreiheit, einem einfallen!“33 Auch Klinger hatte schon in seinem OrpheusOrpheus-Roman (1778/80) gefragt: „Wer kann die Flamme erweken, die Prometheus Fakel in uns anzündete?“34, dabei freilich nicht an die Rede- und Schreibfreiheit gedacht. Vielmehr bleibt im Orpheus offen, ob die Fackel die göttliche Inspiration symbolisiert, prometheusgleich ein Werk zu schaffen, oder ob diese Fackel – was von der Konzeption und vom Inhalt des Romans her gesehen ebenso möglich, möglicherweise wahrscheinlicher ist – im heinseschenHeinse, Wilhelm Sinne als Liebessymbol zu verstehen ist. KlingerKlinger, Friedrich Maximilian würde damit an eine Variante des Prometheus-Mythos angeknüpft haben, die er bereits in seinem Sturm-und-Drang-Sturm und DrangDrama OttoOtto (1775) beiläufig erprobt hatte. Dort sagt der von Eifersucht getriebene Graf Normann: „Und ich fürchte keinen Jupiter, keinen Adler – ich wills ausführen“35. Der Mythos des antiken Selbstretters wird hier mit heftigem Begehren konnotiert. Heinse hatte diesen anderen Deutungshorizont der Prometheus-Gestalt, der auch bei der Betrachtung von Goethes PrometheusPrometheus nicht übersehen werden sollte, in seinem frühen Gedicht Die KirschenDie Kirschen (1773) eröffnet und damit den Mythos als Ausdrucksform eines Begehrensdiskurses nutzbar gemacht. Dort heißt es über die Liebesgeschichte zwischen Lisette und Peter:

      „Und was mit allem dem, käm Amor nicht hieher?

      Der weiß allein den Geistern aufzutischen:

      Ein Mädchen ist nur Leim, Prometheus ist er,

      Den Schlummer muß er ihm erst aus den Augen wischen.“36

      GoethesGoethe, Johann Wolfgang PrometheusPrometheus schafft sich seine Menschen selbst, geschlechterdifferentGeschlechterdifferenz betrachtet heißt dies, nach seinem (Frauen-)Bild erschafft er sich die Frauen. Und zugleich droht ihm aus diesem Akt sein eigener Untergang. Denn sind die prometheischen Menschen so wie ihr Schöpfer selbst („wie ich“, V. 56), so muss Prometheus mit derselben Ablehnung rechnen, die er seinem Göttervater entgegenbringt. Man kann also insgesamt durchaus von einem Doppelgebrauch der Metapher Prometheus sprechen, die Schöpferkraft und Manneskraft, Genialität und SexualitätSexualität umfasst und damit einen zentralen Themenkomplex der Sturm-und-Drang-Sturm und DrangLiteratur formuliert. In dieser Literatur gibt es kaum einen respektloseren und damit provokanteren Text als Goethes PrometheusPrometheus-Ode, der die Themen der individuellen Selbstbestimmung, des Selbsthelfertums, der Rebellion gegen die väterliche Ordnung und die poetologische Selbstrechtfertigung auf solch unterschiedlichen Sinn- und Verweisungsebenen formuliert. Gekonnt und kritisch spielt der Text mit den Traditionen der biblischen und der antiken mythologischen Sinnverständigung. Der Beschreibung des psychohistorischen Konflikts eignet nicht nur eine individuell-familiäre Seite, die Auflehnung gegen den Vater, sondern auch eine sozialhistorische, die Auflehnung gegen Vaterautoritäten in Gesellschaft und Literatur. Prometheus erscheint dann als Widerständler gegen herrschende Normen. Die Gestalt des Gottvaters Zeus im Gedicht erschiene so gesehen als projizierte Vaterfigur oder als despotischer Landesfürst (in diesem Sinne wurde Prometheus wiederholt als Personifikation von Macht- und Autoritätsansprüchen verstanden, das Gedicht selbst musste insgesamt als Beleg für die politische, antifeudalistische Intention des Sturm und Drang dienen). Poetologisch lässt sich der Text als Programm der Absage an ein tradiertes Literaturverständnis lesen, gleichsam als eine metaphorische PoetikPoetik des Sturm und DrangSturm und Drang. In diesem Kosmos der Deutungsvielfalt darf aber nicht übersehen werden, dass PrometheusPrometheus letztlich in ein Dilemma gerät, denn er kann in der Schlussstrophe nicht den Vater meinen, dies wäre er selbst, sondern – genealogisch exakt gesehen – den Großvater. Ihm selbst sollen seine eigenen Geschöpfe den gleichen Respekt zollen, den Zeus von seinen Göttersöhnen erwartete. Der Konflikt zwischen Prometheus und seinen „Menschen“ (V. 50) ist unausweichlich, auch Prometheus’ Söhne und Töchter werden gegen ihren Vater rebellieren. Unwissentlich formuliert Prometheus hier, was er zu gewärtigen hat. Aus der Autorperspektive und der Rezipientenperspektive erscheint Prometheus als Figur der maßlosen Selbstüberschätzung als Folge des Geniewahns. Liest man Goethes Gedicht als poetologischen Subtext zum Sturm und Drang, so ist im Schluss der PrometheusPrometheus-Ode bereits das Wissen um das Ende des Sturm und DrangSturm und Drang eingeschrieben. Eine einheitliche Deutung gibt es nicht, das Gedicht lebt gerade von dieser Mehrdeutigkeit. So bleibt am Ende jener Wunsch stehen, mit dem bereits HederichHederich, Benjamin im Jahr 1770 seinen Prometheus-Artikel, der ja GoetheGoethe, Johann Wolfgang nachweislich bekannt war, beendet hatte und der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat: „Mehrere solche Deutungen kann sich ein jeder selbst machen.“37

      Merck: Gedichtete Fabeln und lyrische Gedichte

      „Wenn ich nicht fürchtete, eben so ein grämlicher Schwätzer zu werden, als manche von meinen Herren Collegen, so würde ich einige von den Fäden meiner Philosophie vor Ihren Augen aufziehen, und Sie würden vielleicht herzlich über den groben Teppich lachen“ (Br, S. 56)1. Das schreibt Johann Heinrich MerckMerck, Johann Heinrich an Sophie von La RocheLa Roche, Sophie von unter dem Datum des 21. Septembers 1771. Am Ende dieses Briefes stellt er der Adressatin in Aussicht, bald auch einige Verse zu schicken. Ob er dies ausgeführt hat, wissen wir nicht, an welche Verse er dachte, ist uns ebenfalls nicht bekannt. Waren es versifizierte Fabeln, waren es die empfindsamen Lieder oder beschäftigte sich Merck mit anderen, neuen Gedichten?

      Der GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Freund und Förderer Merck wurde 1741 in Darmstadt geboren und starb ebenda 1791, und in der Höhle des Löwen, um gleich ein Fabeltier zu nennen, sollte man nicht unbedingt mit einem Aufklärungslämpchen archäologische Arbeiten verrichten wollen. In seiner Fabel Die Fackel und das LichtDie Fackel und das Licht lässt Merck den Streit darüber, wer von beiden bedeutender, wichtiger für die Menschen sei, so enden: „O gebt euch beyde doch zufrieden! / Sie da ist gröser – sprach er zu dem Licht, / Und du bist nützlicher. – So war der Streit entschieden“ (W, S. 92)2. Merck spielt damit auf die Fackel als SymbolSymbol der AufklärungAufklärung an. Auch wenn diese Fackel der Aufklärung, die stets eine Aufklärung des Verstandes bedeutet, schnell abgebrannt ist, so bleibt uns immer noch das Licht,


Скачать книгу