Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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im Dezember 1845 und wenig später nennt er Aristoteles in seiner Rezension des 1847 erschienenen Briefwechsels zwischen SchillerSchiller, Friedrich und KörnerKörner, Christian Gottfried immerhin wieder den „größte[n] Kunstrichter aller Zeiten“32, übrigens ist auch dies eine abgegriffene Formel aus dem aufgeklärten poetologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. Kann dies als ein später Widerruf Hebbels gelesen werden? Wird hier nicht doch wieder die KatharsisKatharsis a tergo eingeführt? Die Abwesenheit des Wortes ist seine Signifikanz: Die Evokation von Furcht und Mitleid wird genannt, nicht aber deren oder anderer Leidenschaften Katharsis.

      Die Einsicht in das tragische Geschehen, die Suche nach jener Notwendigkeit, von der Hebbel im Vorwort zur Maria MagdalenaVorwort zur Maria Magdalena spricht, kann nicht der Logos vermitteln. Die Worte haben ihre Eindeutigkeit innerhalb einer aufgeklärtenAufklärung Vernunftordnung verloren, die traditionell hermeneutische Suche nach SinnSinn muss erfolglos bleiben, da es keinen Sinn mehr gibt. Die „Rebellion im Kopf“ (III/3), von der Leonhard spricht, betrifft nicht den rebellischen Kopf, der die Rebellion gegen jene Gewaltverhältnisse richtet, die erst die Kopf- und Vernunftlosigkeit produzieren. Nicht die LeidenschaftenLeidenschaften, wie es das aufgeklärte Bürgerliche TrauerspielBürgerliches Trauerspiel noch glaubte, bedrohen die Autonomie des Individuums und dessen Vernünftigkeit, sondern allein die sozialen und familialen Gewaltverhältnisse sind es, die diese Leidenschaften kriminalisieren. Die Angst des Vaters vor der gesellschaftlichen Stigmatisierung, Großvater eines unehelichen Enkelkinds zu sein, ist größer als die Furcht vor dem Selbstmord der Tochter. In der kleinbürgerlichen Familie gibt es nicht mehr den zärtlichen Vater und die zärtliche Tochter, wie in der empfindsamenEmpfindsamkeit Literatur der Aufklärung. Umso signifikanter sind die Strukturhomologien zwischen LessingsLessing, Gotthold Ephraim Bürgerlichem Trauerspiel Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson und der Maria MagdalenaMaria Magdalena. Die „Vorrechte der väterlichen Huld“33 bezeichnen eine generöse Haltung, die der Schreinermeister Anton – Repräsentant der Signifikanten A und O, Alpha und Omega, des Anfangs und des Endes – nicht kennt. Hingegen „die Rechte der väterlichen Gewalt gegen das Kind brauchen“34, wie es der in die Freundschaft – und das soll in Lessings Diskurs besagen: Gleichheit – entlassene Diener Sir William Sampsons Waitwell gegenüber Sara formuliert, das ist ein Recht, auf das nicht verzichtet werden kann, weil nur dies die Ordnung der patriarchalen Familien- und Gesellschaftsform sichern hilft. In dreifacher Hinsicht ist der Vater Herrschaftszentrum patriarchaler Gewaltverhältnisse: Erstens in der Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau, zweitens im binnenfamiliären Vater-Kind-Verhältnis und drittens in der sozialen Herr-Knecht-Opposition.35 Früh müssen die Mütter aus dem empfindsamen Figurenensemble ausscheiden, da sie eigentlich keine Funktion erfüllen, ihrer dramaturgischen Abwesenheit entspricht ihre gesellschaftliche Unterdrückung. Auch Sara bezichtigt sich selbst, eine „Muttermörderin“ und „vorsätzliche Vatermörderin“36 zu sein. Bei HebbelHebbel, Friedrich wird der Sohn vom Vater des Muttermordes beschuldigt – „der Karl […] hat die Mutter umgebracht“ (I/7) –, während die Tochter „lieber“ „Selbstmörderin“ und „zugleich Kindesmörderin“ (III/4) wird, als „Vatermörderin“ (III/4) zu sein. Allerdings kann in der Maria MagdalenaMaria Magdalena kein gebildeter, will sagen kein vernünftiger Vater wie etwa bei LessingLessing, Gotthold Ephraim einen versöhnlichen Brief an die verstoßene Tochter schreiben und durch den Diener expedieren lassen. HebbelsHebbel, Friedrich Meister Anton vermag seiner Tochter nur einen Schwur abzupressen. Der Vater redet im delirierenden Diskurs der Tochter zur Prostitution zu, „sehr sanft“ (I/7), wie es in der Regieanweisung heißt, mit sanfter Stimme spricht er sein Todesbegehren aus. Das Begehren, durch die Hand der Tochter getötet zu werden, das ist die eigentliche Drohung mit Gewalt.

      In der Hebbel-Forschung ist diese Vaterrede mit einem Höchstmaß an Interpretierbarkeit ausgeschöpft worden, so wurde etwa von der „erotische[n] Anziehungskraft Klaras“37 gesprochen. Der kleinbürgerliche Handwerker verschweigt aber das, was er begehrt und das ist die Macht der generellen Verfügbarkeit über den Frauenkörper. Es geht hier also keineswegs um erotische Qualitäten der Tochter, sondern um das Verhältnis von SexualitätSexualität und Macht. Mit Begriffen wie „Liebeserklärung des Vaters“38 und ‚erotische Anziehungskraft‘ droht eben diese Verschränkung nivelliert zu werden. Dass diese auch ökonomische Macht impliziert, verdeutlicht Hebbel selbst. In der 1837 geschriebenen und 1848 veröffentlichten Erzählung Schnock. Ein niederländisches GemäldeSchnock. Ein niederländisches Gemälde heißt es beispielsweise:

      „Ja, sie ging zuletzt so weit, daß sie ihre ökonomischen Rücksichten auf meinen eigenen Körper ausdehnte und mir die unnütze Anstrengung desselben, wie sie sich ausdrückte, verbot, mir zum Beispiel die Erfüllung der ehelichen Pflichten nur selten verstattete; vermutlich, weil sie die Kosten einer Umarmung nach Heller und Pfenning abzuschätzen verstand und weil sie nun kalkulierte, daß ich meine Kräfte nützlicher und fruchtbringender im Handwerk anlegen könne, als in der Liebe.“39

      Der Vater taumelt bei der Suche nach einem geordneten Diskurs. „Bist du – […], werde – […] es kommt mir so vor, dass du’s schon bist!“ (I/7), das sind die Worte, die er hervorbringt. Die Tochter nimmt, „fast wahnsinnig“ (I/7), Zuflucht beim Leichnam der Mutter. Zynisch ruft der Vater die Tote zur Zeugin des Schwurs: „Schwöre mir, dass du bist, was du sein sollst“ (I/7). Im zweiten Akt hallt dieser Imperativ, die letztmögliche Schwundform eines kategorischen Imperativs kantKant, Immanuelischer Provenienz, drohend nach: „Werde du die beste Tochter!“ (II/1), „werde du ein Weib, wie deine Mutter war“ (II/1), „bleib nur, was du bist, dann ist’s gut!“ (II/1) Und elliptisch dem Todesbegehren des Vaters folgend, beschwört die Tochter den Fluch des eigenen Todes herauf und sie ändert im Bewusstsein des unausweichlichen Todes den Schwur. Die diskursive Gewalt des Vaters reicht nur bis zum tragenden Verb, das sie unverändert vom Vater übernimmt („schwöre“), die Befehlsform – der Befehl ist die Wort gewordene Gewalt – und die Ich-Form, in beiden Fällen ist das Subjekt zugleich das Objekt der Gewalt, das Begehren lässt sie in jedem Wort einsilbig und zweisilbig die Vokale ihres eigentlichen und ihres uneigentlichen Namens, ihrer Herkunft und ihrer Bestimmung, reproduzieren. „Ich“ – Maria, „dir“ – Maria, „dass“ – Klara, „ich“ – Maria, „dir“ – Maria, „nie“ – Maria, „Schande“ – Klara, „machen“ – Klara, „will“ – Maria (vgl. II/1). Das Begehren antizipiert die Verwandlung des bürgerlichen Namens in den Namen der Todesbestimmung.40 Das Ausrufungszeichen, in dem die Phallozentrik der väterlichen Satzzeichen kulminiert, wird gebrochen. Die horizontale Lage der Bindestriche, die den Schwur der Tochter durchstreichen, vollzieht die drohende Ökonomisierung des Tochterleibes nach und kämpft zugleich mit dem BegehrenBegehren des Vatermords, dem angedeuteten Ende der Phallokratie, eingekerkert aber zwischen dem Satzsubjekt „Ich“ und dem Hilfsverb des Nebensatzes, nochmals die Willensfreiheit eines autonomen Ichs beschwörend. Das abschließende Ausrufungszeichen desavouiert aber auch diese als Objekt und Opfer der väterlichen Gewalt. In der Reproduktion des phallozentrischen SymbolsSymbol wendet sich das Vatermordbegehren gegen den eigenen Leib.41 Zufrieden ist der Vater mit dem Sieg väterlicher Gewalt („Gut!“, I/7) und setzt sich den Hut auf (vgl. I/7).

      Heinrich Theodor RötscherRötscher, Heinrich Theodor schreibt 1848 über HebbelsHebbel, Friedrich Maria MagdalenaMaria Magdalena, dass zwar die Ordnung des alten Moralgesetzes erschüttert, noch nicht aber die „neue Ordnung der Dinge“, die durch eine „freie Sittlichkeit“ gestiftet werde, mitgegeben sei, „in der das bisherige Urtheil über die Handlungen der Menschen, wie die gesammten gesellschaftlichen Konflikte eine durchaus andere Gestalt gewinnen werden. Wir, die Hörer und Leser, ziehen allerdings diesen Schluß, aber er ist nur ein Produkt unserer Reflexion, das wir erst durch Schlüsse gewinnen […].“42 Vor dem Hintergrund der Philosophie des Deutschen Idealismus, insbesondere der Philosophie HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich, wurde dies zutreffend gedeutet, dass es sich dabei um den für das 19. Jahrhundert signifikanten ästhetischen Begriff der Versöhnung handelt.43 Allerdings wird damit den Begriffen der Versöhnung und der KatharsisKatharsis – diese sei das Versöhnungsproblem – an dieser Stelle eine Synonymie unterschoben, die diese nicht habenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles). Die Katharsis, die als gattungsspezifisches Theorem in der aristotelischenAristoteles Poetik begründet ist und im ausgehenden 18. Jahrhundert zum sozialpsychologischen


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