Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui


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dies zu seiner Tochter, die dadurch die Stilisierung zur biblischen Gestalt als Maria, und Mater dolorosa, also zur Heiligen erfährt. Gebiert sie einen Sohn, dann erfüllt sich die Verheißung. Der Sohn wird ein Zeichen, das Widerspruch erzeugt und gesellschaftliche und innerfamiliäre Konflikte provoziert. Zugleich aber wird dieser Widerspruch Einblick in die wahre Befindlichkeit der Provozierten gewähren, genauer in die eigentliche Tötungsabsicht des Vaters. Die Ursache seiner Mordtat ist der Neid auf den Reichtum des zufällig anwesenden Fremden. Der sprachliche Vergleich („als ob“) enthüllt sich schon wenig später als schreckliche Tat.

      Der Hinweis des Vaters, dass ihn ein „Dämon“ (S. 10) zur Tat treibe, er selbst also unzurechnungsfähig sei, wurde von der älteren Forschung zur Geschichte der Schicksalsdramen als zusätzlicher Hinweis darauf missverstanden, dass es sich bei BluntBlunt oder der Gast um den Gattungstypus eines SchicksalsdramasSchicksalsdrama handle, womit im Übrigen wenig Erkenntnis gewonnen war. Viel eher aber ist Blunts Äußerung eine Schutzbehauptung, um seinen Wunsch, den Fremden bzw. den Sohn zu töten, sich selbst und den anderen gegenüber zu verdecken. Moritz lässt keinen Zweifel an dem wahren Mordmotiv. In der Dosenepisode führt er den Tötungswunsch des Vaters mit dem Begehren des Sohnes zusammen: Der junge Blunt („Wilhelm“, S. 16) legt sich schlafen. Er weiß, dass er in seinem Elternhaus ist, möchte sich aber erst am anderen Tag zu erkennen geben. Er „sitzt auf dem Bette“ (S. 13, Regieanweisung) und bevor er einschläft, möchte er nochmals das Bild seiner Geliebten betrachten.

      Mariane, die Tochter seines Onkels, also seine eigene Cousine ersten Grades, womit MoritzMoritz, Karl Philipp übrigens das in den 1770er-Jahren oft literarisierte Inzestmotiv geschickt variiert, ist das Objekt seines Begehrens. „Mariane! du willst die Gefährtin meines Lebens werden, […]“ (S. 13) monologisiert der junge Blunt, und wenig später schließt er sie in sein Abendgebet mit den Worten ein: „[…] daß du [Gott] mir eine Gattin gibst, wie ich sie oft von dir erbat, die mir nun die kummervollen Tage des Lebens durch treue ehliche Liebe versüßen wird“ (S. 16). Dies sind natürlich auch patriarchale Redeformen, die das Schweigen der Frau zur Voraussetzung haben. Doch entscheidender ist die Selbstdeutung Blunts, die er seinen Begehrensäußerungen vorausschickt. Er sieht alle seine Wünsche verwirklicht, er benötigt keinen Traum, um die Wunscherfüllung zu inszenieren. „Sind nun nicht alle, alle die Wünsche meines Herzens erfüllt?“ (S. 13), fragt er sich selbst. Wilhelm Blunt möchte das Bild der begehrten Frau mit in den Schlaf nehmen, „vorher aber will ich noch Marianens Bild betrachten – aber ich finde die Dose nicht?“ (S. 13) Diese Dose hält zur gleichen Zeit der Vater in der Hand. Während für den Sohn die Dose mit dem Versprechen sexuellerSexualität Erfüllung verknüpft ist, repräsentiert sie für den Vater lediglich den ökonomischen Vorteil. Ihn interessiert nicht das Bild, sondern allein die „goldne Dose mit Brillanten“ (S. 12) und ihr Verkaufswert. Eigentlich müsste der alte Blunt seinen Sohn nun nicht mehr ermorden, er ist ja bereits im Besitz der begehrten Ware. Warum tut er es aber trotzdem? Der Vater simuliert Wahnsinn, um den Plan, seinen Sohn zu töten, ausführen zu können. Er hebt hinter dem Haus eine Grube aus und gibt vor, nach einem Schatz zu graben, welcher der Familie endlich wieder Reichtum bringen soll (vgl. S. 17). Das Sinnzeichen des simulierten Wahns erfüllt sich, es wird als Zeichen des Wahnsinns gelesen: „Diese Sprache hör’ ich itzt von ihm zum erstenmale! […] Seine Sinne sind zerrüttet“ (S. 17). Halb entkleidet liegt der Fremde auf seinem Bett, als der Vater in die Kammer schleicht und den Sohn tötet, und „der Vorhang fällt zu“ (S. 18).

      Die nachfolgenden Szenen unterliegen einer konsequenten Dramaturgie und verraten ein großes Geschick des jungen Autors. Die Tat wird von Gertrude als das entlarvt, was sie ist: Mord. Die Einschreibung der Tat in den Wahnsinn lässt sie nicht gelten (vgl. S. 18f.). Danach folgt ein radikaler Perspektivenwechsel. Bürgermeister Blunt und Mariane treten nun zum ersten Mal auf. Beide wissen, dass Wilhelm Blunt bei seinen Eltern weilt und wollen ihn aufsuchen. Der Versuch von Gertrude und Blunt, die Tat zu verschleiern, missrät. Sie hatten gegenüber dem Bruder und Schwager behauptet, der Fremde sei abgereist. Gertrude wird von ihrem Mann zum solidarischen Gehorsam gezwungen. Adelheid gibt aber den entscheidenden Hinweis, dass Wilhelm Blunt noch anwesend ist, als Leichnam in der Grube. Dort liegt anstelle des vermeintlichen Schatzes nun der getötete Sohn, aber das wissen nur die Eltern und die Leser. Als Mariane schließlich vom Tod ihres Geliebten erfährt, bricht sie zusammen und beginnt zu delirieren. Das ambivalente Vaterwort: „rede doch“ und „schweig“ (S. 23), hat nun keine Macht mehr. Ihre Antwort ist überraschend, sie verwechselt den Vornamen ihres Geliebten: „Still, mein Vater! – Carl schläft – er hat sein Haupt zur Ruhe gelegt – er liegt noch im tiefen Schlummer begraben – aber kommen Sie, wir wollen ihn überraschen, eh’ er es sich versehen soll – Nun sind wir da – Carl! Carl! wach auf!“ (S. 23) Diese Verwechslung der Vornamen, ob absichtsvoll oder nicht, denn eigentlich heißt der Geliebte ja Wilhelm und nicht Carl, böte Anlass und Stoff genug zu einer dezidiert psychoanalytischen Deutung des Schauspiels. Carl ist bekanntlich der erste Vorname des Autors selbst.12

      Blunt wird in den Kerker gebracht und darf, bevor das Todesurteil an ihm vollstreckt wird, seinen Sohn noch einmal sehen.13 Diese Szene hat MoritzMoritz, Karl Philipp mit „Blunts Wohnung. Die Leiche des Ermordeten“ (S. 25) überschrieben, sie enthält den entscheidenden dramaturgischen Trick, der das Stück insgesamt als Epitaph auf die Sturm-und-DrangSturm und Drang-Literatur zu lesen erlaubt. Der Vater stilisiert den getöteten Sohn unter seiner „Gewissensangst“ zum „Engel“ (S. 25) und wünscht: „Könnt’ ich das Geschehne ungeschehen machen“ (S. 25), „o, daß doch dies alles ein Traum wäre! – daß es ein Traum wäre! –“ (S. 26) Während der Sohn die Erfüllung seiner Wünsche in der Realität erfahren hat, verharrt der Vater in der Realität seines Wunsches. Moritz nimmt hier im literarischen Diskurs das vorweg, was später die Psychoanalyse als Erkenntnis formuliert, dass Träume eine Wunscherfüllungsfunktion haben. Im Original des Erstdrucks durch einen Doppelbalken vom vorhergehenden und durch drei Sternchen vom nachfolgenden Dramentext signifikant abgesetzt,14 fügt Moritz nach dem Ausruf des Vaters ein Gedicht ein. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass das Stück nicht auf seine Bühnenwirksamkeit oder Spielbarkeit hin angelegt ist, sondern in erster Linie vom Autor als Lesedrama begriffen wird. Die literarhistorischen Kronzeugen dieses Verfahrens sind – trotz des oft gegenteiligen Pathos – eben die Dramenautoren des Sturm und Drang. In diesem Gedicht ruft der alte Blunt die „holde Phantasie“ (S. 26) an, die ihn mithilfe der Imagination, also des Tagtraums, an jenen Punkt zurückbringen soll, bevor er die Tat beging. Danach folgt wiederum die Szene „Die Kammer des Fremden“ (S. 26 u. S. 17). Diesmal liegt der junge Blunt aber nicht „halbentkleidet“ (S. 17) auf dem Bett, sondern „halbangezogen“ (S. 26). In jenem Augenblick, als der Vater den Sohn töten will, wacht dieser „aus einem schweren Traume […], aus einem schweren Traume“ (S. 27) auf. Das Gedicht ist die grandiose Vorwegnahme filmischer Möglichkeiten, es ist die radikale Missachtung jeglicher poetologischer Norm, die kühne Mischung zweier Gattungstypen (Drama und Lyrik). Die Wiederholung bereits gespielter bzw. gelesener Szenen ist die konsequente Weiterentwicklung von Techniken der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Dramatik, sie zu überbieten war nicht mehr möglich. In der häufigen Verwendung von Elisionen, Parenthesen und Anakoluthen sind formale und stilistische Übernahmen von der Sturm-und-Drang-Literatur zu sehen.15

      Auf der inhaltlichen Ebene werden diese Übernahmen ergänzt durch eine umgekehrte Adaption, welche die Figurenkonstellation insgesamt neu zu gruppieren erlaubt. Nun rebellieren nicht mehr die Söhne gegen die Väter(-Generation), sondern die Söhne vergeben den Vätern, die Väter sind beredt, und die Söhne verwehren ihnen das Sprechen. Die Familie – das ist jene vielschichtige historische, soziale, kulturelle, literarische Figuration, die wir AufklärungAufklärung nennen. Die Väter – das sind jene aufgeklärten Autoren, die wie EngelEngel, Johann Jakob, LessingLessing, Gotthold Ephraim oder NicolaiNicolai, Friedrich den Sturm und Drang nicht nur abgelehnt haben, sondern ihm auch vehement entgegen getreten sind. Die Söhne – das sind jene Gäste (der Untertitel von MoritzMoritz, Karl Philipp’ Blunt oder der GastBlunt oder der Gast taucht bezeichnenderweise nur auf dem Titelblatt auf), die kurzzeitig geduldet, dann als lästig empfunden werden, sie sind die Fremden im eigenen Haus, deren Anspruch auf politische, literarische und sexuelleSexualität Emanzipation der Repression des aufgeklärten Blicks weichen musste. 1781, im Jahr, als die Buchausgabe des Blunt erschien, die sich bereits der aufgeklärten


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