Die Kolonie Tongalen. Chris Vandoni

Die Kolonie Tongalen - Chris Vandoni


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geschenkt zu haben.

      Ein weiterer schmerzhafter Stich ließ ihn zusammenzucken und holte ihn aus seiner Rückblende. Sein Herz schlug nur noch schwach. Ein letztes Mal ließ er den mittlerweile getrübten Blick durch den Raum kreisen. Er konnte keine Einzelheiten mehr erkennen.

      Dann senkte sich die Dunkelheit über ihn.

      Ernest Walton saß im Cockpit seines Raumgleiters Space Hopper und ärgerte sich über die lange Wartezeit, die ihm von der Raumhafenkontrolle von Geneva aufgebrummt worden war. Es war jedes Mal dasselbe, wenn er hierher kam. Obwohl Geneva mittlerweile der wichtigste Raumhafen Europas war, schaffte man hier immer noch keinen flüssigen Ablauf von Starts und Landungen. Wenn Ernest zurückdachte, musste er sich eingestehen, dass es nie und nirgendwo anders gewesen war. In Cork, dem regionalen Raumhafen an der irischen Südküste, keine Stunde von seinem mittlerweile selten besuchten Wohnort entfernt, war es noch schlimmer. Nur dank gelegentlichen Sondergenehmigungen, vermittelt von seinem langjährigen Freund Rick Blattning, dem Inhaber eines der größten Technologiekonzerne und gleichzeitig Mitglied des Diplomatischen Rats der Erde, wurden ihm ab und zu schnelle und unbürokratische Starts erlaubt.

      Beim Anblick der Erde aus dem Orbit wurden Ernests Erinnerungen an das düstere Bild, welches die Menschheit in den letzten Jahrhunderten ereilt hatte, jedes Mal von Neuem offenbart. Nach der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Blütezeit gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, in welcher der Kapitalismus geprägt war von Gier, Korruption, Neid und Missgunst, in der das Wirtschaftssystem den Höhepunkt an Ausbeutung erreichte, und das Drittweltländer mit einem perfiden Finanzsystem derart ausbluten ließ, dass diese sich nur noch mit Gewalt und Terror dagegen wehren konnten, stürzten auch die industriestarken Nationen in eine weltweite Krise. Der Drang nach immer mehr führte irgendwann zu einem Ende. Nach dem Motto Man nehme es von den Armen und gebe es den Reichen war irgendwann nichts mehr zu holen. Dies führte weltweit zu Flüchtlingsströmen, meist aus jenen Entwicklungsländern, die von Despoten und Diktatoren beherrscht wurden. Es entwickelten sich immer mehr Flüchtlingsdramen, bei denen Großteile der Asylsuchenden auf der Strecke blieben.

      Damit begann die Zeit der großen Krisen. Verschiedene Faktoren, alle miteinander verflochten und sich gegenseitig beeinflussend, führten die Menschheit an den Rand des Abgrunds. Seuchen und Pandemien, meist hervorgerufen durch neuartige oder durch den Klimawandel mutierte Viren, führten zu Notständen in vielen Regionen der Erde, vorwiegend in jenen, die sonst schon durch eine hohe Bevölkerungsdichte gezeichnet waren. Durch die bereits schon seit einiger Zeit existierenden Völkerwanderungen verbreiteten sich die Viren und die Seuchen innerhalb kurzer Zeit auf der ganzen Erde. Es kam zu drastischen Ausgrenzungen von ganzen Völkergruppen, nachdem in den Jahrzehnten zuvor eine nicht ganz unproblematische multikulturelle Vermischung stattgefunden hatte. Nach dem Ausbruch der Seuchen, durch mangelnde sanitäre Versorgung vorwiegend in ärmeren Gebieten, stieg das konservativ-nationalistische Denken in vielen Ländern massiv an. Die Integration von Ausländern wurde in den ehemals wirtschaftsstarken Nationen massiv reduziert und begrenzt. Die bereits integrierten erlebten die wahre Hölle in Form von Diskriminierung und Verfolgung. Eine der instinktiven Eigenschaften des Menschen entfaltete sich zur vollsten Blüte: Für alles, was ihm widerfuhr, brauchte er einen Sündenbock, dem die Schuld für all sein Elend auferlegt werden konnte.

      Diese dramatische Entwicklung erfolgte in einer Geschwindigkeit, die Regierungen und administrative Verwaltungen völlig überforderten. Immer häufiger kam es zu Aufständen und kriegerischen Übergriffen, ja sogar zu regelrechten Völkermorden. Und die Vereinten Nationen, ein Abklatsch dessen, was sie einmal darstellten, standen dem Ganzen hilflos gegenüber. Andere humanitäre Institutionen hatten sich entweder aufgelöst oder waren zerstritten, sodass ihr Wirkungspotenzial im Nichts verpuffte.

      Als ob das alles nicht schon genug gewesen wäre, schlug einige Jahrzehnte später auch das Klima immer erbarmungsloser zu. Naturkatastrophen häuften und übertrafen sich in ihrer Intensität mehr und mehr. Zu lange hatte die Menschheit den Klimawandel nicht ernst genommen. Zu lange hatte man politisiert, intrigiert und sich darüber gestritten, ob der Mensch dafür verantwortlich war oder ob es sich nur um eine Laune der Natur handelte. Zu lange hatte man nur halbherzige Maßnahmen ergriffen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Und wenn, dann wurde nur etwas unternommen, wenn man daraus Profit schlagen konnte. Irgendwann war der Zeitpunkt erreicht, an dem der Vorgang nicht mehr oder nur zum Teil rückgängig gemacht werden konnte.

      Die Menschheit, am Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts ohnehin schon durch Seuchen, wirtschaftliche Instabilität, Terror und Kriege auf eine harte Probe gestellt und dezimiert, wurde nun gänzlich in ein neues Zeitalter gedrängt. Viele Inselstaaten verschwanden, große Küstenregionen bekamen ein völlig neues Aussehen. Die Menschheit, die vor Beginn der großen Krisen auf knapp zehn Milliarden angewachsen war, wurde innerhalb weniger Jahrzehnte auf ein Drittel reduziert. Und in vielen Fällen traf es nicht diejenigen, die für die Krisen verantwortlich waren.

      Nach dem Zusammenbruch des Finanz- und Weltwirtschaftssystems stürzte auch die Industrie in eine große Krise. Viele Betriebe mussten schließen, technische Entwicklungen wurden eingestellt und die Fabrikation von alltäglichen Gütern auf ein Minimum beschränkt. Luxus verschwand gänzlich von der Bildfläche. Mehr und mehr wurde die Gesellschaft von einem harten Überlebenskampf geprägt. Die Kinder der neuen Menschheit wurden in eine Epoche geboren, in der man von den florierenden Zeiten nur noch in Büchern lesen konnte, ein Medium, das durch den technischen Fortschritt vor den Krisen schon fast nicht mehr existierte.

      Während der technische Fortschritt, kurz vor den Krisen wegen der damals drohenden Überbevölkerung und Ressourcenknappheit, vor allem in der Raumfahrt große Anstrengungen erfahren hatte, sodass sich in fremden Sonnensystemen Kolonien bilden konnten, kam er in den Krisenjahren gänzlich zum Erliegen. Die Kolonisation von neuen Planeten geriet dabei in Vergessenheit. Zeitweise unterhielt man mit den bestehenden Kolonien keinen Kontakt mehr. Digitaltechnik und Virtualität wurden mehr und mehr zu einem Mythos. Es machte zeitweise sogar den Anschein, als würde sich die Menschheit in mittelalterliche Zustände zurückentwickeln.

      In diesen schwierigen Zeiten konnten religiöse Institutionen und Sekten verschiedener Glaubensrichtungen expandieren und ihre Positionen massiv stärken. Die Menschheit suchte wieder vermehrt Halt im Glauben. Traditionelle kirchliche Werte gewannen an Bedeutung. Und die Prediger trugen das ihre zum Wandel bei. Vielerorts verkündeten sie in größter Polemik, der lockere Lebenswandel aus früheren Zeiten hätte das Teuflische heraufbeschworen und sei für die Krisen verantwortlich. Der größte Teil der Menschheit huldigte ihnen Respekt und besann sich wieder auf Sitte und Moral. Doch auch Glaubensstreitigkeiten und Intoleranz nahmen zu und erzeugten neue Konflikte und weitere Krisen. Wieder begann man sich gegenseitig zu bekämpfen.

      Ein kleiner Teil von Menschen konnte sich mit religiösen Rechtfertigungen zu den Geschehnissen und entsprechenden Trostspenden nicht zufriedengeben und versuchte, die wahren Ursachen zu ergründen. Doch jene Minderheiten wurden wegen ihres Denkens und Handelns ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt. Mordanschläge, oft sogar von Sekten und religiösen Institutionen selbst in Auftrag gegeben, waren keine Seltenheit.

      Zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts wurden neue technische Anstrengungen unternommen. Man erinnerte sich an die alten Errungenschaften und versuchte, sie neu zu beleben. Die digitale Nanotechnik, die vor den Krisenjahren noch in den Kinderschuhen steckte, konnte sich zur dominierenden Innovation entwickeln und fand in jedem noch so winzigen Gerät Einzug.

      Man versuchte, zu den Kolonien wieder diplomatische Beziehungen aufzubauen und mit ihnen Handel zu treiben. So konnten diese einen neuen Zustrom von irdischen Einwanderern verzeichnen, was für sie nicht nur Vorteile brachte. Ohne Kontakt zur Erde während der Zeit der großen Krisen hatten sich hier neue Gesellschaftsformen und Kulturen entwickelt.

      Ein kurzes Signal aus den Lautsprechern riss Ernest aus den Gedanken. Auf dem Display erschien die Landeerlaubnis zusammen mit der Bezeichnung des Gates und dem dazugehörigen Code, der automatisch ins Bordsystem übertragen wurde. Ernest brauchte nur noch die Bestätigungstaste zu drücken, worauf sich die Space Hopper automatisch in Bewegung setzte und die Landung einleitete.

      »Na endlich! Wurde auch Zeit«,


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