Die Kolonie Tongalen. Chris Vandoni
sich beide Parteien, gemeinsam einen Weg für eine friedliche Lösung zu suchen. Auch in dieser Hinsicht wollte man nicht dem Beispiel der Erde folgen und bei unterschiedlichen Ansichten und Lebensauffassungen einen Krieg beginnen.
Nach vielen Verhandlungen und Gesprächen einigte man sich, für die Curaner in einem bisher unbewohnten Gebiet südlich des Äquators, ebenfalls an der Westküste des Kontinents, einen neuen Staat zu gründen, in dem sie ihre eigene Kultur und Gesellschaftsform pflegen konnten.
Die Kolonisten beider Parteien atmeten auf, da sie einen drohenden Bürgerkrieg auf diplomatischem Weg verhindert hatten.
Bei den Feierlichkeiten der Staatsgründung wurde der neue Staat Curanien ausgerufen. Seine Hauptstadt sollte den Namen Curania tragen.
Grenzstreitigkeiten zwischen den Curanern und den Tongalern waren aufgrund des lebensfeindlichen Äquatorialbereichs zwischen ihnen so gut wie ausgeschlossen.
Auch wenn die beiden Staaten von sehr unterschiedlichen Kulturen und Lebensauffassungen geprägt und voneinander unabhängig waren, entwickelte sich doch bald reger Handel.
Die Konflikte gerieten in Vergessenheit, und man akzeptierte sich gegenseitig.
3.
Marac Kresnan war ein gewöhnlicher Bürger von Curanien und lebte mit Frau, Tochter und Sohn etwas außerhalb der Hauptstadt Curania.
Seine Eltern hatten die Gründung des Staats noch miterlebt, waren jedoch einige Jahre später gestorben. Nachdem sie auf der Erde unter größter Armut ein kümmerliches Dasein gefristet hatten, bauten sie sich in Curanien eine neue Existenz auf.
Marac und seine Familie waren, wie schon seine Eltern und alle Curaner, sehr gläubige Menschen, die streng auf Sitte und Moral achteten. Sie glaubten an ein Leben nach dem Tod und an die Heilige Dreifaltigkeit.
Marac, der einzige Sohn, hatte nach dem Tod seiner Eltern das Haus übernommen. Er verdiente seinen Unterhalt mit dem Verkauf von Nahrungsmitteln, die in den ländlichen Gebieten produziert wurden. Daher hatte er meist in den Städten zu tun, wo er seine Erzeugnisse anbot.
Sein Unternehmen wuchs zusehends, denn er hatte ein feines Gespür für die Bedürfnisse der Menschen. Diese Eigenschaft verhalf ihm sogar zu einer kleinen Niederlassung auf der Erde, da man auch dort auf die Qualität seiner Produkte aufmerksam geworden war.
Das Unglück, welches sein ganzes Leben in eine völlig andere Bahn lenken sollte, geschah zu einem Zeitpunkt, als er sich geschäftlich auf der Erde aufhielt.
Ein gewaltiges Seebeben erschütterte die südliche Hemisphäre des großen Ozeans von TONGA-II. Auf dem Meeresgrund schoben sich zwei tektonische Platten übereinander und hoben sich gegenseitig mehrere Dutzend Meter an. Die dadurch entstandene Wasserverdrängung löste einen gigantischen Tsunami aus.
Eine Flutwelle von fast hundert Metern Höhe breitete sich mit über eintausend Kilometern pro Stunde als konzentrischer Ring vom Epizentrum des Bebens aus.
Kurz bevor die Welle auf den Kontinent traf, zog sich das Meer mehrere Hundert Meter zurück, bevor die gewaltige Wasserwand einige Minuten später herangebraust kam.
Nichts konnte dieser Urgewalt standhalten. Häuser, Fabriken, Brücken und Bauten jeglicher Art sowie Pflanzen und Wälder wurden innerhalb weniger Sekunden dem Erdboden gleichgemacht, Menschen auf der Stelle erschlagen. Die Wassermassen drangen mehrere Hunderte Kilometer weit ins Landesinnere ein und verschonten nichts und niemanden.
Als Marac Kresnan von seiner Geschäftsreise von der Erde nach TONGA-II zurückkehrte, existierte Curanien nicht mehr. Der Tsunami hatte das gesamte Land und sämtliche Einwohner vernichtet. Eine riesige Schneise der Verwüstung, mehrere Hundert Kilometer in Breite und ebenfalls mehrere Hundert Kilometer weit ins Landesinnere reichend, war das Einzige, was übrig geblieben war.
Tongalen hingegen war bei dieser Katastrophe relativ glimpflich davongekommen. Die Ausläufer der Flutwelle hatten zwar auch die Nordküste des Kontinents erreicht, jedoch bereits in so abgeschwächter Form, dass außer einigen harmlosen Überschwemmungen keine nennenswerten Schäden entstanden waren.
Für Marac Kresnan brach die Welt zusammen. Er, der bisher das perfekte Leben gelebt, eine glückliche Familie und ein erfolgreiches Geschäft besessen, der bisher nie mit großen Rückschlägen, geschweige denn mit Katastrophen zu tun gehabt hatte, stand plötzlich vor dem Nichts.
Da, wo vor kurzem sein Haus gestanden, wo sich seine Firma befunden hatte, wo seine Kinder zur Schule gegangen waren, wo sich eine ganze Stadt erstreckt hatte, gab es nur noch Trümmer.
Eine Rückkehr war unmöglich.
Er flog zur Erde zurück. Seinen einzigen Besitz trug er am Körper und in seinem Gepäck. Die guten Geschäftsbeziehungen halfen ihm, hier Fuß zu fassen und so gut es ging zu überleben. Mit seinen dreiunddreißig Jahren hatte er sein Leben praktisch noch vor sich. Die neue Umgebung sollte es ihm einfacher machen, über den schmerzlichen Verlust hinwegzukommen.
In den nächsten Jahren schaffte er es, dank seinen guten Fähigkeiten als Vermittler, für sich alleine eine neue Existenz aufzubauen. Auch wenn ihm die von wirtschaftlicher Korruption und heuchlerischer Bigotterie geprägte Gesellschaft der Erde nicht behagte, hatte er TONGA-II nie wieder aufgesucht.
Curanien wurde nicht wieder aufgebaut. Man hielt das Risiko für zu groß, dass es noch einmal zu einer ähnlichen Katastrophe kommen könnte.
Tongalen hingegen blühte weiter auf. Es wurde ein Frühwarnsystem für unterseeische Beben und Tsunamis eingerichtet. Es blieb weiterhin ein religionsloses Land, geprägt von offener Meinungsäußerung und Freizügigkeit ohne falsche Tabus. Neue Kolonisten, die sich diesem Lebensstil nicht unterordnen konnten, bildeten eine kleine Minderheit.
Langsam geriet die Tatsache, dass Curanien je existiert hatte, in Vergessenheit.
4.
Ernest Walton saß in seiner Lieblingsbar im Raumhafen von Geneva und nippte an einem Glas Four Roses. Zum wiederholten Mal sah er auf seine Uhr, obwohl jedes Mal nicht mehr als ein paar wenige Minuten verstrichen waren, und stieß einen leisen Fluch aus.
»Pünktlichkeit scheint heute aus der Mode gekommen zu sein«, brummte er vor sich hin, doch niemand beachtete ihn.
Ernest Walton war ein Phänomen. Mit seinen hundertneunundzwanzig Jahren und dem Aussehen eines knapp Siebzigjährigen stellte er die Fachwelt vor ein Rätsel. Ärzte und Wissenschaftler vermuteten, er sei bei einem seiner Raumflüge in den Einflussbereich einer fremdartigen Strahlung geraten.
Mit seiner schlanken, eins achtzig großen Figur und dem silbergrauen Haar, das er im Nacken zu einem Zöpfchen zusammengebunden trug, hinterließ er einen kräftigen und drahtigen Eindruck. Doch in seinem Gesicht widerspiegelte sich ein sympathisches Wesen. Seine Augen strahlten Güte und Wärme aus. Seine Nase erinnerte an die eines stolzen Indianerhäuptlings.
Bis vor knapp dreißig Jahren hatte er Abenteuerromane geschrieben, die sich zu der damaligen Zeit in Form von digitalen Hörbüchern sehr gut verkauften. Dieses Medium war zwar ein Relikt aus der Zeit zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, hatte sich jedoch erstaunlich lange halten können.
Ernest Walton hatte sich mit den Einnahmen seiner Romane eine beträchtliche Summe auf die Seite legen können, von der er bis heute nur einen kleinen Teil verbraucht hatte. Er benötigte im Leben nicht viel, um glücklich zu sein. Seine Bescheidenheit wurde allgemein geschätzt.
Als der Konsum von digitaler Hörliteratur unter den Menschen aus der Mode kam, vor allem jüngere Generationen immer mehr Interesse an technischen Spielzeugen zeigten, die man für alles Mögliche verwenden konnte, hatte er mit dem Schreiben aufgehört und beschlossen, selbst Abenteuer zu erleben. Dazu kaufte er sich von seinen Ersparnissen einen kleinen Raumgleiter und gründete das interstellare Transportunternehmen Space Hoppers Limited.
Sein Unternehmen hatte sich auf Aufträge spezialisiert, für die sich andere Transportunternehmen nicht interessierten oder sich wegen bestimmter Umstände oder mangelnder finanzieller Lukrativität zu schade waren.