Die Kolonie Tongalen. Chris Vandoni
er diese Tätigkeit nur noch selten aus. Trotzdem wurde er immer wieder von wissenschaftlichen Institutionen für Aufträge angefragt. Da sein persönliches Interesse an Gletschern mittlerweile auch diesen Institutionen bekannt war, handelte es sich bei den Aufträgen oft auch um solche, die damit zu tun hatten.
Sein gegenwärtiger Auftrag führte ihn zu einer Gletscherhöhle, die sich vor einigen Wochen durch Verschiebung der Eismassen gebildet hatte. Die Wissenschaftler konnten anhand seiner Bilder zu wichtigen Erkenntnissen gelangen und entscheiden, ob sich der Standort für geplante Experimente und Forschungen eignete.
Christopher hatte sich dank einiger lukrativer Aufträge dieser Art eine moderne holografische Kameraausrüstung anschaffen können, die er auch für andere Zwecke benutzte. Auch wenn er mit dem Team der Space Hopper im Weltraum unterwegs war, nutzte er viele Gelegenheiten, um Bilder zu schießen.
Sein größtes Interesse galt jedoch den Gletschern. Es war geweckt worden, als er vor Jahren verschiedene Berichte über den damals größten Alpengletscher zu lesen bekam, den Aletschgletscher in der Schweiz, der in rasantem Tempo zu schmelzen begonnen und dadurch eine verheerende Naturkatastrophe ausgelöst hatte. Ganze Bergregionen mussten mangels Trinkwasser evakuiert werden. Die Flüsse unterhalb des Gletschers führten eine Zeit lang permanent Hochwasser, aufgrund dessen auch in den Tälern weite Teile evakuiert werden mussten.
Diese Berichte weckten in ihm auch das Interesse am Klimawandel selbst, der Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eingesetzt hatte und immer noch andauerte.
Während sich damals der globale Temperaturanstieg, hervorgerufen durch den Treibhauseffekt, immer mehr beschleunigte und zum rasanten Abschmelzen von Gletschern und Polareis führte, veränderten sich auch die Meeresströmungen. Es kam zu einer Umverteilung der Luftmassen. Einerseits wurde die heiße Luft aus der Äquatorgegend immer langsamer wegtransportiert, andererseits stauten sich kalte Luftmassen an Orten, an denen vorher ein mildes Klima geherrscht hatte. Viele Gegenden vertrockneten, andere wiederum wurden von Überschwemmungen und Hochwasser heimgesucht. Das Ansteigen des Meeresspiegels verschlang zusätzlich große Küstenregionen. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden zu Klimaflüchtlingen, für die es anfangs nicht einmal eine gesetzliche Grundlage gab, um sie überhaupt als legitime Flüchtlinge einzustufen.
Die Regenwälder verschwanden vom Weltbild und verwandelten sich zu kargen Steppen, nicht etwa hauptsächlich durch Rodung oder blinde Abholzung, sondern sie vertrockneten durch die höheren Temperaturen und durch Wassermangel. Der Regenwald im Amazonasbecken war zudem von Sandstürmen in der afrikanischen Sahara abhängig. Diese mehrere Kilometer hohen Sandmassen, mit wertvollen Mineralien angereichert, wurden von den starken Winden über den Atlantik nach Westen getragen, vermischten sich mit Regenwolken, die sich vor der südamerikanischen Küste bildeten und ins Landesinnere getrieben wurden, wo sie sich ihrer Last in Form von Regen entledigten. Das Amazonasbecken bedankte sich für diese vielseitige Düngung mit einer beispiellosen Vielfalt. Doch durch die steigende Verdunstung von Meerwasser entstanden im Süden der Sahara neue Monsunregen, die der Sahelzone genug Wasser bescherten, damit diese von der Flora zurückerobert werden konnte. Die entsprechenden Sandstürme, die das Amazonasbecken mit Mineralien und Dünger versorgt hatten, blieben aus.
Innerhalb eines halben Jahrhunderts verschwanden sämtliche Alpengletscher, der größte Teil des Eispanzers von Grönland und das Polareis in der Arktis. Auch von den Gletschern im Himalaja blieb nicht viel übrig. Einzig der fast fünftausend Meter dicke Eispanzer im Innern der Antarktis konnte dieser Entwicklung länger standhalten, auch wenn hier vor allem das Schelfeis an den Küsten immer schneller abbrach, in wärmere Gewässer trieb und schmolz. Dadurch besaß das Festlandeis vielerorts keinen Halt mehr, rutschte nach und versank ebenfalls in den Fluten. Der innere Kern des kontinentalen Eispanzers konnte sich jedoch bis zum heutigen Zeitpunkt einigermaßen halten.
Eine gefährliche Entwicklung hatte sich in der sibirischen Tundra und in Alaska ergeben, in denen das Auftauen der Permafrostböden nebst Kohlenstoffdioxid Unmengen von Methangas freisetzte. Immer öfter kam es zu sogenannten Methanrülpsern, die auf einen Schlag derart große Mengen dieses Giftgases freisetzten, dass es zu einer Sauerstoffverdrängung kam. Dadurch wurde jegliches sauerstoffabhängige Leben in diesen Gegenden vernichtet. Ganze Regionen wurden mit Überflugverboten belegt, da es immer häufiger vorkam, dass Flugzeuge explodierten, die in eine Methanwolke flogen.
Als die Meerestemperaturen soweit angestiegen waren, dass die Methanhydratvorkommen an den Kontinentalabhängen zu schmelzen begannen, verloren die sedimentierten Hänge ihren Halt und rutschten auf den Meeresgrund. Durch diese enorme vertikale Materialverschiebung entstanden Tsunamis, deren Ausmaße sich der Mensch bis zum damaligen Zeitpunkt nie hatte vorstellen können.
Dawas Stimme riss Christopher aus seinen Gedanken. Seit er den Sauerstoffmangel spürte, hatte er kein Wort mehr gesprochen. Dawa kannte Christopher gut genug, um diesen Umstand richtig zu interpretieren. »Wir sind bald da«, sagte er und blickte zu ihm zurück.
Christopher richtete sich auf und nickte seinem Freund zu. Es dauerte jedoch noch eine volle Stunde, bis sie ihr geplantes Ziel erreichten. Als er die horizontale Spalte zwischen Eis und glattem Fels erblickte, ließ er sich in den Schnee fallen und atmete erst einmal kräftig durch. Obwohl er mit seinen sechsunddreißig Jahren noch relativ jung war, machte ihm der Aufstieg in diese Höhe zu schaffen. Er hätte sich zwar bequem mit einem Gleiter hochfliegen lassen können. Aber er wollte sich solche Herausforderungen nicht entgehen lassen.
Nach einigen Minuten öffnete er seinen Rucksack, holte seine Geräte hervor und konfigurierte sie auf die Umgebung und die Lichtverhältnisse. Dawa lächelte, was er eigentlich oft tat, wenn sich ihre Blicke trafen. Das war die Art der Tibeter. Sie waren von Grund auf freundlich und höflich. Als er Christopher vor einigen Jahren zum ersten Mal begleitet hatte, hatten sie sofort ihre Sympathien bemerkt und sich angefreundet. Seither versuchte Christopher jeweils, den Zeitpunkt seiner Expeditionen mit Dawas Verfügbarkeit abzustimmen. Dawa arbeitet als Lehrer und Sporttrainer an einer Schule in Zhongba, nahe der Grenze zu Nepal und hatte gerade Schulferien.
Christopher erhob sich und ging zum Eingang der Spalte. Dort ließ er sich auf die Knie nieder und blickte hinein. Es war stockdunkel. Durch den ständigen Blick auf die Schneelandschaft brauchten die Augen etwas mehr Zeit, um sich auf diese Dunkelheit einzustellen. Gefolgt von seinem Freund kroch er auf allen Vieren hinein und schaltete die Stirnlampen ein. Er sah sich um und konnte erkennen, dass die Höhle im Innern höher war, sodass er sich problemlos aufrichten konnte. Nach einer Weile hatten sich seine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte die ungefähren Ausmaße der Höhle noch besser erkennen. Sie dehnte sich vorwiegend in die Breite aus und war unterschiedlich hoch. Im Hintergrund wurde sie immer niedriger. Der Felsen stieg mehr und mehr an. Ein Ende war nicht zu erkennen.
Christopher verteilte die Leuchtkörper, ging anschließend in der Mitte in die Hocke und las auf dem Display des Belichtungsmessers die Ergebnisse ab. Dawa zeigte auf einige sehr interessante Stellen. Christopher begann, ein Bild nach dem anderen zu schießen.
Eine Stunde später verspürte er Hunger. Zusammen setzten sie sich hin, packten den Proviant aus ihren Taschen und nahmen ihre karge Mahlzeit ein. Eine weitere halbe Stunde später packten sie die Reste wieder ein und verstauten sie in ihren Taschen. Während des Essens hatten sie die Höhle genauer in Augenschein genommen, woraus sich konkretere Pläne für weitere Aufnahmen ergaben.
Christopher packte einige Leuchtkörper in seine Hosentasche und kroch langsam tiefer ins Innere, jedoch immer darauf bedacht, nie den Halt unter den Füssen zu verlieren. Dawa folgte ihm in sicherem Abstand. Zu seinem Erstaunen entdeckte Christopher im Innern einen niedrigen Seitengang, der zu einer weiteren Kammer führte. Er leuchtete sie aus und stellte fest, dass sie weitaus größer war als die Eingangshöhle. Vorsichtig kroch er in den Seitengang, bis er sich in der großen Kammer befand. Hier konnte er ohne die Leuchtkörper überhaupt nichts sehen, da das Tageslicht nicht bis hierher vordrang. Er verteilte sie wieder in einem Kreis und nach oben gerichtet auf dem Boden, sodass sie den Raum mit einer angenehmen Helligkeit ausfüllten.
Die Decke leuchtete in den vertrauten, wunderschönen Blautönen, die Christopher in der Natur bisher nur selten zu Gesicht bekommen hatte. Erneut ließ er die Kamera ein Bild nach dem anderen schießen, während