Skandal um Zille. Horst Bosetzky
logierte im vierten Stock eines mittelmäßigen Mietshauses – natürlich ohne Fahrstuhl, wie Banofsky beim Betreten des Hausflurs feststellte. Selbst ein vergleichsweise junger Mann wie er atmete hörbar schwerer, als er endlich oben angekommen war. Er musste sich erst ein wenig sammeln, bevor er auf den Klingelknopf drückte. Drinnen blieb alles ruhig. Banofsky wagte es, ein zweites Mal zu klingeln, diesmal etwas energischer. Endlich waren schlurfende Schritte zu vernehmen. Dann war Zilles Stimme zu hören.
»Mensch, mich kratzen se ooch noch aus da Erde raus! Hör’n Se uff zu klingeln, ick bin nich da!«
»Ich auch nicht!«, rief Banofsky. »Keine Angst. Mein Name ist Johannes Banofsky. Hans Ostwald hat mit Ihnen gesprochen … Dass Sie so nett sein wollen …«
»Wat is mit’m Sonett? Ick bin doch keen Musiker.«
Banofsky blieb hartnäckig. »Ich will ein bisschen was über Sie wissen …«
»Ach wat!« Zille öffnete die Wohnungstür einen Spaltbreit, zögerte aber noch, sie aufzuziehen. Die Kette blieb davor. »Wissen Se, ick werde übalaufen, täglich, seit vielen Wochen. Von Photographen, Rundfunkleuten, Zeitungsschreibern, Abenteurern, Bettlern … Und nu ooch noch ’n Filmfritze! Bin schon jetzt krank. Die Tür werd ick zunageln. Habe ick nich übaall vakündet: Nüscht wie meine Ruhe will ick – und nich durch Liebkosungen sterb’n!«
»Dann beschimpfe ich Sie eben, damit Sie lange am Leben bleiben: Zille hat nie richtig über den politischen Inhalt seiner Arbeiten nachgedacht und war zu feige, in die K PD einzutreten!«
Zille steckte das mit großer Geste weg. »Det imponiert mir! Mal keena von den Schleimscheißan und Arschkriechan. Wat woll’n Se denn nu jenau, junger Mann?«
»Ich will das Drehbuch für einen großen Tonfilm schreiben, in dem nicht die Figuren aus ihren Zeichnungen die Hauptrolle spielen, sondern Sie als Maler.«
»Det hört sich jut an, dann komm’ Se mal rin.«
Die Kette wurde abgezogen, dann öffnete ihm Heinrich Zille die Wohnungstür. Banofsky, sonst eher frech wie Oskar, war in diesem Augenblick so befangen, dass er kein Wort hervorbrachte. Einem Halbgott so unmittelbar gegenüberzustehen hatte ihm glattweg die Sprache verschlagen.
Zille staunte. »Ehm ham Se doch noch jesprochen – und nu sind Se plötzlich unta die Taubstummen jejangen?«
»Nein, nein, ich finde nur nicht sofort die passenden Worte …«
Zille lachte. »Dann drehn’ Se doch lieba ’n Stummfilm und keenen, wo die Leute wat sajen!«
Banofsky bewunderte den Witz und die Schlagfertigkeit des Alten. Die waren also geblieben, so hinfällig Zille mit seinen siebzig Jahren auch aussehen mochte.
»Herzlichen Dank, dass Sie mich empfangen wollen …«
»Empfangen – wat für’n Wort! Empfangen tun Frauen ihre Kinda, ick bitte Sie nur herein. Und ’n Butler hab ick ooch nich.«
»Aber ich höre doch Stimmen! Ah, das sind Ihre Haushälterinnen …«
»Nee, det sind meine Tigerfinken und meine Sittiche.« Banofsky hatte das Vogelgekreische wohl als solches identifizieren können, wollte sich aber den kleinen Spaß nicht entgehen lassen.
Im Schlaf- und Arbeitszimmer, in das Zille ihn jetzt führte, standen drei Vogelbauer. Zille ging hin, schnalzte mit der Zunge und streichelte den Tieren mit einem Blattstengel die Bäuche. Er hatte die linke Hand, in der er eine erloschene Zigarre hielt, in die Seite gestemmt, wo seine Weste besonders abgetragen wirkte. Den Kopf schräg nach unten geneigt, sah er dem Treiben seiner Lieblinge zu. Einer der Tigerfinken war inzwischen in den Wassernapf gesprungen und spritzte ringsum alles voll.
»So is schön, mein Mätzken«, sagte Zille in einem sanften, singenden Ton. »Bade du nur schön. Ick wisch ooch allet wieda uff.« Dann wandte er sich zu Banofsky. »Die Tierchen wollen nur dafür sorgen, dass ich ’n bisschen Beschäftigung habe.«
Dann erzählte er Banofsky die Tragikomödie von seinen Tigerfinken. »Als det eene Weibchen beim Eialejen jestorm is, hab ick mir ’n neuet besorjt. Det Männchen hat zuerst janz panisch reagiert und det neue Tier fürchterlich hin und her jejajt. Dann hat er uffjehört zu singen, Fräulein Tigerfink aba hat sich einjerichtet bei mir. Die Vögelchen vatrajen sich jut und sprechen ooch mit mir. Und wissen Se wat? Neulich war zufällich ’n Tierarzt hier, und der hat mir azählt, det det Weibchen ooch ’n Männchen is.«
Als Zille geendet hatte, ging sein Blick zum Fensterbrett hinaus, wo sich die Spatzen das Winterfutter holten, das er ihnen hingestreut hatte. »Die bejrüße ick jeden Morjen, weil det die Proletarier unta den Vögeln sind.«
Banofsky sah sich um – und fand bestätigt, was er über Zilles Wohnung im Acht-Uhr-Abendblatt vom 24. Januar 1914 gefunden hatte:
Zille, liest man in großen Buchstaben an der Eingangstür seiner Wohnung, nachdem man die atemberaubende Höhe des vierten Stockwerks erklommen hat. Ein dunkler Gang gähnt dem Besucher entgegen. Dann erscheint Heinrich Zille sein bartumrahmtes Gesicht mit den gutmütig dreinschauenden Augen, die so gar nichts von der Wildheit jener nördlichen und östlichen Gesellen haben, die sein Stift mit Vorliebe entwirft. Nur seine äußere Erscheinung hat sich im Laufe der Jahre dieser Umgebung angepasst. Er trägt einen abgeschabten dunklen Rock, und Kragen und Schlips sind bei der Arbeit nur lästig. Er protestiert gegen das Anständige. Auch die Ölmalerei ist ihm aus diesem Grunde verhasst. Umso mehr überrascht das kleinbürgerlichaltmodisch eingerichtete Zimmer: Möbel aus den achtziger Jahren, Vertiko, Sekretär, Kommode überladen mit Krimskrams, Muscheln, Döschen, Büchsen, Nippesfiguren, über der eine Bronze-Plastik hängt, Zille selbst darstellend.
Banofsky bedauerte, keinen Photoapparat bei sich zu haben. Wenn der Requisiteur später Zilles Wohnung nachgestalten musste, hätten ihm ein paar Photos sicherlich gute Dienste geleistet. Aber das ließ sich sicherlich noch nachholen, bevor die Dreharbeiten losgingen.
Beim genauen Hinsehen entdeckte Banofsky einige Details, die der Zeitungsmann vor vier Jahren nicht wahrgenommen hatte: die Mozart- und die Beethovenbüste zum Beispiel, zwischen denen als Talismane kleine Äffchen aus Gips und putzige Hühnchen aus Ton zu sehen waren »Überall muss wat ruffjestellt sein«, erklärte Zille, »sonst isset nich jemütlich.«
Über dem Vogelkäfig hing ein Kinoplakat.
»Die Verrufenen!”, rief Banofsky. »In dem Film habe ich selber mitgespielt. Ich war der Freund von Robert Kramer.«
»Darum sind Se mir jleich so bekannt vorjekomm’n! Denn vastehn Se ja wirklich wat vom Fülm.« Zille nahm einen menschlichen Unterkiefer von seiner Kommode. »Det hier is ’ne schöne Jeschichte, die muss in’t Drehbuch rin.« Er begann zu erzählen, wie er das gute Stück bei Bauarbeiten auf dem Spittelmarkt gefunden hatte. »Da hat et im Dreißigjährigen Kriej ’n Pestfriedhof jejehm, und als die Arbeita die ausjegrabenen Knochen in Säcke jestoppt ham, hab ick mir den Untakiefa jeschnappt. Een Backenzahn war rausjefallen und hat bei mir inna Jackentasche jesteckt, den hab ick wieda einjeklebt – aba falsch rum. Mein Freund Doktor Heilborn, det is ’n Arzt, hat tajelang darüber nachjedacht, warum die Leuta früha so janz andere Zähne jehabt ham, und hat det uff die andere Anährung zurückjeführt.«
Das Eis war nun endgültig gebrochen, und Heinrich Zille kam mehr und mehr in Plauderstimmung, zumal er auch noch seine Cognacflasche aus dem Spind holte.
»Fülm is wat Wundabaret«, begann er und klagte darüber, wie er sich ein Leben lang gequält hatte, einen Hund zu zeichnen, dem man ansah, dass er mit dem Schwanz wedelte. »Man musste et sojar noch runta schreim. Und im Fülm is det allet keen Problem.«
Kaum hatte Zille die ersten Sätze gesprochen, hörte man ein Grammophon aus der unteren Wohnung.
»Stundenlang jeht det nu so mit det Jeplärre. Nächstens koof ick mir Näjel, tausend Näjel, und kloppe die alle hinta’nanda inne Wand, damit die andern ooch mal wat zu leiden ham.«
Banofsky stampfte ein paar Mal mit dem Fuß auf den Boden.
»Ruhe