Skandal um Zille. Horst Bosetzky
und die neue Lebenskraft produzierten sich in prächtigen Restaurants und unzähligen Tanzsälen. Juden und Nicht-Juden belachten den nicht immer geschmackvollen jüdischen Witz, die Orchester unter ihren berühmten Dirigenten entzückten die feineren Ohren. Eine kostbare Theaterkunst, über die Max Reinhardt herrschte, breitete einen goldgesponnenen Zauberschleier über allem aus.
Banofsky steckte seine Notizen wieder ein. Die Frage war, welchen Stellenwert Heinrich Zille in dieser Welt hatte. Bevor Banofsky sie nicht wenigstens halbwegs beantwortet hatte, konnte er kein Drehbuch beginnen. Zilles Bilder hingen in vielen ernstzunehmenden Galerien, er war als Professor in die Akademie der Künste aufgenommen worden – und er hatte viel getan, um auf die elende Lage des fünften Standes aufmerksam zu machen. Andererseits hatte er viele Auftragsarbeiten angefertigt, die in ihrer Rührseligkeit seiner Absicht der Aufklärung auf fast schon ärgerliche Art und Weise zuwiderliefen. Und er hatte sich vor zu viele Karren spannen lassen. Angefangen von seinen Zirkusplakaten – Wohin gehen wir denn heute? In den Circus Busch, Bahnhof Börse – bis hin zu den Zille-Bällen. Wie hatte man in einem Lied gelästert? Selbst Frau Hofrat Trumm / läuft als Nutte rum. Unangebracht fand Banofsky auch die Werbung für die Zille-Zigaretten: Ich rauche nur meine eigene Marke: Heinrich Zille, 5 Pfennige. Das Volk liebte ihn, aber liebte er sich auch selbst? Und wenn sein Herz wirklich ganz weit links schlug, warum hatte er in der Politik nie eine Rolle zu spielen versucht? Käthe Kollwitz hatte in dieser Hinsicht schon mehr bewirkt, obwohl auch sie nie in die SPD oder die K PD eingetreten war. Es gab noch eine Menge herauszufinden.
Die nächste 76 kam herangerollt und hielt. Cilly? Da war sie! Banofsky eilte hin, sie in die Arme zu schließen.
»Ich musste noch ein Ballkleid zu Ende nähen.«
»Aber nicht für den Zille-Ball?«
»Nein, für den Presseball.«
Sie eilten in die Garderobe. Als sie dort ihre Mäntel abgelegt hatten und ein wenig später aus den Umkleideräumen herauskamen, präsentierte sich Banofsky als Budiker in Hemdsärmeln und blauer Schürze, Cilly trat als Harfenjule auf. Dabei hatte sie sich so hässlich gemacht, dass er zumindest an diesem Abend keine Angst vor aufdringlichen Kavalieren und Hahnenkämpfen haben musste. Sie nahmen ihre Plätze oben auf dem Rang ein und warteten gespannt auf den Beginn des Programms.
»Hier habe ich vor vier Jahren beim Sechstagerennen gesessen«, erinnerte sich Banofsky. »Damals haben Richard Huschke und Franz Krupkat ihren Weltrekord aufgestellt, insgesamt 4544,2 Kilometer sind sie gefahren. Eine Zahl, die ich nie vergessen werde.«
Cilly schüttelte den Kopf. »Womit ihr Männer euch so eure Gehirnzellen füllt!«
»Und womit füllt ihr sie?«, fragte Banofsky zurück.
»Wir träumen von Männern wie diesem …« Cilly deutete auf den Schauspieler, Kabarettisten und Komiker Harry Lambertz-Paulsen, der gerade an der Seite von Claire Waldoff die Halle betreten hatte und mit einigem Applaus begrüßt wurde.
»Der Weg der Tränen”, spottete Banofsky und zählte noch eine Reihe von Filmen auf, um Cilly zu beweisen, dass er Lambertz-Paulsen nicht unbedingt als nächsten Träger des Iffland-Ringes vorschlagen würde. »Harry lernt Radfahren, Harry wird Familienvater, Harry als Wachsfigur …«
Cilly sah ihn prüfend an. »Kann es sein, dass du ein wenig neidisch auf Lambertz-Paulsen bist?«
»Ein wenig nur?«
»Dann schreib doch für deinen Zille-Film eine Rolle, die nur du spielen kannst.«
Banofsky überlegte einen Augenblick. »Das könnte nur Heinrich Zille selber sein.«
»Mit dem hast du so viel Ähnlichkeit wie … wie …« So schnell wollte ihr kein passender Vergleich einfallen.
»… die Harfenjule mit Königin Luise«, half Banofsky ihr.
»Bei Männern fällt dir aber nichts ein!«
Banofsky überlegte. »So viel Ähnlichkeit wie … wie Siegfried mit Napoleon oder Bismarck mit Toulouse-Lautrec.«
»Wer is’n das?«
»Ein französischer Maler.«
»Womit wir wieder bei Zille wären.«
Wie auf Stichwort erschien ebender in diesem Augenblick im Sportpalast. Ein Begeisterungssturm brach los. Banofsky war beeindruckt. Claire Waldoff lief auf Zille zu und umarmte ihn.
Banofsky, der auch mit Bertolt Brecht befreundet war, kannte schon einige Songs aus dessen Dreigroschenoper, die bald Premiere haben sollte, und sang leise:
Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte die im Dunkeln sieht man nicht.
Er wollte darüber nachdenken, wie sich Brechts Erkenntnis auf Heinrich Zille übertragen ließ: War der Maler ins Licht gekommen war, indem er die im Dunkeln gezeichnet hatte? Doch da setzte die Musik ein. Arthur Guttmanns Jazz-Symphonikern oblag die Eröffnung, weitere zehn Kapellen waren angerückt.
Banofsky und Cilly warteten noch ein Weilchen, dann wagten sie sich in den Innenraum. Die Stimmung stieg langsam, und eine der Kapellen heizte sie mit Berliner Liedern noch an. Sie spielte Durch Berlin fließt immer noch die Spree und Im Grunewald, im Grunewald is Holzauktion sowie den Rixdorfer. Cilly sang kräftig mit, obwohl sie den Text nicht richtig kannte:
Uff den Sonntag freu ick mir, ja, dann jeht et raus zu ihr, feste mit verjnüchtem Sinn, Pferdebus nach Rixdorf hin.
Banofsky konzentrierte sich derweil auf die Rutschbahn, die mitten in der Arena aufgebaut war. Die Mädchen zeigten hier juchzend, was sie gewöhnlich in der Öffentlichkeit schamhaft versteckten. Und auch sonst war man nicht prüde. Wer als Draufgänger auf den Treppen zwischen den Sitzreihen einem hübschen Mädchen begegnete, zögerte nicht, seine Hand klatschend dort landen zu lassen, wo der Rücken endete. Der Begleiter des Mädchens rächte sich sofort, indem er seinerseits die Partnerin des anderen beklatschte oder auch nur gutmütig drohend ausrief: »Det mach mal jefälligst bei deina Ollen, sonst fühlt se sich zurückjesetzt!« Damen aus den höheren Ständen, denen man ansah, dass sie einen solch handgreiflichen Spaß nicht verstanden, wurden verschont. Banofsky bekam unterdes eine Menge filmreifer Dialoge zu hören.
»Na, Kleene, suchste mir oder mich?« – »Nee, meinen Bruder suche ich!« – »Soll ich suchen helfen – oder biste schon vajeben?« Die Musik brach ab, Paukenschläge dröhnten durch die Arena, dann ein Tusch – und alles rief: »Hoch Zille! Hoch Vater Zille!« Der hatte in seiner Eckloge beim Signieren gesessen, erhob sich nun und winkte in die Menge. An der Bande, gegen die sonst die Eishockeyspieler krachten, hatten sich Hunderte aufgebaut, um sich Bücher und Zeichnungen von Zille signieren zu lassen oder ihm auch nur ein Programmheft, den Pappteller für ihre Bockwurst oder eine Papierserviette hinzuhalten.
»Da kannst du bis Mitternacht anstehen, bevor du dran bist«, musste Banofsky feststellen.
Cilly versuchte, es mit Humor zu nehmen. »Ruf doch ganz laut, dass du in Die Verrufenen mitgespielt hast, dann lassen dir die anderen bestimmt gern den Vortritt.«
»Die treten mir eher in den Hintern.«
»Dann tanzen wir und sehen nachher weiter.«
Es wurde fast Mitternacht, ehe sich Banofsky noch einmal vor Zilles Eckloge anstellte. Die Schlange vor ihm war nun überschaubar, seine Hoffnung wuchs. Doch als er in Hörweite war, hörte er Zille rufen: »Nu jeht’s nich mehr!« Daraufhin gaben einige auf, dafür aber drängten andere heran.
Banofsky stieß sie beiseite. »Herr Zille, ich will kein Autogramm, ich will nur ein Treffen mit Ihnen ausmachen!«
Zille hob abwehrend die Hände. »Nee, nu is endjültig Schluss! Wenn ick für jedet Autogramm ’ne Mark kriegen würde, hätte ick vielleicht mehr, als wie ick dafür kriege, dass se mit meim Namen krebsen gehen.«
Banofsky flehte ihn geradezu an: »Herr Professor Zille, ich will doch nur …«
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