Skandal um Zille. Horst Bosetzky
ein winziges Zimmer in der Köpenicker Straße leisten und musste nicht verhungern. Außerdem verdiente seine Freundin Cilly als Schneiderin auch ein bisschen was.
Als Banofsky Mitte Januar 1928 über das Filmgelände der U FA in Berlin-Tempelhof schlenderte, geschah dies nicht in der Erwartung, womöglich für einen plötzlich erkrankten Statisten einspringen zu können, sondern in der Hoffnung, Thea von Harbou zu treffen, die er in seiner Woltersdorfer Zeit aus der Ferne angehimmelt hatte. Sie hatte ihre Karriere zwar als Schauspielerin begonnen, war aber als Schriftstellerin bekannt geworden. Zu ihrer wahren Berufung sollten Drehbücher werden. Für Joe May hatte sie die erste Fassung von Das indische Grabmal geschrieben und für Erich Pommer das Drehbuch zu Dr. Mabuse, der Spieler. Regie hatte dort ein gewisser Fritz Lang geführt. Mit dem war sie inzwischen verheiratet, wenn es auch hieß, in ihrer Ehe krisele es anhaltend.
Banofsky wusste, dass Thea von Harbou in den Drehpausen gern an den Gleisen der Ringbahn spazieren ging, von wo aus man einen herrlichen Blick auf das Tempelhofer Flugfeld und die Türme der Berliner Innenstadt hatte. Er plante seinen Rundgang so, dass er ihr über den Weg laufen musste. Banofsky hatte ein Exemplar seines Romans bei sich, versehen mit einer anrührenden Widmung. Als Thea von Harbou ihm dann tatsächlich begegnete, stellte er sich vor und überreichte ihr mit einer kleinen Verbeugung das Buch.
»Oh …« Die Schauspielerin wurde zu oft von fremden Männern angesprochen, um wirklich überrascht zu sein.
»Ich bin gelernter Zimmermann«, erklärte Banofsky ihr, »und habe in Woltersdorf als Kulissenbauer gearbeitet, auch kleine Rollen habe ich schon gespielt. Eigentlich bin ich aber Schriftsteller. Sie sind mein Vorbild, denn ich trage mich mit dem Gedanken, auch einmal ein Drehbuch zu schreiben.«
»Machen Sie das! Sie müssen nur ein Thema finden, das die Produzenten vom Hocker reißt.« Thea von Harbou überlegte einen Augenblick, was sie Banofsky raten könnte. »Soll ich Ihnen nun Mut machen oder Ihnen sagen, dass das ein ziemliches Lotteriespiel ist – mit wenig Gewinnen und vielen Nieten? Ich empfehle Ihnen, sich auf einen Roman zu stützen, aus dem man einen guten Film machen kann, oder sich eine Berühmtheit zu suchen, deren Leben danach schreit, endlich verfilmt zu werden.«
Diesen Ratschlag hatte Banofsky befolgt und sich per Telephon mit Kurt Tucholsky verabredet. Sie kannten sich aus der Gruppe Revolutionärer Pazifisten, der Banofsky kurzzeitig angehört hatte. Als Treffpunkt hatten sie ein Café am Kleinen Tiergarten gewählt, das an der Straße Alt-Moabit lag. Tucholsky war ganz in der Nähe, Lübecker Straße Nr. 13, zur Welt gekommen und wollte noch einmal die Stätten seiner Kindheit sehen, bevor er womöglich für immer nach Schweden ging. Banofsky hatte in der Sickingenstraße etwas zu erledigen gehabt und ging nun die Rostocker Straße Richtung Süden entlang, um auf die Turmstraße zu stoßen und dann die Straße Alt-Moabit zu erreichen.
Kurz vor der Wittstocker Straße stutzte er. Der ältere Herr, der da stand, das war doch … Heinrich Zille! Er hielt einen großen Skizzenblock in der Hand und zeichnete das Eckhaus. Eine Meute von Kindern aller Altersklassen umringte ihn. In der zweiten und dritten Reihe hatten sich etliche Erwachsene eingefunden.
»Pinselheinrich is hier und malt dit Haus, in dem ick wohne!«, rief eine Zehnjährige.
Banofsky, von Natur aus neugierig, kam näher heran. »Was führt Sie denn hierher, Herr Professor?«
»Jetzt, da ich siebzig jewor’n bin, kehre ick noch mal an die Stätten zurück, wo ick wat alebt habe. Hier ham se mir beim Kohlenarbeitastreik fast jetötet. 1910 war det, da hab ich um een Haar ’n Blumentopp uff’n Kopp jekricht.«
Banofsky nickte und ging weiter. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, dass Zille bei den Erwachsenen eine Sammelbüchse herumgehen ließ. »Für die Armen, die ick untastütze!«
Banofsky kam das seltsam vor. Noch nie hatte er gehört, dass Zille selber sammelte. Johannes Banofsky war Schauspieler und Schriftsteller, weshalb er sich gut in andere Menschen hineinversetzen konnte – und in diesem Moment sagte ihm sein Instinkt, dass hier nicht der echte Pinselheinrich am Werk war. Der Mann trat offensichtlich als Zille auf, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Aber Banofsky war ein viel zu gutmütiger Mensch, um die Polizei zu rufen. Außerdem wartete Tucholsky auf ihn.
Der begrüßte ihn freundschaftlich und erzählte ihm sogleich von seinem Reisebericht Ein Pyrenäenbuch und dem geplanten Sammelband Mit 5 PS. Auch hatte er eine neue Frau kennengelernt, Lisa Matthias, und wollte sich von Mary trennen.
»Irgendwann gehe ich sowieso nach Schweden«, erklärte Tucholsky.
»Sie wollen Deutschland sich selbst überlassen?«, rief Banofsky.
»Richtig zu resignieren ist eine hohe Kunst. Ach … Die Bürokratie in Deutschland ermüdet mich. Es sitzen noch immer diejenigen an den Schalthebeln, die dem Kaiserreich nachtrauern und der Weimarer Republik den Garaus machen möchten. Für mich gibt es nur eine Lösung: Umwälzung, Generalreinigung, Aufräumung, Lüftung! Die deutsche Revolution steht noch aus. Was habe ich vor kurzem den Obdachlosen zugerufen? Wohltaten, Mensch, sind nichts als Dampf. / Hol dir dein Recht im Klassenkampf!”
Sie diskutierten eine Weile darüber, ob die K PD, der sich Tucholsky immer mehr annäherte, in Deutschland jemals an die Macht kommen konnte und ob Tucholsky, wenn er wirklich nach Schweden emigrierte, so etwas wie Fahnenflucht beging. Dann kamen sie auf Banofskys Probleme zu sprechen.
»Ich bin der Prototyp der freischwebenden Intelligenz, ich irrlichtere nur so umher, und vor kurzem ist mir der Gedanke gekommen, ein Drehbuch zu schreiben. Der Tonfilm scheint gerade den Stummfilm abzulösen, wie man an The Jazz Singer von Warner Brothers sehen kann. Thea von Harbou, die ich flüchtig kenne, hat mir den Rat gegeben, nach einem Roman zu suchen, der sich zu einem Drehbuch umschreiben lässt. Ich dachte mir, am besten befrage ich Sie dazu. Das Thema sollte etwas mit Berlin zu tun haben, weil ich mich nur hier richtig gut auskenne.«
Tucholsky überlegte. »Was haben wir an Berlin-Romanen … Zuerst fallen mir Lemkes sel. Witwe von Erdmann Graeser und Die Familie Buchholz von Julius Stinde ein.«
Banofsky winkte ab. »Das ist mir alles zu idyllisch.«
»Und wie wäre es mit Georg Hermanns Jettchen Gebert?«
»Vom Judentum verstehe ich zu wenig.«
»Man erzählt sich, dass Erich Kästner, Gabriele Tergit und Alfred Döblin an großen Berlin-Romanen sitzen, aber wer weiß, wann die fertig sind …« Tucholsky dachte weiter nach. »Muss die Vorlage für ihr Drehbuch unbedingt ein Roman sein? Warum denken Sie sich nicht selber etwas aus?«
»Mir fehlt die nötige Phantasie dazu«, musste sich Banofsky eingestehen »vielleicht auch nur die Geduld. Am liebsten wäre mir eine Biographie, die Geschichte einer großen Frau oder eines großen Mannes.«
»Ich scheide da aus!«, rief Tucholsky mit der nötigen Portion Selbstironie. »Aber nehmen Sie doch einen Freund von mir, dem ich gerade zu seinem siebzigsten Geburtstag geschrieben habe, er sei Berlins Bester: Heinrich Zille.«
Hinter ihm wurden die eisernen Tore zugeknallt. Es klang wie der Schuss aus einem Mörser. Unwillkürlich duckte sich Gustav Budenstieg. Aber warum sollten sie ihn erschießen? Diesmal hatten sie ihn wegen guter Führung sogar zwei Wochen früher entlassen. Budenstieg blieb noch einmal stehen. Sein Blick ging zurück. Der Backsteinklotz des Strafgefängnisses Tegel ragte in den grauen Winterhimmel. Er war ihm zur eigentlichen Heimat geworden. Im Haus III hatte er schon achtmal seine mehr oder minder lange Strafe abgesessen. Eigentlich hätte man für ihn an der Pforte eine Drehtür statt der eisernen Tore anbringen müssen. Eine Weile hatte er die Zelle mit Wilhelm Voigt geteilt, dem sogenannten Hauptmann von Köpenick. Der war am 16. August 1908 vorzeitig entlassen worden, Kaiser Wilhelm II. hatte ihn begnadigt. Des Öfteren träumte Budenstieg von einem solchen Coup wie der »Köpenickiade«, die ein großes Echo hervorgerufen hatte. Er dachte nach. Weswegen hatte er bisher eingesessen? Wegen Leistungserschleichung, Sachbeschädigung, Raub und Diebstahl, Landfriedensbruch sowie schwerer Körperverletzung. Nicht viele hatten eine solch lange Liste von Vorstrafen aufzuweisen. Seine Freunde wurden