Skandal um Zille. Horst Bosetzky
zu treffen und zu entlarven. Das schien ihm die leichteste Methode zu sein, Rummler den nötigen Beweis für seinen Verdacht zu liefern.
Am 4. Februar schien er endlich Glück zu haben. Er ging die Friedrichstraße Richtung Norden entlang und hatte vor, am Oranienburger Tor in die Linienstraße einzubiegen und bis zum Rosenthaler Platz zu laufen – von den Berlinern gern Blasenthaler Rotz genannt, da in dieser Gegend viel von Zilles »Milljöh« zu finden war. Karl-Heinz lief einen Meter hinter ihm.
Auf der Weidendammer Brücke blieb Kowollek stehen und sah auf das trübe Wasser der Spree hinunter. Er hatte in den letzten Tagen alle Zeitschriften und Bücher durchgeblättert, in denen sich Zilles Zeichnungen finden ließen, und nun stand ihm diejenige vor Augen, die er für die beste hielt: Ins Wasser aus dem Band Kinder der Straße. Eine Mutter will mit ihrem Kind zusammen Selbstmord begehen, die Kleine fragt ängstlich: »Mutter, is’s ooch nich kalt?«, und die Mutter antwortet: »Sei ruhig, die Fische leben immer drin!«
Ins Wasser »Mutter, is’s ooch nich kalt?« – »Sei ruhig – die Fische leben immer drin.«
»Willste hier baden?«, fragte Karl-Heinz.
»Nein, gehen wir weiter!«
Nach ein paar hundert Metern kamen sie an einem der merkwürdigsten Gebäude Berlins vorbei, dem Großen Schauspielhaus, wie es jetzt genannt wurde. Kowollek hatte erst neulich etwas darüber geschrieben. Ursprünglich war es von 1865 bis 1867 als erste Berliner Markthalle nach Plänen des berühmten Oberbaurats Friedrich Hitzig gebaut worden. Niemand aber wollte in dieser Halle so recht kaufen, und sie ging bankrott. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 / 71 nutzte die preußische Heeresleitung das Gebäude als Nachschubarsenal. Von 1873 bis 1897 fanden in dem Bau Zirkusvorführungen statt, unter anderem die von Ernst Renz und seinem Sohn. Es folgte – wenn auch abermals ohne positive Bilanz – eine Zeit als Revuetheater, bis es Albert Schumann erneut mit einem Zirkus versuchte. Nach Ende des Großen Krieges war dann Max Reinhardt auf den Plan getreten, hatte das Haus von Hans Poelzig zum Großen Schauspielhaus umgestalten lassen – zur »Tropfsteinhöhle«, wie die Berliner lästerten – und Aischylos auf die Bühne gebracht. Aber auch das war nicht lange gutgegangen, und nun präsentierten Erik Charell und andere hier ihre Revuen.
Kowollek überlegte, ob man aus der Geschichte des Gebäudes nicht ein Buch machen könnte. So war er ein wenig abwesend, als sie am Oranienburger Tor ankamen.
»Nanu, wat is denn hier los?«, hörte er den Photographen hinter sich rufen.
Sie sahen einen Menschenauflauf. Kowollek drängte sich durch die Menge. Als Reporter hatte er das Recht, alle zur Seite zu stoßen. Dann stand Heinrich Zille vor ihm. Oder war das einer der Doppelgänger, nach denen er so lange gesucht hatte? Der Mann hielt einen Skizzenblock in der Hand, auf dem Kowollek einen gezeichneten Lumpensammler erkannte. Jetzt hob er eine Sammelbüchse vom Boden auf und schüttelte sie lautstark.
»Spenden Sie für das Waisenhaus in der Ackerstraße!«
In diesem Augenblick sprang ein Kerl auf Zille zu und riss ihm die Sammelbüchse aus der Hand. Kowollek war nun weniger an diesem Räuber interessiert als an Heinrich Zille – oder wer immer es war. Der Mann mit dem Skizzenblock wirkte nicht zerbrechlich, sondern war ein kräftiger Siebzigjähriger. Kowollek wollte ihn packen und zur nächsten Polizeiwache schleppen, doch in dem allgemeinen Durcheinander, das entstanden war, stieß jemand Kowollek zu Boden, und dann trat ihm auch noch jemand so heftig in die Nieren, dass er kurzzeitig das Bewusstsein verlor.
Als er sich wieder aufgerappelt hatte, war der offensichtlich falsche Zille längst verschwunden. Dennoch – und trotz seiner Schmerzen – hätte Kowollek jubeln können. Er war auf der richtigen Spur!
Johannes Banofsky hatte zwar Heinrich Zille noch nicht persönlich sprechen können, war aber bereits dabei, alles über den »Pinselheinrich« zu sammeln, was sich in den Zeitungsarchiven auftreiben ließ. Über den ersten »Hofball bei Zille«, den es am 21. März 1925 im Großen Schauspielhaus gegeben hatte, war im Berliner Tageblatt in schönstem Berlinerisch zu lesen gewesen:
Awa det Scheenste am Abend, det war janz hinten, in eener Losche, da saß son janz stilla, janz bescheidena oller Mann in jrauen Haaren, mit’n jrauen Anzuch, der kiekte sich, janz in die Ecke jedrückt, den Zimt an. Det war der Meester Zille selba, janz valejen, det die son Radau um ihn machen (…) Jeschwooft wurde bisn Morjen, et warn massenhaft Leute zujejen, uff Zillen uffjemacht, ick erwähne nur Ejon Erwin Kisch, der det verrückte Buch von den rasenden Reporter jeschrieben hat. (…) Im jrauen Morgen dusselte man iwa die Bricke, lang die Friedrichstraße, allens, wat man da sah, war von Zillen entworfen, un vaniejt det eene Ooche in die Morjenröte, det andere schon im Bette, singt man det scheene Lied: »Der Kellner hat’s Delirijum, die Wirtin latscht ins Hemde rum, die Jäste, die sin knille.«
Nun wurde zum vierten »Hofball bei Zille« geblasen, diesmal im Sportpalast. Die Eintrittspreise lagen zwischen 12,50 und 50,00 Reichsmark, den Wohlfahrtszuschlag eingeschlossen. Das war eine Menge Geld für Banofsky und seine Freundin. Eigentlich hätten sie sich die Eintrittskarten gar nicht leisten können, aber Cilly hatte einen goldenen Ring, ein Erbstück, in die Pfandleihe getragen.
Banofsky stand in der Potsdamer Straße und wartete auf Cilly, die eigentlich Cäcilie hieß. Sie hatte ursprünglich Schneiderin gelernt, aber auch einige Jahre die Hochschule der Künste besucht und Kostümbild studiert, ohne in einem Theater oder einer Filmfirma eine feste Anstellung zu finden. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie, indem sie gelegentlich für Damen der höheren Stände Kostüme und Ballkleider schneiderte.
Straßenbahn auf Straßenbahn kam angerauscht und hielt vor dem Sportpalast. Hunderte stiegen aus, nur Cilly war nicht dabei. Langsam wurde Banofsky unruhig. Hübsch, wie seine Freundin war, wurde sie immer wieder angesprochen, und es sollte Männer geben, die nicht nur was hermachten, sondern im Gegensatz zu ihm auch noch eine Menge Geld verdienten. Banofsky ging ein wenig auf und ab, um sich zu beruhigen. An einigen Wänden hingen noch die Plakate vom Boxkampf Max Schmeling (Berlin) gegen Michele Bonaglia (Italien). Er kannte Leute, die sich zwar über den Sieg Schmelings riesig gefreut hatten, aber dennoch anhaltend fluchten, weil man den Kampf auf fünfzehn Runden angesetzt hatte, der Italiener aber schon in der ersten Runde K. o. gegangen war.
Plötzlich prallte Banofsky mit einem Mann zusammen, der ungefähr in seinem Alter sein mochte. Erst wollten sie sich anschreien – »Passen Sie doch auf, Sie Trottel!« –, dann aber erkannten sie sich und lächelten. Banofsky stand Fred Hildenbrandt gegenüber, dem Feuilletonchef vom Berliner Tageblatt.
»Was denn?« Banofsky staunte. »Sie als kulturell hochstehender Mensch bei dieser Schlimmer-geht’s-nimmer-Veranstaltung?« Um Banofsky zu zeigen, wie weit über ihm er angesiedelt war, antwortete Hildenbrandt mit Zeilen aus dem Faust. »Greift nur hinein ins volle Menschenleben! / Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, / Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.« Banofsky lächelte. »Ja, ja, wir leben in goldenen Jahren …« Hildenbrandt holte aus zu einem kleinen Exkurs. »In der Tat, es sind große und goldene Jahre für Journalisten, Schriftsteller, Theaterdirektoren, Redakteure, Regisseure, Schauspieler und Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Tänzer, Kabarettisten, Maler, Bildhauer, Zeichner, Musiker … Sehen Sie sich doch um, überall sind sie zu finden: in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, Theatern, Buchhandlungen und Antiquariaten, in ihren Varietés und Kabaretts, ihren Ateliers, ihren billigen und teuren Kneipen, Destillen, Restaurants und Cafés. Da sitzen sie zusammen – unter sich wie mit ihren Gästen, Lesern, Zuschauern und Zuhörern und quatschen, philosophieren, politisieren, genießen, schlucken, trinken, saufen, fressen … Das sind wir, wir auf unseren Inseln, aber außerhalb unserer Welt. Da tobt ein erbitterter und gnadenloser Kampf um Geld und Macht, da geht es um Existenz oder Untergang.«
»Wie bei Zilles fünftem Stand«, warf Banofsky ein.
»Genau …« Damit verabschiedete sich Hildenbrandt. Banofsky stellte sich in einen Hauseingang und notierte sich, was Hildenbrandt gesagt hatte, denn sein Zille-Film musste diese Berlin-Atmosphäre