Das Intrigenlabyrinth. Gaby Peer
die Glieder gefahren, denn er liebte seine Schwiegermutter wie eine eigene Mutter. Sie war eine liebenswerte und sehr hilfsbereite Frau, die sich nie einmischte und ihnen die Kinder sehr oft abnahm, damit sie ihr Eheleben pflegen konnten. Sie war also alles andere als ein „Schwiegermonster“.
Da Jens das Verhältnis zu seinen Eltern eher als schlecht bezeichnen würde, war er umso dankbarer für eine unkomplizierte Schwiegermutter. Er fühlte sich ihr verbunden, weil er von ihr all das bekam, was er sich von seinen Eltern immer so sehr gewünscht hatte. Margot schenkte ihm vom ersten Tag ihres Kennenlernens an Aufmerksamkeit, Interesse an seinem Leben, Wärme, Liebe und viel Zeit für gute Gespräche. Vor allem liebte Jens Margots Humor.
Celine wollte aber nicht, dass er kam, denn sie wusste, wie wichtig der Tag für ihn war. „Du kannst ja auch nichts ändern. Bring deine Sache zu Ende und komm morgen nach. Ich fahr mit den Kindern schon mal vor.“
„Es ist mir nicht recht! Ich möchte bei euch sein.“
„Nein, Jens, bitte reg mich nicht noch mehr auf, ich zittere so schon am ganzen Leib. Mach es einfach so, wie ich es gesagt habe – ich halte dich auf dem Laufenden, versprochen! Ich warte, bis die Kinder von der Schule kommen – ich möchte keine Panik verbreiten und muss auch noch ein paar Sachen zusammenpacken. Ich weiß ja nicht, wie lange ich dort bleiben werde.“
„Fahr bitte vorsichtig.“ Jens musste sie ziehen lassen, er kannte Celine zu gut. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es völlig sinnlos zu versuchen, ihre Meinung zu ändern. Er war ohnehin wie gelähmt von den schlimmen Vorkommnissen an diesem Morgen.
Also gab es nur einen Weg. Wie eine Marionette verkündete er vor den Herren Arnauld und Melzer den von Charlene gewünschten Text. Herr Melzer fiel fast von seinem Stuhl, sein Gesicht wurde innerhalb von Sekunden zum Leuchtturm, die Brille rutschte ein ganzes Stück seine Nase hinunter und er war sprachlos – er sagte einfach gar nichts! Das war für Herrn Melzer so ungewöhnlich wie ein Eskimo, der sich einen Kühlschrank kauft – eine undenkbare Situation! Herr Arnauld war ebenfalls sehr erstaunt. Beide redeten dann mit Händen und Füßen auf ihn ein, aber Jens konnte sich nur auf das ironische Lächeln von Charlene konzentrieren, die hinter den sitzenden Herren, gegenüber von Jens in lockerlässiger Haltung dastand und ihm warnende Blicke zuwarf.
An den Heimweg konnte er sich nur schemenhaft erinnern und auch nicht an die ersten Stunden zu Hause. Er hatte sich wohl gleich etwas aus der Bar geholt und getrunken. Irgendwann rief Celine an und gab Entwarnung – Margot war außer Lebensgefahr, aber um einen Herzschrittmacher würde sie nicht herumkommen. Auf Celines Frage, wie es bei ihm gelaufen sei, antwortete er nur einsilbig, dass er ihr später alles erzählen werde, was sie sehr verwunderte, weil die beiden stets einen regen und ausführlichen Austausch von Erlebnissen und Gedanken pflegten. Aber sie schien sich zusammenzureimen, dass er noch Besprechungen mit Herrn Arnauld hatte und ziemlich unter Dampf stand.
Jens war sehr erleichtert, dass es Margot besser ging und Celine sich so leicht zufriedengab, trank aber langsam und kontinuierlich weiter. Er konnte es nicht fassen, was ihm da widerfahren war. Die ganze Arbeit, Müh und Plag, die bösen Worte und Erniedrigungen, die er ausgehalten hatte … alles umsonst. Wie konnte er nur so blind und gutgläubig sein? Warum hatte er nichts von Charlenes Plänen gemerkt? Alles vorbei – aus und vorbei. Jetzt sollte er ihr Assistent sein. Wie sollte das funktionieren? Wie stellte sie sich das vor? Sie konnte doch nicht im Ernst glauben, dass er bleiben würde. Aber das war ihr, nach dem heutigen Stand seines Wissens über sie, auch ziemlich egal. Sie hatte ihr Ziel erreicht und brauchte ihn nicht mehr. Sie wusste einfach alles – war clever und selbstbewusst genug, um die Führung zu übernehmen. So was gab es doch nur in schlechten Filmen! Er fühlte sich so unglaublich blöd und blauäugig. Wie sollte er jemals wieder zu irgendjemandem Vertrauen haben können? Warum hatte er Celines Bauchgefühl keine Beachtung geschenkt? Jeder Schluck, den er trank, steigerte seine Wut auf Charlene.
Irgendwann klingelte es an der Haustür. Seine Entscheidung war ganz klar: NICHT aufmachen! Aber der klingelnde Mensch schien das nicht zu begreifen. Voller Wut versuchte er einigermaßen aufrecht stehend die Haustür zu öffnen und wollte schon in der Bewegung losschimpfen. Da stand eine ganz verdatterte Joy mit einer Reisetasche, die nicht glauben konnte, was sie sah. Jens, völlig betrunken, nicht einmal in der Lage, anständig Hallo zu sagen!
„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie kichernd. Joy war Magdalenas Busenfreundin und hatte mindestens die Hälfte ihres Lebens, wenn nicht sogar mehr, im Dornbacher Haushalt verbracht. Sie war sozusagen das vierte Kind.
„Die Frage ist eher, was du hier möchtest?“, fragte Jens fast unfreundlich.
Joy erschrak etwas, weil Jens sonst immer sehr freundlich und fröhlich war und sie wie ein Vater behandelte. „Magdalena und ich wollten heute Abend lernen und einen Film anschauen – es war ihre Idee!“, rechtfertigte sie sich.
„Magdalena und auch alle anderen sind nicht da. Sie sind bei Margot in Wiesbaden. Sie hatte einen Herzinfarkt und sie mussten in aller Eile los. Da hat Magdalena dich bestimmt total vergessen.“
„Oje, das tut mir leid. Wie geht es Omi?“ Auch Joy nannte sie Oma, das wollte Margot so, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlte. Joy hatte keine eigene Oma.
„Außer Lebensgefahr!“, murmelte Jens und wollte einfach nur wieder auf seinem Sofa sitzen, weil die Beine ankündigten, dass sie wohl sehr bald ihren Dienst versagen würden.
„Und jetzt?“, fragte Joy. „Meine Mum ist zum Arbeiten gefahren und du kannst mich ja wohl in deinem Zustand nicht nach Hause fahren.“
„Ja, komm rein, du kannst ja trotzdem in Magdalenas Zimmer schlafen.“
Joy hatte sich zu ihm ins Wohnzimmer gesetzt, wo sie sich unterhielten. Daran konnte Jens sich am nächsten Morgen noch ziemlich deutlich erinnern. Er wusste auch noch, dass er trotz des bereits katastrophalen Zustandes immer weiter getrunken hatte.
Joy war eine fröhliche und selbstbewusste Sechzehnjährige, die in letzter Zeit immer wieder mit Jens geflirtet hatte. Er hatte sich immer köstlich darüber amüsiert. Heute Abend war das Gefühl irgendwie ein anderes. Er spürte eine Wut hochschäumen und erwischte sich dabei, wie er dachte, dass sie dieser Charlene doch sehr ähnlich war. Nicht nur äußerlich …
Joy fand seinen Zustand unheimlich lustig und reizte ihn sehr wahrscheinlich ganz unbewusst. Jens trank weiter … und wurde innerlich immer wütender – seine ganze Enttäuschung und seine verletzte Seele nahmen mit zunehmender Betrunkenheit ungeahnte Maße an.
Ja, das war sein allseits bekanntes Problem, weswegen Jens nur selten und dann auch nur wenig Alkohol trank. Er wurde aggressiv und unberechenbar. Er verlor komplett die Kontrolle und es war in seiner Jungend auch schon oft genug zu Handgreiflichkeiten gekommen. Seine Freunde zogen ihn damit gerne auf. Andere wiederum konnten nicht nachvollziehen, dass sich ein so liebenswerter, friedlicher Mensch unter Alkoholeinfluss so extrem verändern kann. Celine sagte einmal, dass es so sei, als ob ein vollkommen anderer Mensch – ein fremder Mensch – vor ihr stehe. Als ob sich ein Engel in ein Monster verwandele.
Jetzt musste Jens sich wirklich unglaublich anstrengen, um die Geschehnisse von gestern Abend zu rekonstruieren. Ja, irgendwann saß da nicht mehr Joy mit sehr knappen Hotpants und einem viel zu tiefen Ausschnitt in einem aufreizenden Schneidersitz auf dem Sofa, sondern Charlene. Ihr Lachen war plötzlich nicht mehr das bis dahin gern gehörte, freche Lachen, sondern Charlenes fieses, spöttisches Siegerlachen.
Jens stand auf und schwankte sehr, was Joy noch mehr belustigte und Jens noch mehr reizte. Dann sah er sich plötzlich auf „Charlene“ zustürzen und sie mit allen Kräften, die ihm noch zur Verfügung standen, vergewaltigen. Immer wieder keuchte er: „So, jetzt hab ich dich wirklich vergewaltigt – jetzt hast du das, was du verdient hast, du elendes Luder!“ Ganz deutlich sah Jens die Szene plötzlich vor sich und ihm wurde schwarz vor Augen. Verdammt, ich habe Joy vergewaltigt!
Mühsam sammelte er seine Kräfte und schob den geschundenen Körper die Treppe hoch, um in Magdalenas Zimmer nach Joy zu schauen. Natürlich war sie da nicht. Doch wohin konnte das Kind nur mitten in der Nacht gegangen sein? Die Mutter war Krankenschwester und