Das Intrigenlabyrinth. Gaby Peer
und frisch anziehen musste! Ich werde zum Psycho! Ich werde immer wieder Albträume haben! Ich werde nie mehr mit einem guten Gefühl in den Wald können. Ich werde keinen Tag mehr ohne Schuldgefühle haben – egal wie das Ganze ausgeht.
Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Joy etwas passiert sein musste. So wie er sie kannte, würde sie doch ihrer Mutter, für die sie immer mehr die Führer- und Beschützerrolle übernahm, diese Sorgen nicht antun. Sie musste tatsächlich irgendwo so liegen, wie er es in seinem Traum gesehen hatte … Nur dass sicher nicht er der Mörder war. Aber er hatte sie auf jeden Fall aus dem sicheren Haus vertrieben! Wieso hatte sie aber auch so aufreizend dagesessen und wieso sah sie Charlene so ähnlich? Sogar ihre Art zu lachen, ihr Bewegungsablauf … Alles war so identisch gewesen. Dass er überhaupt zu solchem Hass fähig war, den er in dem Moment empfunden hatte, entsetzte ihn immer noch. Der verdammte Alkohol!
Andererseits war es ja auch wirklich keine Kleinigkeit, die sich Charlene geleistet hatte. Sie hatte von einer Sekunde zur nächsten seinen beruflichen Lebensplan zerstört, für den er sehr hart gearbeitet und unheimlich viel Verzicht geübt hatte. Dass er mit einem Menschen, der so schlecht, böse und berechnend war, so lange so eng zusammengearbeitet und es nicht bemerkt hatte, war doch unfassbar. Er dachte an die vielen Geschäftsreisen, die sie zusammen unternommen hatten. Beide hatten immer großes Interesse daran, auch für etwas Freizeit zu sorgen, um sich gemeinsam Sehenswürdigkeiten anzuschauen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Dabei hatten sie stundenlange Debatten geführt und sich die Köpfe heiß geredet – nicht nur über Geschäftliches. Es wurde aber auch nie zu privat. Jens dachte, Charlene wirklich gut zu kennen – er hätte für sie die Hand ins Feuer gelegt. Er hatte sich immer wohl in ihrer Gegenwart gefühlt. Wie konnte er so blind sein? Er zweifelte an seiner Menschenkenntnis! Es nützte alles nichts, er würde noch sehr lange brauchen, um das alles zu verkraften, aber momentan stand Joys Verschwinden im Vordergrund.
Er machte sich auf den Weg ins Büro und hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte, und noch viel weniger, wie die anderen sich verhalten würden. Aber es war ganz einfach! Herr Melzer und Herr Arnauld schienen sich mit dem Gedanken, dass Charlene die Position eingenommen hatte, bereits abgefunden zu haben. Mehr noch, sie schienen sehr zufrieden zu sein. Es gab gleich ein Meeting, in dem Jens die gewohnte Position des Assistenten einnahm und Charlene ganz selbstverständlich den alten Melzer-Platz. Es fühlte sich komisch an, doch alle gingen so selbstverständlich mit der Situation um, dass Jens fast dankbar war. Keine Fragen, keine komischen Blicke – nur Charlenes erster Blick sollte ihn ganz offensichtlich daran erinnern, wer am längeren Hebel saß. Aber danach war auch sie so wie immer.
Er konnte es nicht fassen, dass hinter so einer hübschen, freundlichen, warmherzigen Fassade ein solches Teufelsweib steckte. Auch spürte er Enttäuschung darüber, dass zumindest Herr Melzer nicht einmal bedauerte, dass er den Job nicht übernommen hatte. Hielt er doch nicht so viel von ihm oder war es ihm einfach egal, wie es in diesem Laden weiterging? Egal, das alles war momentan zweitrangig. Er musste dankbar sein, dass alles so einfach vonstattengegangen, er nicht in Erklärungsnot gekommen oder größerer Druck auf ihn ausgeübt worden war … So musste er jetzt einfach denken! Und Schluss! Jens versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Und so verging ein Tag nach dem anderen. Jens rief täglich mindestens dreimal mit zitternden Händen bei Clara an, mehr passierte nicht. Es war zum Verzweifeln – die Polizei suchte jetzt mit Hochdruck nach Joy und auch die Presse wurde eingeschaltet. Alle Gespräche mit Celine und den Kindern drehten sich nur um Joy. Magdalena war nur noch am Heulen und alle hatten einfach nur panische Angst vor dem Anruf, dass sie leblos gefunden wurde. Trotz aller möglichen Suchaktionen schienen sie Jens völlig ausgeklammert zu haben. Clara hatte bei der Aufgabe der Vermisstenanzeige zwar von dem Herzinfarkt und plötzlichen Aufbruch der Familie Dornbach erzählt, dass Jens aber nicht mitgefahren war, schien keinen zu interessieren. Auch ein Geschäftsessen beziehungsweise eine Feier am Abend waren für alle, Clara eingeschlossen, so selbstverständlich, dass er einfach nicht befragt wurde. Wenn herauskam, dass er zu Hause gewesen war … Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen.
Endlich war die Woche rum. Am Samstagabend gab es eine aufwendige Galaveranstaltung mit der kompletten Belegschaft, bei der die neue Geschäftsführerin gefeiert wurde. Alle Ehre, die eigentlich Jens sich verdient hatte, kam Charlene zugute. Ihm war zum Heulen zumute, aber er schaffte es irgendwie den Eindruck zu erwecken, dass das alles so vollkommen in Ordnung für ihn war. Er machte gute Miene zum bösen Spiel, und zwar sehr gekonnt und überzeugend. Magdalena musste die schauspielerische Fähigkeit von ihm geerbt haben. Bisher hatte er von diesem Talent nie etwas bemerkt. Aber er machte alles ganz automatisch – im richtigen Moment lächeln, das Richtige sagen, sich kleinmachen, wenn Charlene das Wort ergriff. Ja, es funktionierte alles erstaunlich gut.
Am meisten überraschte ihn, dass er keinen großen Hass für Charlene empfand. Das lag aber sicher daran, dass er momentan nur ein Gefühl hatte – Angst um Joy. Es gab keinen Platz für andere Gefühle. Die Schuld und Scham erdrückten ihn. Clara war ihm nie sonderlich sympathisch gewesen, was sicher an ihrem Verhalten seiner Familie gegenüber lag, aber jetzt tat sie ihm so unendlich leid. Und nun war er für sie auch noch die engste Bezugsperson. Es schien sonst keinen Menschen in ihrem Leben zu geben. Jens hatte ihr alles, was sie hatte, genommen.
Am Sonntagmorgen machte Jens sich auf den Weg ins Krankenhaus, nachdem er mit Clara gesprochen hatte. Es gab nichts Neues. Es tauchten auch keine Zeugen auf, die das Mädchen gesehen hatten. Sie war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Jens hatte Clara sogar angeboten, mit ihm zu fahren, aber sie wollte sich keinen Zentimeter vom Telefon wegbewegen, was er auch gut verstehen konnte.
Die Wiedersehensfreude war groß. Erst jetzt merkte Jens, wie sehr er seine Familie vermisst hatte. Auf der anderen Seite war es das Beste, was ihm passieren konnte, dass sie nicht zu Hause gewesen waren. Er hatte sehr schlimme Tage und Nächte hinter sich. Der Versuch, ohne Schlaftabletten zur Ruhe zu kommen, war kläglich gescheitert – wenn er überhaupt einschlafen konnte, dann träumte er schreckliche Dinge. Auch die Panikattacken kamen immer häufiger und sie wurden auch kontinuierlich schlimmer. Wenn er auf der Straße ein Mädchen mit langen, blonden Haaren sah, zuckte er zusammen. Er fing an zu zittern, als ob er an Parkinson erkrankt wäre. Aber es war niemals Joy gewesen. Einerseits wusste er nicht, wie er diese Zustände vor seiner Familie verbergen sollte, andererseits erhoffte er sich durch sie Ablenkung und Erleichterung.
Nach der ersten Freude kehrte nach seiner Auskunft, dass es von Joy nichts Neues gab, große Trauer ein. Vor allem Magdalena hängte sich an ihn und suchte Trost und Kraft. Ausgerechnet bei ihm – er fühlte sich so schmutzig, so falsch. Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Er musste sich zusammenreißen, das war er seiner Familie schuldig. Er durfte sich nicht um seine Gefühle kümmern! Seine Familie durfte durch seinen Fehler nicht leiden! Es war für alle schon schlimm genug, mit Joys Verschwinden klarzukommen, aber wenn er sich jetzt auch noch offensichtlich verändern würde, wären alle hoffnungslos überfordert. Er musste wie immer der Fels in der Brandung sein. Und nichts anderes kam infrage! Ob er die Kraft aufbringen würde, das wusste er noch nicht. Es stand ja auch noch das Gespräch mit Celine wegen seines Jobdilemmas an. Das wollte er aber in Ruhe bei einem Spaziergang erledigen.
Der Tag wurde dann trotz Angst und Trauer ein recht schöner. Margot freute sich riesig über den Besuch „des best aussehenden, höflichsten und liebenswertesten Schwiegersohns der Welt“, wie sie Jens dem Pflegepersonal vorstellte. Ihre Tochter habe verdammt großes Glück, dass sie nicht fünfundzwanzig Jahre jünger sei, denn sie würde alles dafür tun, um Jens zu bekommen! Sie verbreitete wie immer gute Laune und wenn Jens es nicht besser wüsste, würde er nicht glauben, dass sie einen Herzinfarkt hatte.
Später unternahmen sie den Spaziergang, den er sich von Celine wünschte. Sie freute sich, dass er mit ihr allein sein wollte. Sie liebte ihn so sehr – er war etwas Besonderes! Sie dachte oft: Wenn es Engel auf Erden in Menschenform gibt, dann ist Jens einer davon. Was für ein Glück sie doch hatte!
Was sie dann aber zu hören bekam, verschlug ihr die Sprache. Nicht, dass sie persönlich großen Wert darauf legte, Frau des großen Geschäftsführers zu sein – also die CaDe-First Lady –, aber für ihn war es doch so wichtig gewesen. Er hatte sich dafür aufgerieben, hatte oft sogar auf