Das Intrigenlabyrinth. Gaby Peer
Was sollte er ihrer Mutter nur sagen? Sie war seiner Familie und ihm insbesondere sowieso nicht wohlgesinnt. Was zum Teufel hatte er nur angestellt? Noch gestern vor etwas über vierundzwanzig Stunden war sein Leben vollkommen in Ordnung, nein, es war perfekt gewesen!
Was sollte er jetzt tun? Er konnte sich nicht konzentrieren, war völlig aufgewühlt und verzweifelt, weil er ab dem Punkt der Vergewaltigung überhaupt keine Erinnerung mehr hatte. Wie sehr er sein Gehirn auch anstrengte – er versuchte es auszupressen wie eine Zitrone –, es gab einfach keine Informationen, keine Bilder, noch nicht einmal Ahnungen für den Zeitraum danach her. Was hatte er Joy angetan, wo war sie nur? Er konnte ja auch schlecht in der Schule anrufen – aber er konnte hinfahren! Wie sollte er dem Mädchen, das wie eine Tochter für ihn war, nur jemals wieder in die Augen schauen?
Gerade als er sich einigermaßen zurechtgemacht hatte und sich im Spiegel zumindest teilweise identifizieren konnte, klingelte sein Handy. Er nahm es schnell zur Hand – aber es war Celine, die ihm mitteilen wollte, dass sie noch ein paar Tage bleiben werde und ob er am Sonntag kommen und dann die Kinder wieder mitnehmen könne. Oh Gott, es gab so vieles zu regeln, aber zuerst musste er mit Joy reden. Er hatte keinen Nerv dafür, jetzt mit Celine über Familienorganisation zu reden, und war sehr kurz angebunden, was den Eindruck erwecken sollte, dass er wirklich sehr unter Stress stand. Celine kannte ihn so wirklich nur in Extremsituationen, die es selten gab, deshalb reagierte sie auch richtig, indem sie sich schnell verabschiedete.
„Oh, Schatz, ich merke, du hast Druck. Na ja, solange der Franzose da ist, wirst du wohl kaum eine freie Minute haben. Nur eines noch: Joy wollte bei uns schlafen und Magdalena hat vor lauter Schreck vergessen ihr Bescheid zu geben. Aber du warst ja sicher noch groß aus zum Essen und Feiern. Vermutlich hast du sie gar nicht gesehen. Leider ist sie auf ihrem Handy nicht erreichbar und nun hat Magdalena Angst, dass sie böse ist. Sie wird sie nach der Schule zu Hause anrufen. Ich sag in der Schule Bescheid, dass die Kinder erst am Montag wieder in den Unterricht kommen werden. Also Liebling, halt die Ohren steif und bis später.“
„Oh, ich werde schlecht erreichbar sein, bitte ruf nicht an, ich werde mich bei dir melden. Im Büro sind alle genervt, weil der Franzose so einen Wirbel macht, und Melzer ist auch auf hundertachtzig. Grüß alle lieb von mir und gute Besserung für Margot. Ich vermisse euch – ich liebe euch und vor allem dich!“
Danach hatte er wenigstens ein etwas besseres Gefühl, dass Celine nicht argwöhnisch werden und sich Gedanken machen würde. Es schien so, als ob am Ende des Gespräches alles so wie immer war, nur dass Jens eben sehr, sehr gestresst war. Was für Celine mehr als verständlich war, wie er sie kannte. Sie war eine so wunderbare Frau – das Beste, was ihm passieren konnte.
Nun war diese Seite für eine Weile ruhiggestellt. Jetzt musste er Schritt für Schritt planen, was er alles zu bedenken hatte. Zuerst meldete er sich im Büro krank, dann machte er sich auf den Weg zur Schule, um Joy auf jeden Fall rechtzeitig abzupassen. Wie würde sie reagieren, was sollte er sagen? Wie konnte man sich für so etwas entschuldigen? Da gab es keine Entschuldigung – er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so geschämt und so hilflos gefühlt. Er konnte noch nie verstehen, was einen Mann dazu bringen konnte, eine Frau zu missbrauchen. Vergewaltiger hatte er immer als Schwerverbrecher beschimpft und hätte als gerechte Strafe gern die Entfernung des kleinen Mannes gesehen.
Erst jetzt fing er an über den Abend nachzudenken, an dem der widerliche Film von Charlene entstanden war. Es war ein ganz normales Geschäftsessen mit einem Großkunden, die Verhandlungen liefen glatt. Er hatte wie immer ein Viertel vom Rotwein getrunken und sich aus der Grappa-Runde ausgeklinkt. Dann schlug Charlene vor, noch gemeinsam in die Bar zu gehen. Eigentlich war ihm nicht danach, aber Charlene meinte, es sei ein schöner Abschluss des erfolgreichen Tages. Die beiden anderen Herren sahen das genauso.
Dort war es jedoch so voll, dass er herumjammerte: „Wie lange soll das denn dauern, bis man hier mal was zum Trinken bekommt?“
„Kein Problem, ihr entspannt euch und ich besorge was“, schlug Charlene zuckersüß vor.
Also ließ er sie gewähren – er wollte kein Spielverderber sein und sie hatte ja recht. Es war weder sonderlich spät noch war die Stimmung angespannt. Alle waren locker drauf und so versuchte auch er sich zu entspannen und nahm sich vor, noch ein oder zwei Cocktails zu genießen.
Ganz schnell fühlte er sich dann betrunken – die Dinger hatten es in sich. Die schienen aus purem Alkohol zu bestehen. Es wurde ihm immer schwindliger und schließlich meinte er, auf Wolken zu gehen. Erinnern konnte er sich noch daran, dass er wohl irgendetwas Unpassendes gesagt haben musste, weil Charlene ihn dann unterhakte und sie sich urplötzlich verabschiedeten. Von da an wurde seine Erinnerung sehr bruchstückhaft und ab dem Moment, in dem Charlene das Zimmer für ihn öffnete, weil er schon nicht einmal mehr die Karte in seinem Jackett fand, fehlte sie komplett. Sie musste ihm irgendetwas ins Getränk gemischt haben, denn nur von der Menge Alkohol war so ein Zustand ja wohl nicht möglich. Ein Filmriss – ein kompletter Filmriss. Er konnte sich an gar nichts mehr erinnern, außer an den Morgen danach. Als er aufwachte, war ihm schrecklich übel, sodass er sich laufend übergeben musste. Es dauerte Stunden, bis sie sich endlich auf den Weg machen konnten. Dieser Zustand hielt auch noch gute zwei Tage an. Was war das nur für ein Zeug, das er da zu sich genommen hatte? Damals war er sich sicher gewesen, dass er einfach nur zu viel getrunken und sich zusätzlich einen Virus eingefangen hatte! Er hatte auch nicht weiter darüber nachgedacht.
Jetzt saß er in seinem Auto und wartete angespannt auf den Moment, an dem Joy aus der Schule kommen würde. Er hatte sich gut positioniert, sodass er sie auf keinen Fall verpassen konnte. Er rechnete mit Widerstand und bösen Worten, einfach mit allem Möglichen. Wie sollte es anders sein – er wusste auch immer noch nicht richtig, was er sagen sollte. Er wollte einfach diesen Augenblick, ihr wieder in die Augen zu sehen und sich zu entschuldigen, hinter sich bringen.
Unzählige Schüler strömten aus dem Gebäude, Jens hatte große Mühe, den Blick konzentriert auf den Ausgang zu richten. Die Übelkeit war noch unbeschreiblich und die Kopfschmerzen ließen es kaum zu, klaren zu sehen. Der Strom ließ nach, es kamen nur noch vereinzelt Schüler und dann keine mehr. Er musste sie übersehen haben. Also beschloss er, zu ihr nach Hause zu fahren und vor dem Wohnhaus zu warten. Bis sie heimgeradelt war, würde er schon lange dort auf sie warten.
Nach einer ganzen Stunde gab er schließlich auf und fuhr nach Hause. Schon vor der Haustür hörte er das Telefon klingeln und hatte große Mühe, das Schlüsselloch zu treffen, aber er schaffte es noch, den Hörer rechtzeitig abzunehmen. Allerdings hörte er nicht wie erhofft Joys Stimme, sondern die ihrer Mutter! Und die war alles andere als freundlich.
„Ihr habt doch selbst drei Kinder, warum versucht ihr mir mein einziges wegzunehmen. Klar fühlt sie sich in eurem Paradies wohler als in unserer engen Zweizimmerwohnung. Ich hab ja auch nichts dagegen, dass sie den größten Teil ihres Lebens bei euch verbringt. Aber heute Mittag habe ich frei und wir hatten besprochen, dass sie gleich nach der Schule heimkommt und wir uns eine schöne Zeit in der Stadt machen. Was habt ihr wieder für ein aufregendes Alternativprogramm geboten, dass sie es vorzieht, bei euch zu bleiben?“
Jens wurde noch übler. Joy war nicht zu Hause! Sie war auch nicht in der Schule! Sie ging nicht an ihr Handy! Was hatte er mit ihr gemacht? Hatte er sie irgendwo eingesperrt? Nein, jetzt musste er zuerst Clara einfühlsam erklären, dass Joy nicht bei ihnen war. Er erzählte von den Vorkommnissen mit Margot und dem panischen Aufbruch seiner Familie. Er berichtete auch, dass Magdalena versucht hatte, Joy auf ihrem Handy zu erreichen.
Clara schluckte und stotterte dann: „Ich erreiche sie auch nicht. Aber ich habe sie doch bei euch abgeliefert! Allerdings bin ich gleich losgefahren, weil ich eh schon so spät war. Ich habe also nicht gesehen, ob sie ins Haus gegangen ist. Entschuldigung, weil ich dich so angegangen bin.“
Jens schämte sich. „Macht doch nichts, Clara. Jetzt mach ich mir aber auch Sorgen.“ Wie er sich verstellen und lügen konnte – ekelhaft! Er widerte sich selbst an. Wie tief war er gesunken. Wie konnte ich nur so viel Alkohol in mich hineinschütten? Ich weiß doch ganz genau, was er mit mir macht – besser gesagt, aus mir macht!
„Vielleicht ist sie zu Lars, ihrem Freund. Der wohnt ja gleich um