Das Intrigenlabyrinth. Gaby Peer
Wie von der Tarantel gestochen rannte Jens los. Gerade als er am Haus der Jörgensens ankam, schob Lars sein Fahrrad aus der Garage und grüßte ihn freundlich. Lars war ein sehr gut aussehender Junge und Jens wusste, dass Magdalena sehr in ihn verliebt war. Aber Lars hatte wohl nur Augen für Joy, was die Freundschaft eine Zeit lang sehr belastet hatte. Aber Magdalena schien sich damit abgefunden zu haben, denn Joy war ihr sehr wichtig und bevor sie ihre allerbeste Freundin verlor, verzichtete sie lieber auf den Schönling.
„He Lars, weißt du, wo Joy ist? Ihre Mutter sucht sie verzweifelt.“
„Ich auch! Sie war nicht in der Schule, auf meine Nachrichten antwortet sie nicht! Keine Ahnung, wo sie steckt, und nein, wir hatten keinen Streit! Das wäre doch die nächste Frage gewesen!“
Der letzte Hoffnungsschimmer! Aus und vorbei! Wenn Lars nicht wusste, wo Joy war, dann … Was sollte er jetzt machen? Sollte er die Wahrheit erzählen und sich der Sache stellen? Allerdings müsste er dann einen Strich unter seine Ehe ziehen, vermutlich auch als Vater seiner Kinder. Er wäre einfach nur noch ein Monster für sie. Sie würden sicher nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Vielleicht gab es ja doch noch einen anderen Weg. Er beschloss, mit seinem Geständnis zu warten, bis Joy wieder auftauchte, und wenn er es nicht schaffte, mit ihr eine Einigung zu finden, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Aber einen winzigen Hoffnungsschimmer hatte er noch, dass Joy all die schönen Jahre, in denen er sie wie eine Tochter behandelt hatte, nicht ganz vergessen würde.
Jens machte sich auf den Heimweg und rief währenddessen Clara an, um ihr von dem Gespräch mit Lars zu berichten.
„Ich gehe jetzt zur Polizei“, schniefte Clara.
„Das wird aber nichts bringen, erst wenn sie mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst wird, starten die eine Suchaktion. Es verschwinden täglich Jugendliche, die dann unversehrt wiederauftauchen!“
„Es passt aber gar nicht zu Joy, einfach zu verschwinden, und das weißt du genauso gut wie ich!“
Das stimmte allerdings, das würde Joy nicht machen, auch nicht wegen des größten Streits. Schon deshalb nicht, weil sie ihrer Mutter keine Sorgen bereiten wollte. Sie wusste genau, wie sehr sich diese für sie aufopferte. Er musste Clara handeln lassen, schon deswegen, weil er sich nicht verdächtig machen wollte.
Erst zu Hause wurde ihm klar, dass die Polizei dann ja sofort hierherkommen würde, weil sein Grundstück der letzte sichere Aufenthaltsort war. Er wurde panisch! Er musste sofort alle Spuren beseitigen und alle Räume prüfen, ob er sie nicht irgendwo in seinem Suff geknebelt hatte. Verdammt, wie hatte er sich nur so betrinken können, dass er nicht mehr wusste, was genau passiert war? Noch hatte er große Hoffnung, dass Joy wiederauftauchen würde und er die Angelegenheit mit ihr regeln konnte.
Zuerst durchsuchte er das ganze Haus – Joy war nirgendwo und auch sonst nichts, was auf sie hindeutete. Ihr Glas vom Vorabend spülte er ganz gründlich von Hand. Es schien ihm, als ob das Glas seine Finger verbrennen würde. Andere Spuren von Joy in seinem Haus waren ja so selbstverständlich, dass er sich da sicher keine Sorgen zu machen brauchte. Jetzt konnte er nur noch warten, bis die Polizei erschien.
Vorher musste er sich aber hinlegen, seine körperliche Verfassung war eine Katastrophe. Er konnte kaum stehen, in seinem Kopf wurde ein Tennismatch ausgefochten – sehr wahrscheinlich von der Weltspitze, bei diesen harten Aufschlägen –, sein Magen fuhr permanent Achterbahn und tun konnte er sowieso nichts. Es fiel ihm nichts Vernünftiges ein, weil er ja eigentlich auch nicht in der Lage war zu denken. Immerhin kam ihm in den Sinn, sich bei Celine zu melden, damit sie keinesfalls im Büro anrief. Wieder gab er den „Gestressten“, sodass sie ihn nicht lange aufhalten wollte.
Dann begab sich Jens in die Horizontale. Es schüttelte ihn vor Ekel vor sich selbst, weil ihm einfiel, was gestern Abend hier auf diesem Sofa passiert war. „Ich bin so ein ekelhaftes Schwein – so ein Dreckskerl …“ Viel weiter kam er nicht, denn schon kurz darauf schlief er ein.
Jens lief ganz gemütlich durch einen wunderschönen Wald, der fast an sein Grundstück grenzte. Die Vögel pfiffen, die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Baumkronen und malte wunderschöne Bilder auf den Waldboden. Jens liebte den Waldgeruch und atmete tief ein. Hier in diesem Wald war er so gut wie zu Hause – hier joggte er regelmäßig – hier konnte er mit seinem geliebten Hund Max bei einem schönen, einsamen Spaziergang Kraft schöpfen und hier waren ihm schon die besten Ideen gekommen. Ihm war danach, sich bei diesem kleinen Waldstückchen einmal zu bedanken, für all die gute Energie und für dieses heimelige Gefühl. Jetzt musste er lächeln, weil er dachte, das könnte die Vorstufe vor dem Verrücktwerden sein – sich bei einem Stückchen Wald zu bedanken. Dabei richtete er seinen Blick zuerst gen Himmel und sagte laut „Danke“, dann sah er auf den Boden. Gerade wollte er schmunzelnd noch einmal „Danke“ sagen, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken. Was er da sah, verschlug ihm den Atem. Aus einem hohen Laubberg schaute eine Hand heraus. Am Ringfinger dieser Hand steckte ein wunderschöner Ring, den er nur allzu gut kannte – es war der Ring, den seine Familie Joy zu ihrer Konfirmation vor zwei Jahren geschenkt hatte. Sie trug ihn immer und passte sehr auf ihn auf. Jens spürte, wie der Boden unter seinen Füßen anfing sich zu bewegen – es schaukelte zuerst langsam, dann immer schneller. Er begann zu schwitzen, ihm wurde so schlecht wie noch nie in seinem Leben!
„So hast du also das Problem beseitigt, du elendes Schwein!“, schrie er sich selbst an. „Ich bin nicht nur ein unbeherrschter Säufer, ein Dummkopf, der sich von einem klugen Blondchen reinlegen lässt, nicht nur ein Vergewaltiger, nein, ich bin auch ein feiger Mörder!“
Jens’ Panik war unbeschreiblich – ich habe Joy getötet. Mein Leben ist gelaufen, alles kaputt! Nicht nur meines – viel schlimmer, auch das meiner Familie! Nein, nein, nein, das darf nicht sein. Das kann ich nicht zulassen. Ich muss Joys Körper endgültig beseitigen.
Wie sollte er mit dieser Schuld weiterleben? Er musste es einfach … für seine Familie. Die konnte schließlich nichts für das, was er angerichtet hatte. Es musste ihm gelingen, alle Spuren zu beseitigen. Immer wieder hört man von Fällen, die nie aufgeklärt werden. Er musste nur gründlich nachdenken und vor allem schnell sein. Die Polizei würde sicher bald vor seiner Türe stehen! Wie aber sollte er Joy am helllichten Tag aus diesem Wald heraustragen? Der Wald wurde von vielen Hundebesitzern zum Gassigehen benutzt. Es konnte nicht allzu lange dauern, bis bei diesem herrlichen Wetter jemand auftauchte. Es blieb Jens nichts anderes übrig, als die Leiche weit weg vom Weg zu ziehen und so gut wie möglich zu verstecken. In der Hoffnung, dass keiner von diesen Kötern sie erschnuppern würde. Schnell erledigte er vor Schweiß triefend und zitternd sein Vorhaben und rannte nach Hause.
Als es endlich dunkel wurde, wollte er los, um seinen währenddessen geschmiedeten Plan, Joy in einen Sack zu packen und in dem nahe gelegenen See zu versenken, in die Tat umzusetzen. Dann aber schien ihm der See keine gute Idee zu sein, denn die würden sicher auch dort nach ihr suchen. Er wollte, dass es keine einzige Spur mehr von Joys Körper auf diesem Planeten gab. Er wollte sein altes, perfektes Leben wiederhaben. Er konnte nicht ändern, was er angerichtet hatte, aber er konnte Unheil von seiner Familie fernhalten. Also beschloss er, Joy zu verbrennen. Dazu fuhr er auf einen entlegenen Grillplatz, wo sie schon oft hingewandert waren, um sich einen schönen Tag zu machen. Zuerst wollte er prüfen, ob sich jemand dort aufhielt, denn manchmal übernachteten hier auch Menschen, so wie sie es oftmals getan hatten. Nein, es war niemand vor Ort – es herrschte Totenstille. Und wenn jetzt niemand da war, würde auch sicher keiner mehr kommen.
Also raste Jens wieder nach Hause beziehungsweise in den Wald und verfrachtete Joy in seinen Kofferraum – alles ging gut. Keine Menschenseele begegnete ihm und er wunderte sich, wie eiskalt und ruhig er plötzlich war. Wie eine Marionette setzte er seinen Plan in die Tat um. Was er mit den Knochen machen sollte, wusste er noch nicht so genau. Wahrscheinlich würde er sie am Sonntag auf dem Weg nach Wiesbaden entsorgen. Bis dahin brauchte er aber ein geniales Versteck.
Am Grillplatz angekommen, machte er ein Feuer und war froh, dass Joy in dem Sack verpackt war, sodass er sie nicht anschauen musste, wenn er sie ins Feuer warf. Er war überrascht, wie cool er das Ganze managte. So schnell gewöhnt man sich also ans Morden?