Das Intrigenlabyrinth. Gaby Peer
er da erzählte. Er habe freiwillig verzichtet – er habe seine Bewerbung zurückgezogen und Charlene für die Position vorgeschlagen. Seine Begründung, dass er noch weniger Zeit für seine Familie hätte, noch öfter und noch längere Reisen unternehmen müsste, konnte sie ihm nicht abnehmen. Sie kannte ihn zu gut und spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Aber alles, was sie sagte und ihm unterstellte, wurde von Jens abgeschmettert. Weil sie merkte, dass sie ihn damit quälte, beschloss sie, es erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Sie wollte auch nicht im Streit auseinandergehen. Aber hier stank etwas bis zum Himmel!
Schließlich kam der Zeitpunkt der Trennung und die war schwerer als gedacht. Celines Nähe war Balsam für seine Seele, aber es war wichtig für sie, bei Margot zu bleiben, und er wollte es ihr nicht unnötig schwer machen. Die Kinder würden ihn schon so beanspruchen, dass er kaum Zeit zum Nachdenken haben würde.
Magdalena bat ihn, sobald sie im Auto saßen, Clara anzurufen. Sie selbst wollte es nicht tun, denn auch sie mochte Clara nicht besonders, weil diese sie immer komisch behandelt hatte. All die Jahre hatte sie ihr immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie in ihren Augen nur ein schrecklich verwöhntes Gör war. Magdalena ging nicht gern zu Joy nach Hause. Übernachtet hatte sie dort auch nur in äußerster Not und unter großem Wehklagen. Das Telefonat ergab nichts Neues. Joy blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Irgendwie ging auch die folgende Woche rum – die Stimmung war zwar nicht mit der sonstigen im Hause Dornbach vergleichbar, aber das war auch gut so. Den üblichen Rummel hätte Jens nur mit viel Mühe ertragen. Die Kinder waren sehr still und traurig. Sie erfüllten ihre Pflichten. Magdalena freute sich nicht einmal über ihre 1,5 in Mathe, dabei hatte sie es noch nie in ihrer Schullaufbahn geschafft, in diesem Fach eine bessere Note als 2,5 zu schreiben. Im Normalfall hätte sie eine Party angeordnet. Aber so ließ sie Jens unterschreiben und legte sie mit dicken Tränen in den Augen beiseite. Ihr Anblick zerbrach Jens das Herz. Joy fehlte ihr so sehr! Sie war die Einzige, die laut aussprach, dass Joy nicht mehr am Leben sein könnte oder zumindest irgendwo unfreiwillig festgehalten wurde, weil sie aus freien Stücken ihre Mutter niemals mit solchen Sorgen belasten würde. Jeden Tag nach der Schule lautete die erste Frage: „Gibt es was Neues von Joy, Papa?“
Marilena und Jonas verbrachten fast die komplette Freizeit in ihren Zimmern. Die Polizei hatte die Kinder nach auffälligem Verhalten, Lieblingsplätzen oder Geheimverstecken befragt, aber weitergebracht hatten die Auskünfte die Ermittlungen nicht. Seltsam für Jens war, dass sie ihn ausschließlich nach seiner persönlichen Meinung über Joy befragt hatten, und auch das nur sehr kurz und oberflächlich. Nur gut, dass niemand seine Gedanken lesen konnte, denn während der Befragung bekam er Schnappatmung … Dass das keinem aufgefallen war, unglaublich! Er war der Ohnmacht nahe gewesen! Urplötzlich waren die Beamten jedoch aufgestanden und hatten sich verabschiedet. Jens wusste nicht, wie ihm geschah – sie waren weg und er immer noch ein freier Mann!
Selbst Max war ganz still und bewegte sich kaum von seiner Decke weg. Jens hatte es immer noch nicht geschafft, mit ihm in den Wald zu laufen. Er suchte neue Wege, die er mit seiner Familie gehen konnte. Er dachte über einen neuen Job und einen Umzug in eine andere Stadt nach. Zu sehr brachten sie alles hier mit Joy in Verbindung. Bei allem, was sie taten, an jedem Ort, wo sie sich aufhielten, bei jedem Spiel, das sie spielten, bei jedem Gericht, das gekocht wurde, bei jedem Lied, das im Radio lief, einfach bei allem gab es irgendwie eine Verbindung zu Joy. Bei dem Bau des Baumhauses hatte sie die Regie übernommen, weil sie in solchen Dingen äußerst geschickt war und Jens eher ein bescheideneres Talent aufweisen konnte. Sie hatte tagelang mit Celine, die Architektin war, geplant, gezeichnet, Einkaufslisten geschrieben und Arbeitseinsatzplanungen entworfen. Sie war so präsent in ihrem Leben gewesen. Das war Jens nie so bewusst. Joy war für ihn und Celine beinahe wie ein eigenes Kind. Sie gehörte mit einer solchen Selbstverständlichkeit dazu – selbst bei der Urlaubsplanung wurde sie meistens mit einbezogen. Nur auf ganz großen Reisen wurde Joy nicht mitgenommen. Schon deshalb nicht, weil Clara es nicht erlaubt hätte.
Am Samstag kam Celine mit Margot nach Hause. Es war alles gut verlaufen und sie würde schon bald zur Kur fahren. Margot wusste noch nicht, was mit Joy passiert war, weil Celine noch immer Hoffnung hatte, dass das Kind wohlbehalten wiederauftauchte. Außerdem wollte Celine nicht, dass Margot sich aufregte und große Sorgen um Joy machte. Das wäre für ihr angeschlagenes Herz sicher nicht von Vorteil. Margot hätte sich bestimmt unglaublich aufgeregt, denn sie liebte Joy genauso wie ihre Enkelkinder. Joy hatte auch sehr oft den Großteil ihrer Ferien bei Margot verbracht.
Nun aber war es an der Zeit, auch Margot davon zu erzählen. Wie erwartet reagierte sie sehr emotional. Margot war ein sehr fröhlicher und meistens positiver Mensch. Sie war aber auch sehr gefühlvoll und trauerte ganz intensiv. „Aber da muss man doch was unternehmen! Was können wir nur tun?“, fragte sie unter Tränen.
„Margot, die Polizei hat schon alles in Bewegung gesetzt, was nur möglich ist – aber alles ohne Ergebnis!“
Insgeheim dachte er, dass die Ermittlungen nicht gerade von großer Professionalität zeugten, so wie sie ihn aus dem ganzen Prüfverfahren einfach ausklammerten. Auch die Befragung der Kinder war mehr als dürftig gewesen. Sehr wahrscheinlich hatten sie den Fall schon so gut wie ins Archiv verschoben! In der Presse wurden die Berichte und Zeugenaufrufe immer kleiner und seit zwei Tagen wurde der Fall überhaupt nicht mehr erwähnt. Wie traurig!
Eigentlich hätte er anfangen können, sich etwas zu entspannen, aber das Gegenteil war der Fall. Jens wurde immer panischer und es kostete ihn von Tag zu Tag mehr Kraft, sich nicht zu verraten. Vor allem, dass er nicht wie gewohnt mit Celine über seine Sorgen sprechen konnte, machte ihn verrückt. Und immerzu aufzupassen, dass er sich nicht verplapperte, strengte ihn unglaublich an. Das war er einfach nicht gewöhnt. Sie waren so offen miteinander, nie gab es ein Geheimnis zwischen ihnen – außer vielleicht mal eine heimlich geplante Überraschung. Oft entstand ein richtiger Wettbewerb zwischen ihnen, wer denn nun die besseren Einfälle hatte. Sie hatten viel Spaß dabei, sich gegenseitig neugierig zu machen. Auch die Kinder waren schon die reinsten Meister darin.
Die letzte große Überraschung hatten sie alle zusammen für Joy geplant – die Party zu ihrem sechzehnten Geburtstag! Was hatten sie nicht alles für sie auf die Beine gestellt. Eine Hollywoodparty, zu der alle in Glitzer und Gloria gekleidet erscheinen mussten, einen Walk of Fame hatten sie gebastelt, eine Award-Verleihung mit einer witzigen, gereimten Laudatio für jeden einzelnen Gast. Joy war an diesem Abend natürlich der Stargast! Einen Profifotografen hatten sie engagiert und die Dekoration war einfach der Hit. Es wurde eine „superaffengeilcoole Party“, wie Joy es ausdrückte. Mit Tränen in den Augen dankte sie allen …
Nur ihre Mutter wollte nicht dabei sein, weil sie ihrer Meinung nach sowieso nicht dazupasste. Zum Anziehen hatte sie auch nichts Passendes und auch kein Geld übrig, um sich einen so kitschigen Fummel zu kaufen. Langsam begann Jens zu verstehen, was Clara gegen sie hatte. Sie konnte weder finanziell noch beim heiteren Miteinander mit den Dornbachs mithalten. Sie hatten ihr die Tochter ein Stück weit weggenommen – ja, so sah er es heute! Joy liebte ihre Mutter über alles, sie wusste genau, dass sie sich für sie aufopferte, aber sie nahm auch ganz selbstverständlich und von ganzem Herzen gerne die Angebote der Dornbachs an. Und die dachten, dass Clara dankbar war, dass sie ihrer Tochter mit so viel Liebe und Großzügigkeit begegneten. Wie oft hatte es ihr wohl einen Stich versetzt, wenn Joy von den Dornbachs und ihren gemeinsamen Aktivitäten schwärmte, die Angebote und die Gesellschaft der Dornbachs vorzog … Nicht einmal war ihm in all den Jahren zuvor so ein Gedanke in den Sinn gekommen und Celine sicher auch nicht. Sonst hätte sie es laut geäußert.
Sie blieben an diesem Samstag alle lange auf, redeten, weinten und trösteten sich gegenseitig. Aber einen wirklichen Trost gab es nicht – Joy war weg und sie fehlte unglaublich! Das war schon schlimm genug, aber die Sorgen um sie, die Ungewissheit und die Panik vor dem Anruf waren fast nicht auszuhalten. In dieser Situation war Margot wirklich keine Hilfe – sobald sich alle gefangen hatten, schniefte sie wieder los. Sie musste möglichst schnell in die Reha!
Jens nahm an diesem Abend wieder einmal eine Schlaftablette, weil er dringend einen erholsamen Schlaf brauchte, um seinen Alltag bewältigen zu können. Charlene nahm ihn im Geschäft ganz schön hart ran, aber dadurch kam er wenigstens auf andere Gedanken. Es war eine gute Ablenkung!