Das Intrigenlabyrinth. Gaby Peer

Das Intrigenlabyrinth - Gaby Peer


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Zugticket kaufen, obwohl das Geld gerade so reichen würde. Aber dann hätte sie keinen Cent mehr für Lebensmittel. Außerdem hatte sie vom Bahnhof aus einen ziemlich weiten Fußmarsch vor sich, weil sie beschlossen hatte, nicht den Bus zu dem kleinen Dorf zu nehmen, weil sie nicht auffallen wollte. Sie musste klammheimlich in die Hütte gelangen. Einkaufen musste sie irgendwo in einem großen Supermarkt, wo sie sich unauffällig bewegen konnte. Der Plan nahm ganz klare Gestalten an.

      Alles gelang ihr so, wie sie es geplant hatte. Sie wurde nicht ohne Fahrkarte erwischt, der Supermarkt war zum Bersten voll und zur Hütte gelangte sie, ohne irgendjemandem über den Weg zu laufen. Wenn sie Menschen sah, versteckte sie sich so lange, bis der Weg wieder menschenleer war. Erst dann lief sie vorsichtig weiter. In der Hütte angekommen, konnte sie auf Anhieb den Schlüssel in seinem Versteck finden. In der Hütte stank es fürchterlich, also lüftete sie zuerst gründlich und sah sich in Ruhe um. Es gab noch gefüllte Sprudelflaschen, Ravioli-Dosen, Schokolade und ein paar lange haltbare Lebensmittel, wofür sie sehr dankbar war. Sie hatte nicht viel eingekauft, zum einen, weil sie nicht ihr ganzes Geld ausgeben, und zum anderen, weil sie nicht so viel tragen wollte. Sie war sich auch nicht im Klaren darüber, wie lange sie brauchen würde, um wieder in der Lage zu sein, nach Hause zu gehen. Sie wusste selbstverständlich, was sie ihrer Mutter antat. Aber sie wollte in Ruhe darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Wie sie sich verhalten sollte! Ganz intensiv wollte sie über Jens’ Strafmaß nachdenken. Ihre Mama hatte so recht gehabt … Joy hatte es nicht glauben wollen, vor allem, weil sie Jens so lieb hatte. „Alle Männer sind Schweine“, das war der Lieblingssatz ihrer Mutter. Der Satz, den sie am häufigsten sagte.

      Clara wurde von ihrem Vater sehr schlecht behandelt und häufig verprügelt. Er war Alkoholiker und ließ keine Gelegenheit aus, seine ganze Frustration über sein beschissenes Leben an seiner Frau und der Tochter auszulassen. Er konnte so jähzornig sein, so ungerecht und böse. Es ging so weit, dass er mit Möbelstücken um sich warf, mit dem Messer auf die beiden losging, sie in der Wohnung für Tage einsperrte und Schläge waren sowieso an der Tagesordnung. Einmal schnürte er Clara auf der Kücheneckbank fest und zwang sie, dabei zuzuschauen, wie er seine Frau vergewaltigte.

      Dennoch erzählte Clara oft, dass sie geglaubt habe, schlimmer könne es in ihrem Leben nicht mehr kommen, es könne nur noch bergauf gehen, wenn sie endlich erwachsen war. Sie würde einen Beruf erlernen und mit ihrer Mama ganz weit weg ziehen, sodass er sie niemals finden konnte. Doch es kam anders. Als Dreizehnjährige musste Clara miterleben, wie das Arschloch – wie sie ihn insgeheim immer nannte – ihre Mutter bei einem Fluchtversuch die Treppe hinunterschubste. Sie war ohne Bewusstsein und Nachbarn benachrichtigten sofort den Rettungsdienst. Im Krankenhaus wurde alles getan, um ihr Leben zu retten, aber sie verstarb am dritten Tag nach dem „Unfall“, wie er es nannte. Er hätte noch versucht sie festzuhalten, erzählte er in Tränen aufgelöst. Clara hätte so gern die Wahrheit herausgeschrien – aber sie wollte nicht ins Kinderheim. Sie dachte, die paar Jahre würde sie schon irgendwie schaffen. Vielleicht würde er jetzt sogar zur Besinnung kommen und eine Entziehungskur machen. Wie blauäugig – es wurde nichts besser!

      Zur unendlich großen Trauer über den Verlust der Mutter kamen jetzt noch finanzielle Sorgen dazu. Clara nahm jeden Job an, den sie bekommen konnte – das Angebot war nicht sehr groß. Oft musste sie für sehr wenig Geld richtig hart arbeiten. Sie mähte Rasen, trug Prospekte aus, kaufte für alte Leute ein, ja, sie schämte sich sehr, aber sie ging auch stundenlang auf Pfandflaschensuche. Doch das Lernen vernachlässigte sie niemals. Sie wollte aus diesem Milieu raus – sie musste sich selbst aus diesem Sumpf ziehen. Das konnte sie nur mit Bildung schaffen, das war ihr absolut klar.

      Es kam der Tag, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte – ihr Vater versuchte sie zu vergewaltigen. Sie schaffte es zu fliehen. Aber der Bann war gebrochen, ab diesem Tag kam es immer öfter und irgendwann täglich vor. Sie musste immer auf der Hut sein – sie hatte ihre Tricks, aber wenn er es einmal schaffen würde, sie im nicht so schlimm betrunkenen Zustand richtig zu packen, könnte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen. Er war immer noch erstaunlich kräftig. Als er es eines Tages schaffte, sie zu packen, und sie schon kein Entkommen mehr sah, brach er über ihr zusammen und rührte sich nicht mehr. Sein Herztod wurde festgestellt und Clara musste doch ins Heim.

      Überrascht stellte sie fest, dass es gar nicht so schlimm war, ganz im Gegenteil! Sie konnte aufatmen, sich ganz auf das Lernen konzentrieren. Nur eines machte sie traurig – sie konnte sich auf keine Freundschaft einlassen. Sie hatte nie eine Freundin gehabt. Clara ist immer ein einsamer Sonderling gewesen und ein perfektes Mobbingopfer.

      Trotz allem – Clara war eine richtige Schönheit. Und während der Zeit im Kinderheim fing sie auch an Wert darauf zu legen, sich zurechtzumachen. Nicht üppig und auffällig, doch sie entwickelte einen ganz eigenen bodenständigen, aber nicht altbackenen Stil. Es passte zu ihr. Mit der Zeit begannen die Jungs ihr hinterherzuschauen. Schon bald hatte sie an der Schule jedoch den Titel „eiserne Jungfrau“. Auch wenn in ihr hin und wieder tatsächlich Verliebtheitsgefühle aufkamen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, jemals ein männliches Wesen näher als dreißig Zentimeter an sich heranzulassen. Undenkbar!

      Nach einem erfolgreichen Realschulabschluss startete sie auf einem sozialen Berufsgymnasium richtig durch. Sie hatte ein Ziel – sie wollte Medizin studieren. Etwas anderes, als hart zu arbeiten, um ihren Doktortitel in Rekordzeit in der Tasche zu haben, gab es für sie nicht mehr. Nicht nur für die Schule arbeitete sie hart, sondern verdiente nebenher auch noch Geld. Das sparte sie aber größtenteils für ihr geplantes Studium. Es machte ihr nichts aus, wenn die Mitschüler ständig neue Markenklamotten trugen oder von einem „geilen“ Urlaub erzählten. Clara spürte keinen Neid und auch keine Eifersucht. Sie war der Hölle entkommen und hatte andere Erwartungen an sich und das Leben, als irgendwelche Oberflächlichkeiten zu pflegen.

      Kurz vor dem Abitur geschah dann doch das große Wunder: Ein Junge schaffte es mit ungebrochener Geduld und Feingefühl, Claras Herz zu erobern. Sie konnte im Nachhinein nicht fassen, dass Jörg es geschafft hatte, sie zu verführen und schließlich im beschwipsten Zustand zum Geschlechtsverkehr zu überreden. Das Gefühl, das sie dabei hatte, war – sie konnte es sich kaum eingestehen, fast nicht zulassen – schön, sehr schön! Überrascht war Clara selbst über ihr Verhalten während des Liebesaktes – sie war vollkommen entfesselt und nahezu schamlos. Sie hatte es getan und es war alles andere als schlimm gewesen – sie hatte doch eine Chance auf ein normales Leben. Es war ein echtes Wunder! Jörg war sehr gefühlvoll und der begehrteste Junge an der Schule. Das waren ihre Gedanken am Morgen danach. Ja, sie wollte leben! Richtig leben und da gehörte die Liebe dazu. Sie war in der Lage, zu lieben – dann würde sie es auch tun und genießen. Einfach genießen!

      Als sie in der Schule ankam, sah sie eine große Schüleransammlung vor dem Haupteingang des Schulgebäudes. Sie steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Da musste etwas passiert sein. Sie lief auf die Versammlung zu, plötzlich schrie eine Mitschülerin: „Da, da ist sie! Sie kommt!“ Wie sich dann herausstellte, hatte Jörg ein kleines Video vom Vorabend vorgeführt, in dem sie die Hauptrolle spielte. Der Film hieß: „Wer knackt die eiserne Jungfrau?“ Jörg hatte es geschafft! Er war der tolle Held und wurde gefeiert! Es wurden Wettgelder eingelöst und wie Clara auch noch erfuhr, wurde an dem Abend eine „eiserne Jungfrauen-Erlösungsparty“ gefeiert!

      An diesem Tag hörte Clara endgültig auf an das Gute zu glauben. Wie konnte sie nur so dumm sein? Sie versteckte sich für Tage in ihrem Zimmer, heulte und überlegte ernsthaft, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur eine barmherzige Schwester, die sie sehr gern hatte und schon am Tag ihres Einzuges im Kinderheim ins Herz geschlossen hatte, weil sie so anders war als die ungezogenen, faulen Gören, schaffte es, sie davon abzuhalten. Sie redete stundenlang auf Clara ein: „Es gibt ausreichend wichtige Aufgaben auf dieser Erdkugel, die es wert sind weiterzumachen, Clara. Viele Menschen brauchen dringend medizinische Hilfe, um überhaupt überleben zu können. Als Ärztin kannst du vor allem auch misshandelten Frauen zur Seite stehen. Das müsste doch nach dem, was du in deinem bisherigen Leben mitgemacht hast, ein großes Anliegen für dich sein. Statt deinem Leben ein Ende zu setzen, solltest du über vernünftige Zukunftspläne nachdenken.“

      Es dauerte eine Weile, bis Clara das auch so sah, dann aber stellte sie sich wieder auf die


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