Das Intrigenlabyrinth. Gaby Peer
er sich absolut kampflos ergeben hatte. Mit gar keinem Widerstand hatte sie vermutlich nicht gerechnet. Aber bequemer war es so allemal.
Das Telefon klingelte … Jens hatte das Gefühl, nur zu träumen, denn er war von der Tablette so benebelt, dass er sich nicht auf Anhieb orientieren konnte. Das Klingeln trommelte in seinem Kopf, es durchdrang sämtliche Hirnwindungen gewaltsam, bis er es schaffte, das Klingeln der Realität zuzuordnen. Er wollte aufstehen, aber der Plan war wesentlich einfacher als die Durchführung selbst. Plötzlich hörte das Klingeln auf. Eigentlich rief so gut wie niemand mehr über den Festanschluss an. Jedes Familienmitglied hatte ein eigenes Handy und sie kommunizierten auf dem Weg miteinander. Ebenso verhielt es sich mit ihren Freunden, Verwandten und Bekannten. Plötzlich war Jens hellwach – Clara, ja, nur Clara hatte überhaupt noch das Festnetz genutzt.
Ein durch Mark und Bein gehender Schrei folgte der kurzen Stille. Es war Magdalenas Stimme: „Sie ist wieder da, sie ist wieder da – los, alle aufwachen, Joy ist wieder da!“
Alle stürmten jubelnd aus ihren Zimmern und umringten Magdalena. Die konnte aber nicht viel sagen, außer dass Joy wohlbehalten wieder zu Hause angekommen war. Alles andere würde sie dann in Ruhe erzählen.
Sie war also wieder da! Jens spürte eine Erleichterung, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Jetzt hatte er aber wirklich das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Was war das für ein Gefühl – eine tonnenschwere Last fiel von seinen Schultern. Er sah den anderen zu, wie sie sich freuten und umarmten. Bei ihm wurde das Gefühl jedoch gleich wieder gedämpft, weil ihm bewusst war, dass Joy ihn anzeigen würde und sein perfektes Leben damit beendet war. Aber er war sich auch im Klaren darüber, dass er so nicht hätte weiterleben können. Diese Schuld hätte ihn innerhalb von wenigen Wochen zum psychischen Krüppel gemacht. Da war er sich ganz sicher. Der Druck, der auf ihm lastete, hatte sich in der Zeit, die seit dem Vorfall vergangen war, um ein Vielfaches verstärkt. Er war keineswegs geringer geworden. Nein, lange hätte er es nicht mehr ausgehalten, mit diesem Geheimnis zu leben. Er hatte über einen Umzug nachgedacht, aber es wurde ihm jeden Tag immer klarer, dass er ihm keine große Erleichterung verschaffen würde. Seiner Familie wahrscheinlich schon. Aber er trug die Schuld in seinem Herzen und sie würde immer präsent sein – egal wohin er auch ging. Die Schuldgefühle wären mit Sicherheit auch beständig gewachsen und hätten ihn nach und nach zerstört. Er konnte ja nicht einmal psychologische Hilfe in Anspruch nehmen! Was sollte er denn bei einem Psychologen? Der konnte ihm die Schuldgefühle auch nicht nehmen.
Jetzt stellte sich die Frage, ob er seiner Familie sofort alles beichten sollte. Diese Freude auf der Stelle zu zerstören, das brachte er nicht fertig. Wie sollte er das jetzt am besten lösen? Mit Celine allein reden? Ja, so würde er das machen. Aber ehe er sich versah, war die ganze Horde schon in Aufbruchsstimmung. Sie hatten, während er sich seinen Gedanken hingegeben hatte, geplant, sich sofort auf den Weg zu Watermanns Wohnung zu machen. Verzweifelt versuchte er sie davon abzuhalten, indem er erklärte, dass die beiden jetzt sicher erst einmal alleine sein wollten. Sie hätten sicher jede Menge zu besprechen. Aber kein Argument zählte – keiner von ihnen war aufzuhalten. Er lehnte das Angebot ab, mit ihnen zusammen zu Clara und Joy zu fahren. Sie waren in Lichtgeschwindigkeit angezogen und flogen fast zum Auto – und das alles, ohne sich anzuschreien und gegenseitig zu beschimpfen. Einen letzten Versuch startete er, um wenigstens Celine zum Bleiben zu überreden. Aber es war sinnlos. Er musste den Dingen seinen Lauf lassen.
Ob Joy schon bei der Polizei war oder gerade mit ihrer Mutter über den Vorfall sprach? Clara würde die Polizei natürlich auf der Stelle benachrichtigen. Die Schlinge zog sich immer fester um seinen Hals, doch er dachte verzweifelt: Und trotzdem ist mir dieser Weg lieber, als wenn sie das Mädel tot aufgefunden hätten. Er würde büßen – er war kein schlechter Mensch. Er hatte einen schlimmen Fehler gemacht und das auch nur bei halbem oder noch weniger Bewusstsein – aber er würde dafür geradestehen! Das war seine Entscheidung, seine endgültige. Einen anderen Weg gab es nicht.
Jens rief bei Watermanns an und bat Clara, Joy sprechen zu dürfen. Nur widerstrebend nahm sie den Hörer, das spürte er ganz deutlich. „Hallo, Jens“, sagte sie zu seiner Überraschung ganz freundlich. Was um Himmels willen war jetzt los? „Wie geht es dir so? Ich hab kurz Urlaub gemacht in eurem Ferienhäuschen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.“
Jens war so baff, er wusste nicht, was er sagen sollte. Er musste sich besinnen, warum er Joy überhaupt sprechen wollte. Ach ja, er wollte sie bitten, es ihm zu überlassen, seiner Familie die Wahrheit zu sagen. Genau das versuchte er jetzt auch zu tun, aber Joy würgte ihn ab und sagte: „Danke, Jens, ich wusste, dass du nicht böse sein würdest. Ich habe echt eine Auszeit gebraucht und das war der richtige Ort. Und auch an dich: Sorry, dass ich dir Sorgen bereitet habe! Wir sehen uns – ich komme demnächst vorbeigeflattert.“ Und schon hatte sie aufgelegt.
Jens brauchte Minuten, viele Minuten, um zu verstehen, dass er nicht träumte, dass er voll bei Bewusstsein war. Er fantasierte nicht, er war auch nicht endgültig durchgedreht oder hatte die Kontrolle komplett verloren – nein, Joy war wieder da und erwähnte den Vorfall mit keinem Wort. Es klingelte auch keine Polizei an der Tür. Wie konnte das sein? Hatte er sich nur vorgestellt, sie vergewaltigt zu haben – hatte er es geträumt? Was zum Teufel wurde hier für ein Spiel gespielt und welche Rolle hatte er in diesem Theaterstück? Er fühlte sich, als ob eine fremde Spezies die Kontrolle über sein Leben übernommen hatte. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er sich verhalten? Wieder einmal gab es für ihn nur die Möglichkeit abzuwarten, wie dieses Theaterstück sich weiter entwickeln würde. Nur eins war klar – die höchste Last, die größte Sorge, das Schlimmste, was hätte sein können, war nicht passiert! Joy lebte! Und damit gab er sich für den Moment zufrieden.
2
Joy merkte, wie der Körper von Jens erschlaffte. Sie rollte ihn mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, von sich herunter, zog sich notdürftig an und rannte, so schnell sie konnte, aus dem Haus. Aus diesem so geliebten, vertrauten Haus. Dass sich hier eines Tages eine so fürchterliche Szene abspielen würde, konnte sie nicht glauben. Aber es war kein böser Traum, Jens hatte sie vergewaltigt. Brutal und vollkommen unerwartet war er plötzlich über sie hergefallen. Im Nachhinein fragte sie sich, ob sie sich genug gewehrt hatte, schließlich war er sturzbetrunken und mit etwas Kraft hätte sie es doch schaffen müssen, sich zu befreien.
Voller Panik rannte sie blindlings in irgendeine Richtung los. Sie rannte und rannte, bis sie irgendwann völlig atemlos auf den Boden sank. Jetzt erst fing sie an zu denken. Wohin sollte sie gehen? Zu Hause war niemand – Mama arbeitete die ganze Nacht und sie wollte ihr auch nicht unter die Augen treten. Sollte sie direkt zur Polizei gehen? Was würde dann passieren? Sie würden Jens festnehmen und es gäbe eine Verhandlung, in der sehr wahrscheinlich festgestellt würde, dass Joy Jens in ihrem Aufzug unglaublich gereizt hatte. Er würde eine Haftstrafe möglicherweise auf Bewährung erhalten und die Familie würde ihm großzügig verzeihen. Übrig bleiben würde Joy – für die anderen womöglich eine Schlampe, die einen armen Mann verführt hatte, mit der schlimmen Erinnerung für den Rest ihres Lebens. Sie würde bindungsunfähig sein, keine Berührungen von einem Mann mehr ertragen können. Die eigentliche Bürde aus dieser Sache müsste sie und nur sie allein tragen. Jens würde so gut wie ungestraft davonkommen. Das durfte nicht passieren. Sie brauchte Zeit, mehr Zeit als nur ein paar Stunden, um darüber nachzudenken, was sie tun sollte. Aber wohin sollte sie gehen? Wo konnte sie in Ruhe nachdenken? Geld hatte sie auch nicht allzu viel dabei. Sie hatte also nur begrenzte Möglichkeiten.
Zuerst zog sie die langen Hosen an und die Jacke, die sie für den nächsten Schultag eingepackt hatte. Auch ihr Käppi, das sie für den Sportplatz eingepackt hatte, um sich vor der Sonne zu schützen, setzte sie auf. Darunter verbarg sie ihre langen Haare und ging in Richtung Bahnhof. Dort versteckte sie sich hinter einem großen Gebüsch und hoffte, dass sie niemand sah und sie nicht einschlief.
Inzwischen hatte sie einen Plan: Die Dornbachs besaßen ein kleines Ferienhäuschen im bayrischen Wald. Weit abseits von der Zivilisation, gut versteckt. Dort hatten sie früher, als sie klein waren, so manches Wochenende verbracht. Es war zwar ziemlich eng, aber immer wunderschön. Da hatten sie die größten Abenteuer erlebt. Sie hoffte, dass sie es finden würde. Sie konnte sich