Die Rose lebt weiter. Katja Stock
entschuldigte sich nicht einmal. Aber ich schaffte es wieder nicht, ihn fallen zu lassen. Am nächsten Tag bemühte sich jeder, so vorsichtig und freundlich zu dem anderen zu sein, wie es nur ging. Doch der Satz hatte sich in mein Gehirn eingebrannt und tat so weh. Ich brauchte sehr lange, bis ich das vergessen konnte.
Die Wochen verstrichen, die Silberhochzeit rückte näher. Viele Leute nahmen an den Vorbereitungen meiner Feier indirekt teil. Und ich fühlte mich immer mehr hinterlistig und falsch. Auch gesundheitlich ging es mir nicht gut. Doch vergingen die Schmerzen meist wieder schnell und ich verdrängte das Erlebnis. Das Herzrasen kam in unterschiedlichen Abständen und Stärken. Dabei bekam ich Atemnot und das Herz tat am nächsten Tag noch weh, wie bei einem Muskelkater. Ständig plagten mich Bauchkrämpfe wie bei einer Gallenkolik. Als Jens einmal mitbekam, dass ich mich im benachbarten Raum auf die Stühle legen musste, um die Schmerzen auszuhalten, wurde er regelrecht panisch. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er telefonierte mir sogar hinterher, ob ich heil zu Hause angekommen wäre. Da merkte ich, wie wichtig ich ihm war. Aber sein Drängen, endlich zum Arzt zu gehen, ignorierte ich. Was alleine kommt, geht auch wieder alleine! Für eine Gallenoperation hatte ich derzeit keine Nerven, vielleicht kamen die Schmerzen auch nur von der ganzen Hektik. Außerdem ging es mir schon viele Jahre so.
Meinen Urlaub legte ich so, dass ich solange wie möglich arbeiten gehen konnte, trotzdem hatte ich fast drei Wochen frei. Mit Jens wollte ich mich vorher noch einmal treffen, um mal wieder aufzutanken, weiter denken wollte ich einfach nicht. Wie immer hatten wir wenig Zeit. Wir mussten uns verstecken und es war alles andere als romantisch. Mit der Uhr im Nacken suchten wir Nähe und versuchten, all die traurigen Tatsachen zu verdrängen. Auf der einen Seite hoffte ich, dass die Gefühle verschwinden würden, andererseits tat ich aber auch nichts dafür, um von ihm loszukommen. Ich war so hilflos und leer. Ich sah nur, dass es galt, die nächsten drei Wochen abzuarbeiten. Doch wenn ich wieder zurück sein würde, dauerte es nicht lange, bis Jens in Urlaub fuhr. Diese Aussichtslosigkeit erdrückte mich beinahe.
Der Tag unserer Silberhochzeit war herangerückt. Natürlich hielt Holger sich nicht daran, dass wir uns nur eine Kleinigkeit schenken wollten. Ich bekam 25 riesengroße rote Rosen und eine Lederreisetasche, weil ich nichts hätte, wenn ich zum Lehrgang müsste. Mir blieb fast das Herz stehen. Ja, der Lehrgang war verschoben worden auf „ungewiss“. Ich klammerte mich an diese zwei Tage, an denen ich mit Jens alleine sein würde. Und Holger schenkte mir nichtsahnend noch eine Tasche dafür …
Die Eltern schenkten wie immer Geld und ich fühlte mich schuldig, es anzunehmen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Meine Mutter hatte unser Hochzeitsbild in einen silbernen Rahmen gebastelt. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben und war so ahnungslos. In ihren Augen verlief die Ehe perfekt: Uns ging es gut, Streit bekam sie nicht mit, die Kinder waren versorgt, wir unternahmen viel, alle waren fleißig und hilfsbereit, sozusagen rundherum trautes Familienglück. Wie sollte ich ihr jemals erklären, dass ich auf „Abwege“ geraten war? Viel mehr Angst hatte ich aber vor meinem Vater. Holger kannte er nur fleißig und hilfsbereit. Wie könnte ich so einem guten Mann so etwas antun? Ich würde es ihm nicht erklären können. Und ich wollte es ja Holger auch gar nicht antun. Aber ich kriegte Jens nicht aus meinem Kopf raus, keinen Tag, keine Stunde, fast schon keine Minute mehr.
Nach dem Essen wurden alle fürs Fotoalbum verewigt und weil ich krank war und Holger am nächsten Tag arbeiten musste, war die Feierei relativ schnell beendet. Ich war froh, im Bett liegen zu können und hoffte, dass die Tabletten rasch wirkten. Das war er also, der große Tag nach 25 Ehejahren! Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, als hätten wir Geburtstag gefeiert. Nun denn, gut so, ich hätte mich ohnehin über nichts besonders gefreut. Es stand sowieso noch die Feier mit unserer Clique bevor.
Die nächsten zwei Tage konnte ich mit Jens telefonieren, wir wussten beide, dass mit dem Beginn von Holgers Urlaub dieser Kontakt beendet wäre. Sicherlich könnte ich ab und zu eine SMS schreiben, aber zum Antworten war es eigentlich schon zu gefährlich. Mein Handy war im Urlaub das „Familientelefon“, ich würde es nie und nimmer wie eine Glucke ständig bewachen können.
Die letzten Vorbereitungen für unsere Feier ließen die Zeit schnell vergehen und kein großes Grübeln aufkommen. 18 Uhr sollte das Fest beginnen. Es war Holgers erster Urlaubstag. Wir hatten Schlafgäste, die schon nachmittags eintreffen sollten, sie trudelten auch nach und nach ein. Die Silberhochzeit fand in unserem Dorfgasthof statt, in dem wir schon unseren Polterabend gefeiert hatten. Als alle saßen, stand Holger auf und begrüßte die Gäste, bedankte sich, stellte alle vor und sprach über den organisatorischen Ablauf. Er war aufgeregt, machte es aber gut. Dann ging ich zur Bühne und begann, meine Reime vorzutragen. Sie stammten aus der Zeit, als die Welt noch in Ordnung war. Mittlerweile waren viele Zeilen davon Hohn geworden. Aber in diesem Moment verdrängte ich alles und redete mir ein, dass das traute Familienglück durch meinem Vortrag irgendwann wieder eintreten würde. Martina warf mir einen aufmunternden Blick zu und ich las meine Verse.
Der Abend verging durch Spiele und Tänze recht schnell und kurz vor Mitternacht gab es noch mal Kaffee und Kuchen. Als Überraschung trug meine Mutter ihre selbstgebackene Kirschtorte in den Saal, auf der sie ein Silberbrautpaar platziert hatte. Dieses rutschte just in dem Moment von der Torte und fiel auf den Fußboden. Von dem Bräutigam brach der Kopf ab. Sie war so entsetzt und brach in Tränen aus: „Der Kopf ist ab, das bringt Unglück!“
Weil meine Mutter so aufgelöst war, brachte ich diesen Vorfall nicht mit meiner Situation in Verbindung, sondern tat es ab als sinnlosen Aberglauben. Um halb vier Uhr früh lagen wir endlich im Bett, das heißt auf der Couch im Wohnzimmer, denn die Betten waren ja vergeben an unsere Gäste. Ich war zu müde, um zu grübeln und hatte nur noch den kommenden Ablauf im Kopf: Frühstück im Garten, Reste holen aus der Gaststätte, Sachen packen für den Urlaub, das Haus „urlaubsfertig“ machen … Bettina und Mario fuhren gleich von uns aus mit in den Urlaub. Jens hatte ich versprochen, eine SMS zu schreiben, wie die Feier abgelaufen war. Ich kam erst spät dazu, als alle im Bett waren. Holger schlief schon und ich schrieb im Wohnzimmer heimlich meine Zeilen. Die Vorstellung, nun lange von ihm nichts mehr zu hören und nicht zu wissen, wie es ihm geht, stimmte mich traurig und ängstlich. Der Gedanke, mich im Urlaub um meine Ehe zu bemühen, kam mir nicht. Denn es gab dafür nichts zu tun, ich musste mich nicht bemühen, für Holger war die Welt in Ordnung, er merkte nicht, was in mir vorging.
Die Urlaubstage vergingen schleppend und ich sehnte mich dem Ende entgegen. Am Montag würden Jens und ich miteinander telefonieren. Solange musste ich noch ausharren. Ich zählte die Stunden, und sorgte mich. Vor allem beschäftigte mich die Frage, was in der Zwischenzeit mit Sonja gelaufen war. Die Ungewissheit zermürbte mich. Mit Herzklopfen und Tränen begannen die ersten Minuten des Telefonats. Dann sagte Jens, dass er mich nicht belügen wollte und dass es mich sehr schmerzen würde. Ich hielt den Atem an, ich wusste, dass etwas im Zusammenhang mit Sonja kommen würde: „Als du verreist warst, habe ich mit Sonja einen Tag Urlaub verbracht. Ich hatte es ihr versprochen. Der Tag verlief harmonisch, bis zu dem Zeitpunkt, als das Thema auf dich kam. Sie sprach abfällig von dir und ich verteidigte dich instinktiv. Sie merkte dadurch, wie nahe wir uns immer noch sind.“
Ich merkte, wie ich innerlich zusammenrutschte. Warum tat er so etwas? Warum spielte er mit mir? Und warum war er andererseits so ehrlich und verheimlicht mir nichts? Ich war so verletzt, aber mir fehlte einfach der Stolz, diesen Menschen zur Hölle zu schicken. Ich sah nur wieder das Gute an ihm, schätzte seine Ehrlichkeit und Offenheit. Aber ich konnte es nicht begreifen. Das Datum seines „gemeinsamen Tages“ hat sich später so in mein Gehirn gebrannt und es war einer der allergrößten seelischen Schmerzen, die er mir je zugefügt hat. Trotzdem kam ich nicht von ihm los.
Zu all diesem Durcheinander kam etwas Neues, Erfreuliches hinzu. Tommi, unser Großer, hatte sich verliebt. Einerseits war ich froh für ihn, andererseits rollte etwas auf mich zu, was mich sprachlos und unbeholfen machte. Er offenbarte uns am Telefon, dass er seit zwei Wochen eine Freundin habe, eine ehemalige Kumpeline, die sich von ihrem Freund getrennt hatte und die er am Wochenende mitbringen würde. Dies kam so geballt und ganz anders, als ich es von meinem Sohn gewohnt war. Er stellte uns vor vollendete Tatsachen.
Aufgrund meiner eigenen Probleme dachte ich gar nicht groß darüber nach. Am Freitag war schönes Wetter und wir grillten zum Abendbrot. Alle waren ein wenig aufgeregt.