Tödlicher Orient. Inka Claussen

Tödlicher Orient - Inka Claussen


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nicht sein.

      Obwohl er es gar nicht mehr erwarten kann, aufzubrechen, beherrscht er sich doch. Auch wenn er mit seinen knapp vierzig Jahren, einem leichten Bauchansatz, einem runden Gesicht und seiner Halbglatze, umgeben von einem braunen Haarkranz, nicht mehr der Frischeste ist, so hat sich Otto von Wesenheim doch ein gewisses Maß an Eitelkeit bewahrt. Besonders stolz ist er auf seinen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart, dessen Pflege er sich jeden Tag sorgfältig widmet. Die Enden des Schnurrbarts müssen immer akkurat hochgezwirbelt sein, so sieht es die momentane Mode für den Herrn vor.

      Mit seinen etwas über einen Meter siebzig hat er nicht gerade das Gardemaß für einen stattlichen Herren, aber dafür legt er viel Wert auf seine Kleidung. Nach langen Überlegungen wählt er schließlich einen blaugrauen Sommeranzug mit marineblauer Krawatte aus. Soll er seine Melone aufsetzen? Die steht ihm ausgesprochen gut. Aber Otto entscheidet sich dann doch für die lockere Kreissäge, wie die leichten, in Mode gekommenen Strohhüte genannt werden. Es wird bald bestimmt ein sonniger Tag anbrechen und er greift, nun schon in besserer Laune, nach dem hellen Strohhut mit dunklem Band.

      So macht er sich noch vor Sonnenaufgang auf den verschlungenen Weg zur Wohnung seiner Ayşe, während die zahlreichen Muezzin-Rufe zum Morgengebet in den Gassen der durch das Beben erschreckten Stadt erklingen, als wäre nichts geschehen. Auch Stunden nach dem Erdbeben sind noch überall, wo er entlang kommt, die Spuren des Unglücks zu sehen. Feiner, wirbelnder Staub liegt noch immer in der Luft.

      Einige ältere, renovierungsbedürftige Häuser sind sogar ganz eingestürzt. Menschen harren auf den Straßen aus, haben Angst vor einem Nachbeben. Wo sollen sie die nächste Nacht verbringen? Hoffentlich hat es nicht allzu viele Opfer oder gar Tote gegeben, denkt Otto. Da muss er auch schon wieder über einen hüfthohen Schutthaufen und herumliegende Steine steigen.

      Schließlich biegt er in die Haupteinkaufsstraße Konstantinopels, der Grande Rue de Pera, Richtung Galata ein. Bis auf einige Nachtschwärmer, die ihm etwas schwankend entgegenkommen, wirkt die Straße wie ausgestorben. Ob die überhaupt etwas vom Erdbeben mitbekommen haben?, fragt sich Otto. Allzu viele Schäden sind hier in diesem Teil der Stadt nicht zu bemerken. Rechts und links der mit einigen Einschränkungen durchaus als prächtig zu bezeichnenden Grande Rue – so sind die wackeligen Platten des Gehsteiges besonders bei Regen ein richtiggehendes Ärgernis – biegen zahlreiche kleine und verwinkelte Gassen ab.

      Eigentlich können diese Seitenstraßen, die von der Grande Rue abgehen, froh sein, als Gassen bezeichnet zu werden. Wenn überhaupt sind sie mit großen, unebenen und spitzen Steinen gepflastert, die aussehen, als ob sie schon im Mittelalter verlegt worden sind. Es gibt weder Rinnsteine noch Abflussrinnen. Hausfrauen kippen, ohne nach rechts oder links zu schauen, das Waschwasser direkt auf die Straße. Der grobe Sand, der die Gassen bedeckt, verwandelt sich besonders nach Regengüssen in einen tiefen, schwarzen und rutschigen Matsch.

      Nachdem er sich mehrmals vorsichtig umgeschaut hat, ob er vielleicht beschattet wird, biegt er rechts in eine schmale Gasse ab, folgt ihr, überquert eine etwas breitere Straße und läuft direkt in eine schummrige Gasse in dem Stadtteil Tarlabaşe hinein. Hier muss er immer wieder entweder einigen Schutthaufen – Folgen des Erdbebens – oder dem üblichen Unrat auf den Straßen ausweichen. Auch der ansonsten tagsüber so quicklebendige Basar in diesem Stadtteil liegt fast verlassen dar. Meist herrscht dort schon zu früher Morgenstunde ein Gewimmel, das an ein reinstes Völkergemisch erinnert. Türken, Griechen, Kurden, Armenier, Juden, Perser, Albaner, die emsig unterwegs sind; Zigeuner, die aus der Hand lesen, und jede Menge Händler, die von goldenen Armreifen bis schmackhaften Granatäpfeln jede nur erdenkliche Ware feilbieten. Etwas weiter sitzt ein alter Mann einsam vor seinem Krämerladen. Die rechte Hand liegt in seinem Schoß, während er in der linken mit einer Gebetskette beschäftigt ist, deren Steine er langsam und rhythmisch zu zählen scheint.

      Normalerweise begibt sich kein Europäer hierhin. Otto würde es auch nicht tun, wenn er nicht wüsste, dass sich nach ungefähr zweihundert Schritten im zweiten Stock eines unscheinbaren, etwas heruntergekommenen Hauses, eine kleine Appartementwohnung befindet. Dort wohnt Ayşe, seine orientalische Verlockung. Zum Glück, stellt er erleichtert fest, ist hier in der Gegend nicht allzu viel Schaden durch das Erdbeben angerichtet worden. Wie immer streichen ein paar dünne Katzen herum und sitzen mit krummem Buckel auf einem kleinen Steinhaufen. Andere sind anscheinend gerade gefüttert worden und stecken ihre Köpfe zusammen, als ob sie sich an einem Fisch gütlich tun.

      Otto erinnert sich immer wieder voll Wonne an sein erstes Zusammentreffen mit Ayşe. Es war letztes Jahr an einem der ersten milden Frühlingstage. Diesen Tag hat er noch sehr gut im Gedächtnis. Er saß in der beliebten Brasserie Janni fast direkt gegenüber der Buchhandlung Otto Keil an der Grande Rue und trank ein kleines kühles, frisches Bier im ersten milden Sonnenschein. Eigentlich bevorzugt er die exklusivere Bierschenke Kuch, wo man richtigen westfälischen Schinken mit Meze, den einheimischen kalten Delikatessen, die man als Vorspeisen isst, genießen kann. Einfach köstlich für den deutschen Gaumen. Der bloße Gedanke an den saftigen Schinken lässt ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Aber hier bei Janni genoss er es, auf einem Klappstuhl an einem kleinen Tisch unter den Bäumen mit ihren ersten zaghaft grünen Blättern zu sitzen und sein Bier zu trinken.

      Anschließend begab er sich in das Kleidergeschäft Mayer, wo er einen neuen Gehrock anprobierte. Da die gesellschaftliche Oberschicht der in Konstantinopel lebenden Ausländer hier kauft, war es für Otto von Wesenheim selbstverständlich, auch dieses Geschäft aufzusuchen. Allerdings stellte sich der Sitz des von ihm neu bestellten Gehrocks nicht als zufriedenstellend heraus. Daran musste der Schneider noch ein bisschen arbeiten. Etwas missgelaunt betrat Otto das Kaufhaus Paluka, eine der ersten Adressen für Import-Luxuswaren, bei den Türken auch Pazar Alman genannt. Selbst der Sultan ließ hier einkaufen. Schon Sultan Abdülhamid II., der an einem Nierenleiden litt, kaufte zu Genesungszwecken das Mineralwasser der Marke »Friedrich«. Auch sein Nachfolger und jetzige Herrscher Mehmet V. hatte dieses Wasser zu seinem Lieblingsgetränk erkoren. Otto gönnte sich zur Aufmunterung eine Flasche dieses köstlichen, aber doch recht teuren Nasses.

      Kurz nachdem er den Pazar Alman verlassen hatte, bog, aus einer Seitengasse kommend, eine faszinierende Gestalt in die Grande Rue ein. Sie trug ein langes, weites Gewand aus grünem und goldenem Brokat mit engen, bis zu den Fingerspitzen reichenden Ärmeln. Darunter ein weit geschnittenes weißes Hemd aus feiner Baumwolle, eine weite Hose aus dünnem rosafarbenen Damast, um die Taille zusammengehalten mit einem breiten Gürtel aus kunstvoll besticktem Satin, versehen mit einer diamantbesetzten Schließe. Als Kopfputz eine Kappe aus leichtem, schimmerndem Seidenstoff, an der ein bestickter dünner weißer Schleier mit Schmucknadeln befestigt war. Alles in allem also die Kleidung einer gut situierten einheimischen Dame.

      Doch dann trat sie mit einem Absatz ihrer kleinen gelben, spitzen Pantoffeln auf eine dieser elenden losen Platten, schrie erschrocken auf und fiel auf die staubige Straße. Zwar reagierte Otto schnell, doch er konnte ihren Sturz nicht aufhalten. Sofort beugte er sich über sie und fragte mit fürsorglich klingender Stimme: »Meine Dame, ist Ihnen etwas geschehen?«

      Dann unvergesslich. Auf den Knien liegend blickte sie ihn hilfesuchend an. Er sah nur diese großen, schwarzen, tiefgründigen Augen, die der Schleier freigab. Unglaublich. Ihm war kribblig, abwechselnd heiß und kalt. Ein verrückter Zustand.

      »Ja, mein Herr. Au, mein Knöchel tut mir weh und schauen Sie sich mein Kleid an. Verschmutzt und auch noch eingerissen.«

      Große Tränen traten in ihre dunklen Augen. Otto war gleich wie ein Jüngling hin und weg. Dann auch noch diese einzigartige Stimme, die ihn an ein unschuldiges kleines Singvögelchen erinnerte. Aber trotz aller Faszination handelte Otto, wie es sich für einen Mann von Stand gehört.

      Ruhig beugte er sich nieder, um ihr wie ein Kavalier aufzuhelfen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete sie sich gestützt auf den galanten Otto auf. Da erst schoss es Otto von Wesenheim durch den Kopf. Oh je, was habe ich nur getan?

      Es war völlig unschicklich, dass ein ausländischer Gentleman eine einheimische, moslemische Dame auf offener Straße anspricht oder sie gar berührt, in welcher Situation auch immer. Auf der anderen Seite war es aber auch ungewöhnlich, ja schon ungebührlich, dass eine solche Dame sich allein ohne männliche


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