Tödlicher Orient. Inka Claussen

Tödlicher Orient - Inka Claussen


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Bekannter, dachte Otto. Das wäre eine gesellschaftliche Katastrophe, gerade für ihn, den Legationsrat der kaiserlichdeutschen Botschaft. Was für ein Gerede entstünde! Er konnte das heimliche Getuschel, wo immer er hinkommen würde, schon hören. Dann das Schweigen oder das krampfhafte Bemühen, das Thema zu wechseln.

      Aber bevor Otto irgendwie reagieren konnte oder ihm eine passende Lösung einfiel, denn die Hand wollte er eigentlich nicht von ihrem zarten Arm nehmen, ergriff Ayşe beherzt die Initiative.

      »Mein Herr, mein Knöchel tut mir immer noch weh. Ich fürchte, ich könnte wegen der Schmerzen in Ohnmacht fallen. Wären Sie so gut und würden mich ein Stückchen begleiten? Es ist nicht weit bis zu meiner Wohnung. Dort kann ich mich dann hinsetzen und ausruhen.«

      Ohne nachzudenken, antwortete oder vielmehr stammelte der sonst so selbstbewusste Otto von Wesenheim, allerdings aus tiefster Seele: »Äh, ja, ja, selbstverständlich. Es, äh, es w-, wäre mir ein Vergnügen, Sie be-, begleiten zu dürfen, meine Dame.«

      Schnell blickte er um sich und mit großer Erleichterung stellte er fest, dass der kleine Vorfall anscheinend keine große Zuschauermenge angezogen hatte. Alle hasteten, inzwischen den eigenen Angelegenheiten nachgehend, weiter. Aus immer noch leicht mit Tränen gefüllten Augen schaute Ayşe ihn dankbar an. So also bog er zum ersten Mal in diese Gasse ein, betrat zum ersten Mal das Appartement im zweiten Stock, küsste sie zum ersten Mal und …

      Noch verschlafen und etwas überrascht, Otto von Wesenheim um diese Uhrzeit hier zu sehen, öffnet der Hausmeister, der Kapıcı, die Eingangstür nun eben dieses Hauses. Otto merkt, wie das Blut in seinen Adern zu pulsieren beginnt, nicht so sehr vor Anstrengung, sondern mehr in Erwartungshaltung. Vor allem will er Ayşe zu dieser ungewöhnlichen Tageszeit nicht erschrecken. Stufe um knarrende Stufe nehmend steigt er die Treppe hinauf. Da bemerkt er, wie sich kurz vor seinem Ziel eine Tür öffnet. Er vernimmt ein leises Flüstern und meint, einen Abschiedskuss zu hören. Anschließend tritt jemand geräuschlos auf den Flur. Kommt diese Gestalt nicht aus einer Wohnung auf Ayşes Stockwerk?

      Schon befindet sich die Gestalt auf seiner Höhe und ist anscheinend genauso erschrocken, auf jemanden zu treffen, wie er selbst. Sie bleibt kurz stehen und er kann ihr Gesicht erkennen. Direkt und mit einer gewissen Portion Selbstsicherheit schaut sie ihn kurz an. Kein Schleier verdeckt ihr Gesicht. Eine Europäerin. Nur wenig kleiner als er. Für den Bruchteil einer Sekunde schaut Otto in ihr Gesicht, das nicht unbedingt als klassisch schön bezeichnet werden kann, aber doch auf eine gewisse Art attraktiv ist. Große, helle, etwas eng beieinanderliegende Augen, eine kleine gerade Nase, ein leicht spitzes Kinn in einem schmalen Gesicht unter hochgesteckten rötlichen Haaren. Ihr Mund mit den vom Lippenstift kirschroten Lippen scheint ein kleines »Oh« zu formen, als sie ihn sieht.

      Und dann ist die schlanke Gestalt, bekleidet mit einem bodenlangen dunkelblauen Rock und weißer Bluse, mit einer resoluten Bewegung auch schon verschwunden. Spontan schätzt Otto ihr Alter auf knapp vierzig Jahre, aber durchaus attraktiv. War da nicht ein Knopf ihrer weißen Bluse kurz über ihren Brüsten auf?

      Noch ehe Otto weiter nachdenken kann, steht er schon vor Ayşes Tür und will gerade sanft anklopfen, um sie nicht zu erschrecken. Da öffnet sie sich auch schon wie von selbst und seine Ayşe steht mit etwas verwundertem Blick in den Augen vor ihm. Sofort fällt ihm ihr zerzaustes Haar auf und – ist da nicht auch ein leichtes Rot auf ihrer rechten Wange?

      Aber er täuscht sich sicherlich im Halbdunkel. Sie kam natürlich gerade aus dem Bett – aber wie konnte sie die Tür so schnell öffnen? Ayşe scheint nur kurze Zeit überrascht zu sein, denn sie zieht ihn augenblicklich in ihre Wohnung. Ehe Otto sich versieht, ist er in ihrem Bann. Sofort erkennt, ja erspürt Ayşe Ottos labilen Zustand. Auch für solche Sensibilität liebt er sie. Ohne nach einer Erklärung für seinen Besuch zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu fragen, lässt sie Otto von Wesenheim auf einem Sessel Platz nehmen und haucht nur: »Warte, Liebling.«

      Jetzt erst merkt Otto, wie ausgelaugt er eigentlich ist. Er fühlt sich unwohl, erschöpft, trinkt einen Schluck Wasser. Ayşe ist in einem Nebenzimmer verschwunden und kommt nur kurze Zeit später wieder zurück. Dazwischen aber liegen Welten. Immer wieder ist Otto von diesem Anblick fasziniert. So anmutig, mit ganz anderen Konturen als dieser eher großgewachsene, blonde, blauäugige nordische Typ mit weichen Formen, den Otto aus der Heimat kennt. Das verblüffende Ebenmaß ihrer Züge! Der reizende Gesamteindruck! Die herrlichen Proportionen ihres Körpers! Welch eine glatte, ebene Haut! Dieses unglaublich entzückende Lächeln! Dann erst ihre Augen, groß und schwarz! In jedem Gesichtszug entdeckt er neue Reize!

      Nur mit ihrem Schleier bekleidet steht eine zierliche, schlanke Ayşe, ansonsten vollkommen nackt, vor ihm. Sein Blick gleitet über ihre glatte Haut mit dem herrlich bräunlichen Teint, über ihre kleinen festen Brüste und über ihren makellosen Hals bis zu ihrem lieblichen Gesicht hinauf. Der Schleier gibt ihre wunderschönen schwarzen Augen mit den leicht gewölbten, nachgezogenen Augenbrauen frei. Die Innenseite ihrer Lider ist mittels einer Tinktur schwarz gefärbt, was den Glanz der Augen beträchtlich erhöht.

      Otto weiß, was gleich folgen wird. Mit einer langsamen Handbewegung berührt sie mit ihren rötlich gefärbten Fingernägeln die Kappe, an der der bestickte Schleier mit Schmucknadeln befestigt ist, hebt die Kappe leicht an, verzögert den Moment noch, dann entledigt sie sich ihrer Kappe und ihres Schleiers, die beide zu Boden fallen. Mit einem grazilen Schütteln des Kopfes lässt Ayşe ihre langen, wunderschönen schwarzen Haare sich frei entfalten. Sie umrahmen einen wohlgeformten Kopf, so dass ihre leicht gebogene orientalische Nase eigentlich keinen Makel darstellt. Immer wieder diese dunklen Augen und dazu die kirschrot gefärbten Lippen.

      Nun kommt sie mit leichten, federnden Schritten auf Otto zu und nimmt seine Hand. Langsam erhebt er sich aus dem Sessel. Er lässt es geschehen. Ayşe führt Ottos Hand an ihren Hals und dann gleitet sie fast automatisch zu ihren kleinen Brüsten herunter. Er merkt, wie sich ihre Brustwarzen aufrichten, gleichzeitig nimmt seine Erregung merklich zu. Aber seinen Höhepunkt erreicht er fast schon, als er seinen Kopf zu der fast fünfzehn Zentimeter kleineren Ayşe niederbeugt, um so ganz nah in ihre faszinierenden Augen zu schauen. Von dort ist es dann nur noch ein kurzer Weg, um seine Lippen auf die ihren zu pressen.

      Nach knapp einer Stunde gleitet ein erschöpfter, aber sichtlich entspannter und wohl gelaunter Otto aus dem Bett und bindet ein Handtuch um seine mittlerweile doch leicht fülligen Hüften. Schließlich ist man mit vierzig Jahren auch nicht mehr ganz jung, aber er verfügt immer noch über genügend Energie, wie er wieder einmal zufrieden feststellen konnte. Otto dreht seinen Kopf noch einmal zu der im Bett liegenden Ayşe und sieht ihr schlankes Bein unter der leichten Decke hervorschauen. Daraufhin zögert er für einen Moment und will sich wieder dem Bett nähern. Doch dann besinnt er sich und beginnt sich im Nebenraum frisch zu machen.

      Ayşe, allein im Zimmer, steigt aus dem Bett, immer noch nackt, und geht zum Tisch, um sich ein Glas Wasser zu holen. Da bleibt ihr Blick auf Ottos Gehrock haften. Aus der rechten Tasche ragt etwas Weißes, das wie ein Brief aussieht, heraus. Ayşe, eine offene, moderne, aber auch neugierige Frau zieht dieses Etwas aus der Tasche. Erschrocken, fast hätte sie aufgeschrien, lässt sie es fallen. Es ist nicht nur weiß, sondern es sind auch unverkennbar Blutspritzer auf dem Papier. Sie schaut sich um, doch zum Glück hört sie nur Waschgeräusche aus dem Nebenzimmer. Mit flinken Händen hebt sie den Umschlag auf, öffnet ihn und zieht behutsam das Schreiben heraus.

      Mit großer Spannung liest sie es. Schnell erkennt sie, dass es sich um einen Kaufvertrag handeln muss. Und dann diese hohe Summe. Da muss es sich um etwas sehr Wertvolles handeln. Weiter liest sie im unteren Teil des Briefes die Worte: »Der verkaufte Gegenstand befindet sich in der Nähe der heiligen Stätte der Mohammedaner, unweit von Abwässern und …«

      Da hört sie, wie Otto die Tür aufmacht und das Schlafzimmer wieder betritt. Hastig faltet sie den Brief zusammen, kann dabei gerade noch ganz unten den Namen »Dschidda« oder so ähnlich lesen, steckt ihn schnell in den Umschlag und lässt ihn wieder in Ottos Rocktasche verschwinden. Doch Otto hat trotzdem etwas bemerkt.

      »Was machst du denn da?«, fragt er recht forsch und sein Gesicht verzieht sich dabei ein Stück.

      Geistesgegenwärtig und


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