Tödlicher Orient. Inka Claussen

Tödlicher Orient - Inka Claussen


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wie hieß er noch gleich? Na ja, vielleicht kann er sich etwas umhören, wenn er schon vor Ort ist.

       Kapitel 2

      Einige Tage später, an einem frühen Freitagmorgen, besteigt Otto – er wird sich als Gelehrter, als Orientalist aus dem Deutschen Reich ausgeben – ein kleines Ruderboot, das ihn von Kabataş über den Bosporus hinüber zum Bahnhof nach Haidarpaşa bringen soll. Sein Diener Ali, der mit Otto reist, hat schon seinen Koffer in das Boot verfrachtet.

      Begleitet vom kreischenden Lachen der großen städtischen gelbbeinigen Mittelmeermöwen setzt sich das Boot in Bewegung und mit schnellen Ruderschlägen nähert es sich dem Bahnhof von Haidarpaşa. An Backbord geht es vorbei an Skutari, der größten der Vorstädte auf dem asiatischen Kontinent. Im frühen Morgenlicht glänzen die schönen Moscheen und die im leichten Dunst liegenden Höhen, auf denen sich der große moslemische Friedhof mit seinen zahlreichen Zypressen befindet. Dazwischen tauchen immer wieder Wohnviertel auf, deren Straßen gesäumt von Laubbäumen sich bis an das Ufer hinziehen.

      Nur wenige Meter entfernt gleitet das Boot an einem dreißig Meter hohen Turm entlang, der zwischen Asien und Europa mitten im Bosporus herausragt und Kız Kulesi, Mädchenturm, genannt wird. Es ranken sich schöne Legenden um diesen Turm, wie sich Otto erinnert. Eine besagt, dass der Vater einer osmanischen Prinzessin sie dort vor dem vorhergesagten Biss einer Giftschlange in Sicherheit bringen wollte. Aber alle Vorkehrungen nützten nichts, denn die Prinzessin wurde schließlich durch eine Viper, die mit einem Obstkorb auf die Turminsel gelangte, gebissen und starb.

      Die mythologische Überlieferung von Leander und Hero besagt, dass Leander jede Nacht zur Turminsel hinüberschwamm, um seine Geliebte Hero, eine Priesterin der Göttin Artemis, zu besuchen. Eines Nachts aber ertrank Leander in sturmgepeitschter See. Aus Trauer stürzte sich Hero von ihrem Turm ebenfalls ins Meer. Für diejenigen, die an diese Version glauben, ragt dort der Leanderturm empor.

      Eine davon wird wohl wahr sein, denkt sich Otto. Entscheiden will er sich aber nicht. Da wird sein Blick auch schon steuerbords, also zu seiner Rechten, gefangen von der traumhaft schönen, malerischen Silhouette der Serailspitze mit dem Topkapı-Palast und dem ehemaligen Harem. Zu diesem Panorama gesellt sich eine ungeheure doppelte Terrasse von Häusern, Moscheen, Bazars, Serails, Bädern und Kiosken, die in verschiedensten Farben schimmern. Dazwischen streben zahlreiche Minarette mit glänzenden Spitzen gleich riesigen Elfenbeinsäulen dem Himmel entgegen und grüne Zypressenwäldchen senken sich in dunklen Streifen von den Höhen zur See.

      Still und festtäglich liegt Konstantinopel an einem Freitag da. Für Europäer ist es immer noch ungewohnt, dass der Freitag der Ruhe- und Hauptgebetstag im moslemischen Morgenland ist und nicht der Sonntag wie im christlichen Abendland.

      Vom Wasser aus ist sie nicht zu übersehen: Hoch aufragend auf der höchsten Höhe von Stambul, als Krone der Siebenhügelstadt, die Hagia Sophia, nach dem Petersdom zu Rom die glänzendste jemals von der Christenheit erbaute Kirche. Zur Rechten ragt der imposante Komplex der Osmanischen Schuldenverwaltung heraus. Ihre gewaltige Silhouette mit den drei Türmen dominiert den gesamten Stadtteil Cağaloğlu. Das Gebäude ist eher ein Dorn im Auge der Osmanen, denn von hier aus verwalten Europäer die immensen Auslandsschulden und ziehen im gesamten Reich Steuern bis runter nach Dschidda ein. Eine immense Schande für die stolzen Osmanen. Otto muss bei diesen Gedanken schmunzeln. Sollen sie sich eben nicht so verschulden. Durch ihre ausgeprägte Korruption sind sie dann nicht in der Lage die Kredite zurückzuzahlen. Selber schuld. Orientalen eben durch und durch!

      Hinter sich lässt Otto auch die weite Flussmündung des Goldenen Horns mit ihrer von deutschen Ingenieuren entwickelten Eisenbrücke auf Pontons, fünfundzwanzig Meter breit, die die beiden Stadtteile Stambul und Pera miteinander verbindet. Noch vor wenigen Jahren überspannte eine alte, aber exotische Pontonbrücke das Goldene Horn, die von aneinandergebundenen Holzbooten getragen wurde. Dort gingen damals Händler, Fischer und Garküchenbetreiber ihren Geschäften nach und dichte Trauben von vorbeiziehenden Menschen deckten sich bei ihnen mit dem Nötigsten ein. Zu jeder Tages- und Nachtzeit waren Scharen von Anglern anzutreffen. Aber um dem gestiegenen Fußgänger – und Fahrzeugverkehr gerecht zu werden, erhielt 1907 die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg den Zuschlag für den Neubau einer Brücke. Wegen der politischen Turbulenzen durch den jungtürkischen Staatsstreich konnte man erst vor kurzem mit den Arbeiten beginnen. Das dauert bestimmt noch zwei weitere Jahre, bis die Brücke endlich fertig sein wird, denkt Otto.

      Aber für all diese atemberaubenden Schönheiten hat Otto heute keinen rechten Blick mehr. Zum einen muss er unwillkürlich an sein letztes Treffen mit seiner Ayşe denken. Ganz wohlig ums Herz wird ihm dabei. Obwohl er in einer geheimen Mission für sein Vaterland unterwegs ist, hat er ihr davon berichtet. Schließlich musste er ihr ja sagen, dass er sie für längere Zeit nicht besuchen könne. Wirkliche Bedenken hat Otto immer noch nicht, denn er vertraut ihr vollends. Zudem hat er ihr zusätzlich noch das Versprechen abgenommen, mit niemandem, aber auch wirklich mit niemandem darüber zu sprechen. Als Ayşe ihn mit ihren dunklen Augen anblickte und das Versprechen wiederholte, da wusste er, sie wird keiner Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen davon erzählen.

      Zufrieden und verträumt wandern Ottos Blicke zum Bahnhof von Haidarpaşa, dessen Silhouette sich im morgendlichen Dunst auf dem asiatischen Kontinent abzeichnet. Vor nunmehr etwas mehr als zehn Jahren hatte sein heutiger Chef, Botschafter von Hohenstein, die Konzession für den Bau eines Bahnhofs im asiatischen Teil Konstantinopels als Ausgangspunkt für die Bagdadbahn unterzeichnet. Vorbei geht es nun an der langen Kaianlage mit zwei großen Lagerschuppen und einem Getreidespeicher. Die drei Laufkräne sind gerade dabei Dampfer zu be- und entladen.

      Erst vor ein paar Monaten, Ende letzten Jahres, ist der Bahnhof eingeweiht worden. Die Bauarbeiten gestalteten sich schwieriger als gedacht, denn bei den notwendigen Aufschüttungsarbeiten hatte man zu wenig Platz für das Gebäude gelassen. Und wenn, dann sollte es auch schon repräsentativ sein. Also rammte man eintausendeinhundert Pfähle aus einundzwanzig Meter langen wasserfesten Eichenstämmen unter dem Wasser in die Erde.

      Da der Bahnhof fast direkt an der Kaimauer errichtet worden war, verfügt er kaum über einen Vorplatz. Aber das, so Otto, macht überhaupt nichts, denn so wird die Wuchtigkeit des Gebäudes noch deutlicher. Die deutschen Architekten hielten sich nicht an die landesüblichen Formen, sondern erbauten ihn, und darauf ist nicht nur Otto besonders stolz, ganz im wilhelminischen Geiste im neoklassizistischen Stil. So gleicht das Bauwerk eher einem norddeutschen Rathaus als einem Bahnhof im Osmanischen Reich. Preußen im Orient. Das entspricht auch Ottos Vorstellungen.

      Als das Boot an der Kaimauer anlegt, steigt Otto von Wesenheim schwungvoll aus und richtet seinen Blick auf die Uhr des Bahnhofs, übrigens eines der ganz wenigen Gebäude mit einer Uhr in dieser Riesenstadt. Zu seiner Erleichterung stellt Otto fest, dass er den Zug ohne Hektik rechtzeitig erreichen würde. Der Zug wartet bereits unter Dampf im Bahnhof. Pünktlich um acht Uhr morgens soll es losgehen.

      Auf dem Bahnhof ist es vorbei mit der Ruhe des frühen Morgens. Überall laufen schwatzende und lärmende Männer herum; dazwischen schleppen die Lastträger das Gepäck; Offiziere gehen plaudernd auf und ab. Die mitreisenden Frauen werden von ihren Männern in die überfüllte Haremlık der dritten Klasse hineingedrängt, wo sie sich schreiend und zankend einen Platz suchen müssen, während sie selber zweiter oder gar erster Klasse reisen.

      Otto kann die charakteristischen Rufe der Simitverkäufer vernehmen. Diese Sesamkringel sind äußerst beliebt und werden gern zu jeder Tages- und Nachtzeit verzehrt. Um Garküchen herum stehen Menschentrauben, um gegrillte Hackfleischbällchen und geröstetes Hühnchen mit etwas Gemüse und Fladenbrot schmatzend zu verspeisen oder es sich als Wegzehrung einpacken zu lassen. Daneben schlängeln sich die Wasser- und Teeverkäufer durch die Massen hindurch, um ihr köstliches Nass an den Mann und die Frau zu bringen. Danach ist es an der Zeit, sich den Lokumverkäufern zuzuwenden. Pakete von Lokum werden entweder als Nachtisch oder für unterwegs gekauft. Aber die meisten Käufer können nicht an sich halten und öffnen das Paket sofort, um sich wenigstens ein oder zwei grüne Lokum herauszuholen, die sie sich mit einem Grinsen im Gesicht in den Mund schieben.

      Ottos Diener Ali verstaut das Gepäck seines Herrn in dem komfortablen


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