Tödlicher Orient. Inka Claussen

Tödlicher Orient - Inka Claussen


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sie herauszuziehen. Es geht nicht. Entweder ist sie verschlossen oder aber sie klemmt. Vergeblich sieht er sich nach irgendwelchen Schlüsseln um. Dann schlägt er gegen die Schublade, aber zu viel Lärm darf er auch nicht machen. Wenn ihn jemand erwischt wie er in den privaten Räumlichkeiten des Verstorbenen wühlt, dann aber gute Nacht. Er will schon gehen, weil ihn der Gedanke, entdeckt zu werden, immer nervöser macht. Da unternimmt er intuitiv noch einen letzten Versuch. Noch einmal kniet Otto vor dem Sekretär und fühlt mit seinen Fingern unter die Schubladen. Auf der linken Seite nichts, rechts auch nichts. Oder doch?

      War da nicht eine kleine Unebenheit unter der letzten Schublade rechts unten? Er legt sich ganz auf den Boden, sieht unter die Schublade und erkennt einen angeklebten kleinen Schlüssel. Ottos Adrenalin schießt in die Höhe. Das muss er sein! Mit leicht zitternden Händen nimmt er den Schlüssel und versucht ihn in das Schloss der kleinen Schublade zu stecken. Nein, das gibt es doch nicht! Er passt nicht! Otto, ruhig bleiben, sagt er zu sich selbst. Noch einmal versuchen. Vor allem richtig herum muss der Schlüssel ins Schloss. Dann die Erleichterung. Es funktioniert doch. Langsam schließt er die Schublade auf und zieht sie hervor. Was ist drinnen?

      Anscheinend nur ein Buch. Was für eine Enttäuschung! Aber es ist kein Titel aufgedruckt. Also öffnet Otto das Buch. Nach einem ersten schnellen Durchblättern ist es Otto klar: Das ist das private Tagebuch des von Darius. Otto nimmt es an sich und blickt verstohlen erst nach rechts und dann nach links. Aber natürlich ist niemand hier. Wie ein gemeiner Dieb, der er nun ja auch ist, stiehlt er sich aus der Wohnung und kehrt auf leisen Sohlen in sein Reich zurück.

      Zurück in seinen Zimmern schenkt Otto sich zur Beruhigung der Nerven erst einmal einen doppelten Brandy ein. Das Brennen in der Kehle tut richtig gut. Öffnen oder nicht öffnen? Ottos Neugierde siegt dann recht schnell über seine moralischen Vorbehalte in dem Privattagebuch eines Verstorbenen unbefugt zu lesen und damit gewissermaßen in dessen Intimsphäre einzudringen.

      Von Darius’ Tagebucheinträge beginnen mit seinem Dienstantritt am 1. Oktober 1902. Zum Herbststellenwechsel wurde er nach Konstantinopel versetzt. Ottos Neugierde schlägt allmählich in Enttäuschung um. Nichts Interessantes zu lesen, ein paar private Gedanken, Kommentare zu dienstlichen Vorgängen und Berichte über das Wetter. Ungeduldig blättert Otto die zahlreichen Seiten durch.

      Schon ist er im Jahr 1908 angelangt, als sich die Jungtürken gegen die Herrschaft des Sultans durchsetzten und ihre Revolution starteten. Und noch eine Seite blättert Otto um. Da stockt er. Zurück. Da war doch was.

      Hier unter dem 3. September endlich ein Hinweis. Darius berichtet unter diesem Datum von schon seit Jahren in bestimmten Kreisen umlaufenden Gerüchten, dass eine altehrwürdige, aus byzantinischer Zeit stammende Kostbarkeit, die als verschollen galt, doch noch erhalten sein soll. Das muss von Darius’ Interesse geweckt haben. Fortan gibt es immer wieder in unregelmäßigen Abständen Eintragungen über diese Geschichte in seinem Tagebuch. Fast schon detektivisch hat sich von Darius der Sache angenommen. In den letzten Monaten vor seinem tragischen Tod verdichteten sich die Gerüchte. Von Darius ging einem Hinweis nach, dass ein ehrenwerter Kaufmann konkrete Informationen über die verschollen geglaubte Kostbarkeit habe, er aber sehr viel Geld dafür verlange, zu viel, viel zu viel für einen Kanzler der kaiserlichen Botschaft.

      Darius’ Enttäuschung ist anhand seiner Eintragungen im Tagebuch nachzuvollziehen. Doch dann nahm das Schicksal, das ihm später einen endgültigen Streich spielen sollte, zunächst einen positiven Verlauf. Aus seinen Einträgen geht hervor, dass er für ihn völlig überraschend gegen Ende des Jahres 1909 von einem entfernten kinderlosen Großonkel, der sein Geld an der Börse gemacht hatte, eine Erbschaft in ungeahnter Höhe erhielt. Wie elektrisiert agierte Darius in den nächsten Wochen, bis er dann unter dem 28. April, also nur wenige Tage vor seinem Tod, eintrug: »Endlich geschafft. Kaufmann getroffen, handelseinig geworden. Ein hübsches Sümmchen Geld hingeblättert für ein Rätsel. Ist es mir aber wert. Jetzt wird gesucht. Volle Kraft voraus!«

      So enthusiastisch hat Otto den eigentlich eher nüchtern-sachlichen Kanzler von Darius noch nicht erlebt, weder im wirklichen Leben noch in seinem Tagebuch. Das muss ihn wirklich bewegt haben. Otto holt das Schreiben hervor, das er vom toten Darius genommen hat. Jetzt will er alles in Ruhe noch einmal lesen und über die Sache nachdenken.

      Da unterbrechen laute Stimmen seine Gedanken. Die Pflicht eines Legationsrats in der kaiserlich-deutschen Botschaft ruft wieder. Hastig schiebt er den Brief in den Umschlag und steckt ihn in das erstbeste Buch, das er aus seinem Regal nimmt, Charles Morawitz’ Buch »Les finances de la Turquie«. Dahinter deponiert er die gefundenen Aufzeichnungen.

      Schnell hat der Alltag den Legationsrat Otto von Wesenheim wieder und er denkt nicht mehr an das seltsame Schreiben und das Tagebuch.

      Knapp zwei Monate später soll sich sein Leben ändern und zwar für immer. An jenem Tag wird Otto von Wesenheim zu seinem Chef, dem mächtigen und auch gefürchteten Botschafter Seiner Majestät Wilhelms II. im Osmanischen Reich, Ernst Freiherr von Hohenstein, gerufen.

      Von Hohenstein ist nun schon seit dreizehn Jahren Botschafter Seiner Majestät am Hofe des Sultans. Zuvor war er sieben Jahre lang Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Er verfügt über ausgezeichnete Kontakte zum kaiserlichen Hof in Berlin wie auch zu Seiner Majestät persönlich. Das wusste auch Sultan Abdülhamid II. und das weiß auch die jetzige Regierung der Jungtürken. Hohensteins Worte haben Gewicht.

      »Wesenheim, Seine Majestät haben geruht, mir aufzutragen, zu erkunden, wie es um die Lage an den äußeren Grenzen des Osmanischen Reiches bestellt ist. Seine Majestät planen, eine neue Militärmission nach Konstantinopel zu entsenden. Dazu bedarf es genauerer Informationen über den militärischen Zustand des Reiches und zwar auch in den Randgebieten. Wie Sie wissen, stehen auch die Heiligen Stätten von Mekka und Medina unter dem Schutz des Sultan-Kalifen. Wie ist die militärisch-politische Lage in diesem für die Moslems in aller Welt so außerordentlich bedeutenden Gebiet einzuschätzen?

      Mit dieser äußerst wichtigen, aber zugleich delikaten Aufgabe betraue ich Sie, Herr Legationsrat. Zugleich ist es Ihre Aufgabe herauszufinden, wie es um die neue Hedjasbahn, als Zweigstelle unserer Bagdadbahn, bestellt ist. Ist sie im Fall der Fälle geeignet, militärische Verstärkungen in die gefährdeten Gebiete um die Heiligen Stätten zu schaffen?

      Die Bahnlinie ist bis nach Medina fertiggestellt. Von da begeben Sie sich per Karawane nach Dschidda, wo es eine türkische Garnison gibt. Dort wartet unser Kontaktmann, der Kaufmann und Honorarkonsul Heinrich Voss auf Sie. Er ist vorab informiert worden und wird alles für Sie vorbereiten. Explorieren Sie in geeigneter Weise die dortigen militärischen Zustände und berichten Sie anschließend mir immediat.

      Wesenheim, Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie sich nicht exponieren mögen als offizieller Repräsentant Seiner Majestät. Auch wenn Seine Majestät sich in unnachahmlicher Weise Anno 1898 in Damaskus zum Schutzherrn der dreihundert Millionen Mohammedaner ausgerufen hat, soll Ihre Reise in keinerlei Weise Anlass für Misstrauen bieten. Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache. Noch Fragen, Wesenheim?«

      »Nein, Eure Exzellenz. Eure Exzellenz können sich ganz auf mich verlassen.«

      Eigentlich, denkt Wesenheim, verspüre ich gar keine rechte Lust, das doch sehr angenehme Leben hier in Konstantinopel gegen die Strapazen einer solchen Reise in den Orient für einige Zeit aufzugeben. Besonders ruft er sich dabei die kleine unauffällige Wohnung in der dunklen Seitengasse in Tarlabaşe, wo er in gewissen Abständen die Nacht verbringt, in Erinnerung. Dabei muss er unwillkürlich an Ayşe denken, wie sie sich so gekonnt und verführerisch ihres Schleiers entledigt, ihn dann mit ihren schwarzen Augen anschaut und anschließend …

      Aber weiter will Otto seine Gedanken nicht fortführen. Schließlich hat er einen Auftrag für Seine Majestät zu erfüllen. Nur das zählt jetzt. Je länger er darüber nachdenkt, desto mehr gefällt ihm der Auftrag. Eigentlich wollte er schon immer mit der Bagdadbahn fahren. Schließlich ist sie ein besonderes Projekt Seiner Majestät und eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst. Warum sich also nicht im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spuren der deutschen Weltpolitik im Orient begeben?

      Und dann ist da doch noch etwas. Plötzlich erinnert sich Otto an diesen mysteriösen


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