Tödlicher Orient. Inka Claussen

Tödlicher Orient - Inka Claussen


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feudalen Eindruck, auch ein paar Güterwagen fahren mit. Einer davon ist voller Rekruten, die ihren Dienst irgendwo im anatolischen Hochland antreten sollen oder vielleicht auch im fernen Dschidda?

      Dann ist es auch schon fast so weit. Da sieht er aus dem Augenwinkel, dass noch eine Dame mit eiligen Schritten und leicht hochgerafftem Rock an seinem Abteil vorbeischreitet. Diese rötlichen Haare und die Silhouette, irgendwie kommen sie Otto bekannt vor. Hat er sie schon einmal gesehen? Und wenn ja, wo war das bloß? Doch schnell vergehen ihm die Gedanken, denn jetzt ist es tatsächlich so weit. Abfahrt! Langsam setzt sich der Zug, gezogen von einer Lokomotive von Kraus Maffei aus München, in Bewegung. Klirrend und ratternd sucht er sich seinen Weg.

      Und nun taucht Otto von Wesenheim ein in eine andere Welt, erlebt sein ganz persönliches orientalisches Abenteuer. Zunächst geht es auf die dreihunderteinunddreißig Kilometer lange Strecke nach Eskişehir. Laut Fahrplan dauert die Reise zehn Stunden und fünfunddreißig Minuten. An den Vorstädten Konstantinopels vorbei windet sich der Zug Richtung Izmit mit prächtigem Ausblick auf die Prinzeninseln, das Marmara-Meer und die vorgelagerten Bergketten. Der Zug mit Otto von Wesenheim nimmt einen uralten Weg.

      Kreuzritter zogen hier auf ihrem Weg ins Heilige Land vorbei, Karawanen, Händler und Krieger bewegten sich auf ihm entlang. Die Strecke von Konstantinopel nach Izmit war begehrt und umkämpft, eine geschichtliche Hauptstraße sozusagen. Konstantin der Große liegt in Izmit begraben.

      Immer wieder fährt der Zug an den neu errichteten, ziegelgedeckten weißen Stationshäuschen vorbei, deren Namensschilder mit arabischen Schriftzeichen versehen und auch auf Französisch geschrieben sind, der zweiten Amtssprache im Osmanischen Reich. Pah, so Otto, warum nicht auf Deutsch? Das muss geändert werden. Und er macht sich eine Notiz. Aber immerhin grüßen die Bahnbeamten in Uniform teilweise schon nach deutscher Art.

      Der Bau der Bahnstrecke ist eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst und deutscher Baufirmen wie Philipp Holzmann. Erhebliche Schwierigkeiten mussten überwunden werden. Aus der Ebene steigt die Bahnlinie durch schroffes Felsgebirge auf eine Höhe von bis zu knapp neunhundert Metern an, um dann die anatolische Hochebene zu erreichen. Neben umfangreichen Flusskorrekturen und Uferschutzbauten wurden etliche Tunnel und eine große Anzahl von Brücken und Viadukten errichtet.

      Bis vor kurzem machten auch noch Räuberbanden und Wegelagerer schon kurz hinter Haidarpaşa den Reisenden zu schaffen. Aber nachdem auf Drängen von Hohensteins Militärpatrouillen die Gegend sichern, hat sich die Lage deutlich entspannt. Noch vor geraumer Zeit verkehrten die Züge der Bagdadbahn aus Sicherheitsgründen nur tagsüber, was die Fahrtzeit natürlich erheblich verlängerte.

      Schon bald entwickelt sich die Landschaft zu einer wilden Großartigkeit. Es geht entlang an tiefen Schluchten längs eines schäumenden Flusses, durch bewaldete Berge hindurch, aus deren Grün kahle Felsen aufragen. Dazwischen fruchtbares Land mit Feigen und Getreide.

      Dann fährt der Zug durch ein enges Tal mit zahlreichen bizarren Schluchten, gewaltige Felsmauern ragen bis zu dreihundert Meter senkrecht auf und lassen gerade Platz für die Bahntrasse. Unwillkürlich weckt dieser Anblick in Otto Karl-May-Fantasien. Auch exakt hier zogen die Kreuzfahrer vorbei und noch mehr: Dies ist zudem die alte Seidenstraße, jener berühmte Handelsweg, auf dem Marco Polo über Konya nach Bagdad und weiter nach China reiste. Otto auf seinen Spuren, jedenfalls ein bisschen.

      Die Bahn mit ihren schwankenden Waggons nimmt den Anstieg auf das siebenhundert bis achthundert Meter hohe Plateau und über Brücken und durch Tunnel erreicht Otto Eskişehir. Mit nur wenig Verspätung trifft der Zug am Eisenbahnknotenpunkt ein. Von hier kann man entweder nach Konya oder nach Angora fahren. Später sollte dieser Ort Ankara heißen und die Hauptstadt der Türkei werden. Jetzt aber ist er ein verschlafenes Nest mitten im anatolischen Hochland. Otto war noch nie in Angora und hat das auch nicht vor. Was soll er dort auch?

      Auf der Höhe von Eskişehir rechtzeitig zur Schlafenszeit betritt der Steward das Abteil und klappt die unbenutzten Polstersessel auf der rechten Seite des Waggons auseinander. Dann zieht er die weißen Laken darüber, streicht sie sorgfältig glatt und schüttelt die Kopfkissen aus. Auf das Fenstertischchen stellt er eine Wasserflasche mit einem Glas, dazu eine Banane und eine kleine Blechdose mit Keksen. Währenddessen starrt Otto unablässig aus dem Fenster. Er will den Steward nicht bei der Arbeit beobachten. Stattdessen verfolgt er, wie im Dunkeln die Funken aus dem Schornstein der Lokomotive sprühen und tänzelnd in der Nacht verschwinden. Als der Steward das Abteil verlassen hat, ist Otto froh, sich allmählich zur Ruhe begeben zu können. Das recht gleichmäßige Rattern des Zuges und das rhythmische Schlagen des Waggons auf den Nahtstellen der Gleise lassen Otto in einen dämmerungsähnlichen Schlaf sinken.

      Am nächsten Morgen steht das nächste Ziel an: Konya. Eine Strecke von vierhundertvierunddreißig Kilometern. Reisezeit dreizehn Stunden – Minimum.

      Verdutzt schaut Otto immer wieder aus dem Fenster und sieht Bahnstationen mit exotischen Namen, aber mit Bahnhäuschen, die auch im Schwarzwald stehen könnten. Zunächst führt die Strecke durch Hügelland, dann durch die Salzsteppe. Keine Spur von Menschen, keine Siedlung soweit man blicken kann, kein Tier, nicht einmal ein Vogel in der Luft.

      Otto sinkt auf der linken, schattigeren Seite des Wagens in den Polstersessel, der nachts zu einem ganz komfortablen Liegebett ausgezogen werden kann. Ein Steward betritt das Abteil und stellt wieder schweigend eine Wasserkaraffe und ein Glas auf den Tisch am Fenster. Otto schenkt sich Glas auf Glas ein, bis die Karaffe leer ist. Anschließend kippt er die Lehne nach hinten und fällt in einen leichten Schlaf.

      Dann aber tauchen ein paar Baumgruppen auf und es ertönt ein Pfeifen der Lokomotive, die rasch an Fahrt verliert. Otto schrickt auf. Eine Schafherde versperrt den Weg. Und so geht es weiter. Schon bald ist Otto genervt. Wieder bremst der Zug auf freier Strecke. Otto streckt seinen Kopf aus dem Abteilfenster. Nicht schon wieder. War es erst vor einer Stunde eine Schafherde, ist es jetzt schon wieder eine, die den Zug zum Anhalten zwingt. Gemächlich überqueren die Tiere die Gleise. Erst dann kann es weitergehen, vorbei an kleinen Dörfern mit ihren Lehmhäusern und flachen Dächern. Die Frauen in ihren Pumphosen sind allesamt verschleiert.

      Als Otto aus dem Fenster schaut, überschlägt er die Material- und Personalkosten dieses Jahrhundertbauwerks. Es muss eine fast schon unmenschliche Anstrengung für die tausende von Bauarbeitern bedeutet haben, in dieser unwirtlichen, harschen Landschaft ihre Arbeit zu vollrichten. Mit Schaufeln und Pickeln ausgerüstet haben sie monatelang geschuftet und sich geschunden. Ihre Hände, Finger, Schultern und Rücken müssen geschmerzt haben und doch ging es am nächsten Tag weiter. Immer weiter. Wochenlang. Monatelang. Geplagt von Fieber, Cholera und vor Entkräftung müssen etliche von ihnen gestorben sein. Zurück ließen sie ihre Frauen und Kinder, die ohne sie auskommen mussten. Er glaubt, den Klang der Vorschlaghämmer, das zischende Schleifen der Schaufeln, die Detonationen der Sprengungen zu hören; all das vermischt sich jetzt mit dem Stampfen der Lokomotive und mit dem unablässigen Rattern der Waggons, die über die Schienen vorwärtseilen. Nur damit er, Otto von Wesenheim, bequem seinem Ziel entgegenfahren kann. Für kurze Zeit macht sich ein sentimentales Empfinden bei ihm breit. Doch dann durchzuckt es ihn, er richtet sich auf und er wischt diese Gedanken fort. So ist nun einmal das Leben, denkt er kühl.

      Schließlich kann Otto von Wesenheim im Dunkeln Licht, Straßen und Menschen ausmachen. Konya ist erreicht. Allerdings liegt die Stadt selber zwanzig Minuten vom Bahnhof entfernt, sodass nur der Burghügel, die schlanken Minarette und die einstöckigen Häuser in der Ferne zu erkennen sind.

      Wie gerädert steigen die Fahrgäste aus den Waggons der ersten, zweiten und dritten Klasse aus. Die Wagen der dritten Klasse, in der auch Ottos Diener Ali reist, sind auch während dieses Reiseabschnitts überfüllt, einige Abteile teilweise verhangen, weil hier die Frauen ihren Platz haben. Strikt getrennt von ihnen reisen die anatolischen Bauern, einige Popen, Soldaten und Gendarmen.

      Auch die Abteile der zweiten Klasse sind gut gefüllt. In ihnen sind zum großen Teil türkische Offiziere und Militärärzte sowie Kaufleute und auch ein Derwisch in seinem langen Mantel unterwegs. Auch drei Armenier und zwei Juden befinden sich unter den Reisenden. In der ersten Klasse fahren neben unserem Legationsrat alias orientalischem Gelehrten Otto von Wesenheim, ein türkischer Generalmajor, dann ein vornehmer, zurückhaltender


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