Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier
Mal: im Februar 1935.113 In den restlichen Monaten hat er sich wohl nicht durchgängig genug in Brünn aufgehalten, um es auf die Liste zu schaffen. Regelmäßig schickte Papanek aus London oder Paris Berichte über Treffen mit internationalen Sozialisten an Otto Bauer und Fritz Adler. Im Oktober 1935 teilte das ALÖS-Büro dem Genossen Papanek dann höflich mit, »dass von Prag eine Anfrage gekommen ist, ob Du noch immer die Flüchtlingsunterstützung von Brünn beziehst. Die Prager Genossen haben nämlich davon Kenntnis erhalten, dass Du Dich seit einigen Monaten im Auslande befindest. Was sollen wir tun? Es wird uns aber nicht nur aus diesen Gründen sehr freuen, sondern weit mehr noch aus freundschaftlichem Interesse zu hören, was Du machst und welche Pläne Du für die Zukunft hast.«
Papaneks Zukunftspläne befassten sich in der zweiten Hälfte seines Exils wieder vermehrt mit der Pädagogik. Unter anderem leitete er ein Ferienlager in Belgien, lehnte aber eine Berufung an die Universität von Teheran und eine Einladung der Clark University in Amerika ab, weil er nahe an Brünn und Österreich bleiben wollte.114 Am 6. November 1936 fügte Ernst Papanek seinem Lebenslauf dann noch den »Herausgeber« hinzu: Er gründete eine Zeitung für Erziehungsfragen.115 Die Internationale Pädagogische Information (kurz IPI) erschien monatlich in drei Sprachen und verwendete umfangreiches Material aus der Bibliothek des Völkerbundes in Genf – mit ein Grund, warum Papanek so viel Zeit in der Schweiz verbracht hatte. Im Vorwort erklärte er: »Die Internationalen Pädagogischen Informationen berichten über Probleme und Veränderungen auf dem Gebiet der Erziehung und des Schulwesens aus allen Ländern der Erde.«116 Die IPI war zwar nicht per se eine sozialdemokratische Zeitung, aber behandelte viele Erziehungsfragen unter sozialistischen Gesichtspunkten und kritisierte die pädagogischen Konzepte von autoritären Regimen. Die Bandbreite der Artikel reichte von »Musik im Gesamtplan der Erziehung« bis hin zu »Wanderlehrer und Massenerziehung am Beispiel von Island und China«.
Das Blatt wurde von Pädagogen und in sozialistischen Zeitungen gelobt, kämpfte aber von Anfang an mit Geldproblemen und erschien nur zwei Jahre. Während Papanek an der IPI arbeitete, verlegte er seinen Wohnsitz nach Paris. Er lebte in der Rue de la Glacière, unweit der berühmten Katakomben. In Paris war Papanek in guter Gesellschaft. Die Stadt an der Seine war bereits seit 1933 das Hauptfluchtziel der deutschen Emigranten, vor allem viele berühmte Schriftsteller und Künstler zog es hierher.117 Im Juli 1936 gewannen in Frankreich erstmals die Linksparteien die Wahlen und der Sozialist Léon Blum wurde Premierminister. Die neue Regierung erleichterte politischen Flüchtlingen den Aufenthalt und stellte vielen von ihnen behelfsmäßige Ausweisdokumente aus. Auch Ernst Papaneks Pass war abgelaufen. Am österreichischen Konsulat erklärt man ihm, dass er einzig für die Einreise nach Österreich einen Pass erhalten könnte – wo er sich dann aber in Wien sofort der Polizei stellen müsste.118 Also besorgte Léon Blum seinem sozialistischen Genossen einen französischen Ausweis. Für die Arbeit in Frankreich und Brünn hätte es auch ein sogenannter »Nansen-Pass« getan, wie ihn die meisten Flüchtlinge erhielten, aber für Papaneks nächste Aufgabe bot ein französischer Pass mehr Sicherheit.119 Denn diesmal ging es nach Spanien.
Im Juli 1936 war der Spanische Bürgerkrieg ausgebrochen. Die Putschisten Francos standen, assistiert von der katholischen Kirche, Hitler und Mussolini, den Republikanern gegenüber, die von der Sowjetunion und den Internationalen Brigaden unterstützt wurden. Rund 50.000 internationale Kommunisten und Sozialisten kämpften in Spanien für die Demokratie; Österreich stellte mit mehr als 2.000 Freiwilligen das im Verhältnis zur Bevölkerungszahl größte Kontingent. Viele ehemalige Schutzbündler schlossen sich den Internationalen Brigaden an, allen voran Schutzbundobmann Julius Deutsch.120
Ernst Papanek reiste das erste Mal im Januar 1937 nach Spanien, zum Kongress der Spanischen Sozialistischen Jugend in Valencia. Bei dem Treffen vertrat Papanek – wieder unter dem Decknamen Ernst Pek – die Sozialistische Jugendinternationale (SJI) und versprach den Spaniern Unterstützung. Ausführlich berichtete er danach der SJI-Führung über den seiner Meinung nach gefährlich großen Einfluss der Kommunisten und der Sowjetunion auf die spanischen Republikaner. Im Zuge seiner Reise fuhr Papanek von Valencia bis nach Barcelona. »Von der Architektur der Städte sieht man gar nichts, nur Plakate, Transparente, Fahnen«, beschrieb er seine Eindrücke in dem Bericht. »Die wenigsten Aufschriften, die wenigsten Plakate von den Sozialisten. Das ist anfangs niederschmetternd und verwirrend. Erst nach dem dritten Tag bemerkte ich die intensive Arbeit unserer Genossen, die den Versuch machen, sich von der laut schreienden und schon ein wenig abgenützten Propaganda der anderen [der Kommunisten] zu distanzieren.«121
Im Juli 1937 reiste Papanek als Teil einer SJI-Delegation erneut nach Spanien, diesmal war das Ziel Madrid. In einer Besprechungspause posierten die Teilnehmer auf einer Terrasse für ein zukunftsweisendes Bild. Die abgebildeten Sozialisten sollten alle im Nachkriegseuropa entscheidende Rollen spielen: Erich Ollenhauer wurde langjähriger SPD-Vorsitzender, Wim Thomassen Bürgermeister von Rotterdam, Torsten Nilsson schwedischer Außenminister und Hans Christian Hansen Ministerpräsident Dänemarks. Wie bei fast allen Gruppenfotos in seinem Leben stand Papanek in der hinteren Reihe und lugte spitzbübisch, fast schon koboldhaft, über die Schultern wesentlich größerer Menschen.
Von 1936 bis 1938 war Ernst Papanek für die Koordination von Hilfsleistungen der Arbeiter-Internationalen und ihrer Untergruppen zuständig. »Viele hunderte von Tonnen von Lebensmitteln, Wäsche und Kleidern wurden auf diese Weise nach Spanien gebracht; in der anderen Richtung […] wurden hunderte von Kindern, deren Eltern im Kriege umgekommen waren, nach Frankreich und zum Teil auch nach England gebracht«, fasste er seine Arbeit 1966 zusammen.122 Erstmals sammelte der Pädagoge hier Erfahrungen in der Arbeit mit Flüchtlingskindern.
Ernst Papanek selbst nahm nie eine Waffe in die Hand. Das hieß aber nicht, dass seine Aufenthalte in Spanien gänzlich ungefährlich waren. Vor allem, weil der »Feind« nicht immer der war, den man erwartete. Bei einer seiner Reisen hatte Papanek den Auftrag, eine Waffenlieferung zu überwachen. Die französischen Sozialisten schmuggelten regelmäßig Waffen nach Spanien – doch diese kamen nie an. Der Österreicher sollte der Sache auf den Grund gehen. Die Ursache des Problems war schnell gefunden: Papanek beobachtete, wie Eisenbahner an der Grenze die Kisten übermalten und »Grüße von Euren russischen Freunden« darauf schrieben. Die sozialistischen Waffen kamen also an, nur dass die Kommunisten die Lorbeeren dafür einheimsten. Also ging Papanek in Madrid zu einem der sowjetischen Politkommissare und stellte ihn zur Rede. Der Kommissar betonte zuerst die Wichtigkeit der Einheit der Internationalen Brigaden, dann ging er dazu über, Papanek zu drohen: Er wisse, wo sein Hotel sei und übrigens, wie gehe es der Familie, Lene und den zwei Söhnen? Ernst Papanek ließ sich nicht einschüchtern, war aber trotzdem so beunruhigt, dass er im Hotel seinen Kopfpolster unter die Bettdecke legte und sitzend unter dem Fenster schlief – falls jemand nachts auf das Bett schießen sollte.
Seiner Frau brauchte Papanek von der ganzen Affäre erst gar nicht zu erzählen. Lene machte sich sowieso schon genügend Sorgen. »Meine Mutter war eine Pessimistin«, sagte mir Gus Papanek. »Sie wollte nicht, dass Ernst nach Spanien ging. Sie wollte nicht, dass er nach Danzig ging. Ernst war mutig und absolut von seinen Ansichten und Ideologien überzeugt. Und dabei ging er Risiken ein, die Lene ablehnte. Aber Ernst konnte sehr stur sein. Wir nannten ihn Keraban der Starrkopf nach dem Roman von Jules Verne.«
***
Am 12. Februar 1938, auf den Tag genau vier Jahre nach Beginn der Februarkämpfe, zitierte Adolf Hitler den österreichischen Kanzler Kurt Schuschnigg in den Berghof am Obersalzberg. Das austrofaschistische Regime hatte in den letzten Jahren zunehmend unter dem außenpolitischen Erstarken Deutschlands gelitten. Nun zwang Hitler Schuschnigg durch unverhüllte Drohungen dazu, das »Berchtesgadener Abkommen« zu unterzeichnen. Es stärkte die österreichische NSDAP und machte den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister.123
Paradoxerweise war es genau diese erzwungene »Annäherung« zwischen Schuschnigg und Hitler, die den Sozialdemokraten Hoffnung machte. Erstmals seit Jahren gab es nun Gespräche zwischen den Christlichsozialen und den illegalen Revolutionären Sozialisten, die eine Zusammenarbeit im Kampf gegen Hitler zusagten.