Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier
kreativen Decknamen »Ernst Pek«.
In seiner nicht einmal ein Jahr währenden Amtszeit als SAJ-Obmann hatte Papanek in Wien viele Vorbereitungen für die Illegalität getroffen. Als besonders wichtig stellte sich nun heraus, dass er alles Adressmaterial ins Ausland hatte bringen lassen. Der Exilant stand in ständigem Kontakt mit den RSJ-Mitgliedern: Man schrieb sich an Deckadressen oder verwendete wie im Spionagefilm unsichtbare Tinte. Außerdem traf sich Papanek regelmäßig mit vielen Junggenossen, um Berichte aus der Heimat zu erhalten und um sie bei ausländischen Sozialisten einzuführen. Bruno Kreisky, Schella (Hella) Hanzlik und Otto Probst etwa sah er regelmäßig in Brünn oder Ungarn. Eine weniger gefährlichere Variante war es, sich an der österreichisch-schweizerischen Grenze »zufällig« in Almhütten zu treffen. Wenn Grenzbeamte vorbeikamen, beteuerte man einfach, man habe sich beim Wandern verirrt.
Obwohl es viel Kontakt zwischen dem ALÖS und den illegal agierenden Revolutionären Sozialisten gab, kam es in den folgenden Jahren immer wieder zu Konflikten. Einerseits ging es um Führungsansprüche innerhalb der Sozialdemokratie, andererseits um die Nähe der Revolutionären Sozialisten zu den Kommunisten. Vor allem Joseph Buttinger, ab 1935 Obmann der RS, hatte im Nachhinein nicht viel Gutes über die Exilanten zu sagen. Sein 1953 erschienenes Buch Am Beispiel Österreichs sorgte in SPÖ-Kreisen für viel Unruhe und Verstimmung. Buttinger erwähnt Ernst Papanek in dem Buch in einem Nebensatz über die RS-Jugend: »Von ihrem alten Führer Papanek redeten sie in einem fürchterlichen Ton, weil er sich vom Ausland her in ihre Propaganda einmische.«101 In einem Briefwechsel mit dem Historiker Wolfgang Neugebauer nahm Papanek 1968 dazu Stellung: »Ich habe niemals angenommen, dass sie auf mich zu hören hätte[n], noch habe ich jemals herausgefunden, dass wir nicht völlig aufeinander eingestellt waren. Im Gegenteil.«102
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Otto Binder – RSJ-Mitglied und späterer Schwiegervater von Bundespräsident Heinz Fischer – erklärte 1991, dass sich Papanek und viele andere ALÖS-Mitglieder als »legitime Vertreter der verbotenen Partei betrachteten«, was die Revolutionären Sozialisten kritisierten. Mit einem Kollegen traf Otto Binder Papanek in Bratislava, um ihm klarzumachen, dass die Führung einer illegalen politischen Bewegung im Lande liegen sollte. »Diese Reise war für uns beide äußerst peinlich, […] weil Ernst Papanek für uns alle ein sehr hochgeschätzter, ja geliebter Freund einer etwas älteren Generation war und wir uns klar darüber waren, dass wir ihm nicht nur persönlich sehr weh tun werden, sondern wir ihm damit auch den letzten Rest seiner politischen Geltung nehmen.«103 Trotz des schwierigen Gesprächs schieden die Jungsozialisten als Freunde. Zeit seines Lebens redete Otto Binder häufig und sehr positiv von Papanek, bestätigte mir sein Schwiegersohn Heinz Fischer.
Im Zuge seiner Tätigkeit reiste der Exilant Ernst Papanek sehr viel. Allein im Frühjahr und Sommer 1934 pendelte er mehrmals zwischen Brünn, Prag, Genf, Zürich, Karlsbad und Marienbad. Am Sonntag, dem 9. September 1934, wurde Papanek dann zum ersten Mal seit seiner Jugend verhaftet.
Er kehrte gerade von einem Schulungstreffen im tschechoslowakischen Mährisch-Trübau (Moravská Třebová) in die Schweiz zurück, als man ihn in Schaffhausen anhielt.104 Die Schweizer Fremdenpolizei hatte seit Längerem Papaneks Briefe geöffnet, ohne dass er es gemerkt hatte. Scheinbar hielt man ihn fälschlicherweise für den Schweizer Führer der österreichischen Untergrundbewegung. Außerdem warf man ihm zu Recht unerlaubte Grenzübertritte nach Österreich vor.
Mehrere Tage verbrachte Papanek im Gefängnis, dann wurde ihm ein Einreiseverbot erteilt. Offenbar war es den Schweizer Behörden aber sehr unangenehm, dass Papanek Beschwerde gegen das Verletzen des Briefgeheimnisses einlegte, und so wurde er nicht automatisch des Landes verwiesen. »Ich verließ jedoch die Schweiz nach zwei Monaten, da ich keinerlei Bewegungsfreiheit hatte, und Leute, die mit mir zusammen gesehen wurden, von der Polizei verhört wurden«, berichtete Papanek später. (Die Einreisesperre wurde erst 1947 wieder aufgehoben.105)
In der Schweiz war der Exilpolitiker noch glimpflich davongekommen, im Jahr darauf hatte er weniger Glück.
Im Januar 1935 reiste Papanek im Auftrag von Fritz Adler und der Sozialistischen Arbeiter-Internationalen nach Danzig (Gdańsk), um die dortigen Genossen bei den Wahlen zu unterstützen.106 Seit Ende des Ersten Weltkriegs galt Danzig nominell als »Freie Stadt« unter dem Schutz des Völkerbundes. Bereits 1933 hatte die NSDAP aber die Mehrheit bei Wahlen erhalten und im Wahlkampf 1935 behinderten die Danziger Nationalsozialisten alle Veranstaltungen der demokratischen Parteien vehement.
Papanek wurde wegen seiner Erfahrung als Wahlkämpfer in umkämpften Gebieten wie dem Burgenland für die Arbeit in Danzig ausgewählt. Außerdem glaubte man, dass er als Österreicher sicherer vor Verhaftung sei als deutsche Sozialdemokraten. Warum man es für eine gute Idee hielt, einen Politiker mit jüdischen Wurzeln in das nationalsozialistische Wespennest zu schicken, sei dahingestellt.
Fünf oder sechs Wochen lang hielt Ernst Papanek illegal Reden und half, die Untergrundarbeit in Danzig zu organisieren. Dann verriet ein Spitzel ein Treffen in einem über den Winter geschlossenen Gasthaus in den polnischen Dünen. Papanek versuchte zu fliehen, ergab sich aber, als er sah, dass seine Gegner mit Maschinengewehren bewaffnet waren. »Der Führer der Nazis war froh, dass ich keinen Widerstand leistete und verhinderte nicht, dass ich ein paar ›heroische‹ Worte sagte wie: […] ›Der Sieg wird unser sein! Freiheit!‹«, erzählte Papanek später.107
Die Danziger Nationalsozialisten waren kein Vergleich zur sittsamen Schweizer Fremdenpolizei. Für Papanek begann die schlimmste Zeit seines Lebens: Die Nazibeamten verhörten ihn nächtelang, ließen ihn acht Stunden am Stück Appell stehen und zwangen ihn, nackt zu schlafen. »Nach Danzig war ich eine völlig andere Person«, erzählte Papanek dreißig Jahre später in einem Interview. »Ich war ganz blau und gelb und grün, als hätten sie meinen ganzen Körper zu Brei geschlagen.«108 Den Rest seines Lebens litt er als Folge der Haft an Nierenproblemen.
Papaneks größte Angst war, dass die Nazis ihn einfach verschwinden lassen würden. Um zumindest Aussicht auf ein öffentliches Gerichtsverfahren zu bekommen, entschloss sich der Sozialdemokrat, in Hungerstreik zu treten. Und tatsächlich: Die Wächter behandelten ihn nun mit mehr Respekt und folterten ihn weniger häufig. Ganze acht oder neun Tage lang hielt Papanek den Hungerstreik durch – weil er vorgesorgt hatte. Tagelang hatte er Brot gehortet und unter dem Klodeckel versteckt. Er hatte nicht viel zu essen, aber genug, um die Hungerstreikfarce aufrechtzuerhalten.
Der 34-Jährige sah sich selbst als ehrlichen Mann und fand es unmoralisch zu lügen. Im Umgang mit den Nazis galten für ihn jedoch andere Regeln. »Es war ihm sehr wichtig, diesen Unterschied zu machen«, erinnerte sich sein Sohn Gus. »Dass man normalerweise ehrlich ist und nicht lügen darf und so weiter, aber wenn man mit Verbrechern zu tun hat, dann gilt das nicht.«
Ernst Papanek hatte noch Brot für zwei oder drei Tage, als er von einem Wachmann aus seiner Zelle geholt wurde. Der Mann schlug ihn, beschimpfte ihn und zerrte ihn dann zu einer Tür. »Renn!«, sagte der Mann und verschwand. Papanek zögerte.
Mehr noch als alles andere war es Papaneks Optimismus, der ihm in Danzig das Leben rettete. Woher sollte er wissen, was hinter der Tür lag? Die Freiheit? Oder ein Erschießungskommando? Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass die Nationalsozialisten unliebsame Häftlinge »auf der Flucht« erschossen, um einen Mord zu vertuschen. Aber Papanek glaubte an das Gute im Menschen – und war mutig genug, das Risiko auf sich zu nehmen. Er öffnete die Tür.
Abgemagert und unrasiert trat er hinaus. Erst ein paar zögerliche Schritte, schließlich schneller. Dann standen plötzlich zwei Männer aus dem Danziger Untergrund vor ihm und brachten ihn weg. Papanek war in Sicherheit. Er hatte überlebt. Der brutale Wachmann stellte sich als heimlicher Rekrut des Widerstands heraus.
Die Genossen schmuggelten Papanek nach Dänemark. Am 7. April 1935 gewann die Danziger NSDAP 59,3 Prozent der Stimmen. Trotz des Terrors gegen politische Gegner und weitverbreiteter Wahlfälschungen war es ihr nicht gelungen, die prognostizierte Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Noch gab es eine Demokratie in Danzig.
Ernst Papanek selbst sah sich durch die Erlebnisse in seinem Optimismus und in seinem unerschütterlichen