Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier
Ernst Papanek in der Fango-Klinik. Montagmorgen erreichten Berichte aus Linz die Hauptstadt: Bei der Durchsuchung des Linzer Parteisekretariats hatten dort stationierte Schutzbündler das Feuer auf die Polizei eröffnet. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wie ein Flächenbrand breiteten sich nun die Unruhen aus. Um 11:46 Uhr gab das Abschalten des Stromes in Wien das Signal zum geplanten Generalstreik. Lene Papaneks Bruder Alex raste mit seinem Motorrad zum Flötzersteig, um Gustl und Schorschi zu holen – bei den Großeltern in der Klinik war es sicherer als in der sozialdemokratischen Siedlung. Ernst Papanek wollte sich gerade auf den Weg ins Rathaus machen, wo eine Sitzung der Personalkommission anstand, als er ins Büro der SAJ beordert wurde. Die Parteizentrale war bereits von Heimwehr und Polizei besetzt, das SAJ-Büro aber noch nicht, weil es etwas abseits lag. Der SAJ-Obmann verbrannte gemeinsam mit ein paar Junggenossen alles belastende Material und schaffte es, aus der Hintertür hinauszuschlüpfen, als vorne gerade die Polizei das Büro stürmte.
Gegen 13:00 Uhr kam es in Sandleiten zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen. Von Anfang an kämpften die Sozialdemokraten jedoch mit Kommunikationsschwierigkeiten, ein landesweiter Generalstreik blieb aus. Die Unruhen beschränkten sich im Wesentlichen auf die Arbeiterbezirke Wiens sowie die oberösterreichischen und steirischen Industriezentren. 10.000 bis 20.000 Arbeiter standen einer Übermacht von annähernd 60.000 Mann aus Polizei, Heimwehr und Bundesheer gegenüber, die noch dazu wesentlich besser bewaffnet war. Die Polizei setzte Panzer und Minenwerfer ein, um besetzte Gemeindebauten zu erobern. Gegen Mittag verbot die Dollfuß-Regierung die Sozialdemokratische Arbeiterpartei sowie all ihre Nebenorganisationen und verhaftete fast den gesamten Parteivorstand.
Die Wiener Polizei führte minutiös Protokoll über Hunderte von Zwischenfällen an diesem Tag. »15:35 Uhr: In der Nationalbank werden von Privatpersonen auffallend viele Geldbeträge abgehoben./15:50 Uhr: Von der Siedlung Hetzendorf fahren die männlichen Bewohner in Autos in der Richtung gegen die Stadt./16:30 Uhr: In Sandleiten wurden Schützengräben ausgehoben.«
Ernst Papanek versuchte zum vereinbarten Treffpunkt auf dem Wienerberg zu kommen, schaffte es aber nicht mal ansatzweise in die Nähe. Stattdessen fuhr er zum Rathaus, um Bürgermeister Karl Seitz zur Flucht zu bewegen. Seitz jedoch weigerte sich, klein beizugeben, und blieb in seinem Büro, wo er später verhaftet wurde. Papanek verließ das Rathaus über den privaten Aufzug des Bürgermeisters und lief beim Ausgang der Polizei und Heimwehrleuten in die Arme. Der Portier des Rathauses schimpfte Papanek vor deren Augen laut einen »unverschämten Presseagenten« und ermöglichte ihm so die Flucht, bevor die Polizei erkannte, wer er wirklich war. Am selben Tag versuchten Beamte, Papanek in seinem Haus am Flötzersteig zu verhaften, fanden ihn aber nicht vor.
Gegen Abend beruhigte sich die Lage etwas. Am 13. Februar, dem Faschingsdienstag, notierte die Polizei: »Einzelne Bäckereibetriebe arbeiten.« Am zweiten Tag der Kämpfe verbot das Bundeskanzleramt die Sozialistische Jugend, der Auflösungsbescheid war an Ernst Papanek adressiert. Allen SAJ-Mitgliedern, die sich weiterhin engagierten, drohten 2.500 Schilling Strafe und ein bis sechs Monate Arrest.92 Am Vormittag durchsuchte die Polizei die gesamte Fango-Heilanstalt auf Waffen und Sprengstoff, fand aber nichts. Ernst Papanek war zu diesem Zeitpunkt in der Klinik und begegnete den Polizisten im Stiegenhaus. Die Beamten grüßten ihn höflich und gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu verhaften. Ob es politisch sympathisierende Polizisten waren oder ob sie sich für Papaneks Engagement während ihrer Gehaltsverhandlungen im Gemeinderat revanchieren wollten, ist unklar.
Am selben Tag gelang es Otto Bauer und Julius Deutsch, dem Obmann des Schutzbundes, in die Tschechoslowakei zu fliehen. Der Schutzbund war nun quasi führerlos und reguläre Parteifunktionäre mussten übernehmen: Ernst Papanek fand sich plötzlich als Leiter einer Schutzbundkompanie wieder. Gemeinsam mit den Genossen versuchte er zum Karl-Marx-Hof oder einem anderen Zentrum des Widerstands zu kommen, aber Heimwehr und Armee versperrten alle Wege. Dann fuhren plötzlich die Straßenbahnen wieder – der Streik war gebrochen. Papanek wies seine Kompanie an, die Waffen zu verstecken und in Zivil nach Hause zu fahren. Als später Gerüchte aufkamen, aus Wiener Neustadt sei Verstärkung am Weg, machte er sich furchtbare Vorwürfe, den Kampf verfrüht beendet zu haben. Aber die Gerüchte blieben nur Gerüchte – es war vorbei.
Im Jahr 1939 verbietet die NSDAP die Wiener SAJ und schickt den Auflösungsbescheid an Ernst Papanek – obwohl der zu diesem Zeitpunkt bereits seit über fünf Jahren im Exil lebt.
Am 15. Februar, vier Tage nach Beginn der Unruhen, endeten die Februarkämpfe. Dollfuß erklärte sich zum »Herrn der Lage«. Mehr als 350 Menschen waren während der Kämpfe umgekommen, ein Drittel davon Zivilisten. Neun Schutzbündler wurden standrechtlich hingerichtet. Auf Verordnung der Polizei durften die Todesanzeigen nichts Politisches enthalten, sondern mussten Formulierungen wie »einem tragischen Geschicke zum Opfer gefallen« enthalten.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Februar kehrte Ernst Papanek noch einmal in die Fango-Klinik zurück und weckte seine kleinen Söhne. Nacheinander verabschiedete er sich vom siebenjährigen Gustl und vom fast dreijährigen Schorschi, die aber beide den Ernst der Lage nicht wirklich verstanden. Dann verbrachte er einige Minuten mit Lene, anschließend ging es zum Bahnhof. Papanek war klar, dass er das Land verlassen musste.
Später hieß es oft, dass Papanek fliehen musste, weil ein Haftbefehl gegen ihn vorlag und weil das Dollfuß-Regime ihn zum Tode verurteilt hatte. Fälschlicherweise wurde ihm angelastet, für die Kämpfe beim Viktor-Adler-Heim in Mauer verantwortlich zu sein. Außerdem hieß es, er habe den Meidlinger Schutzbund beim Angriff auf den Meidlinger Bahnhof angeführt.
Im Österreichischen Staatsarchiv liegen heute 16 Kartons mit den Februar-Akten der Polizei und des Bundeskanzleramts. Konkrete Hinweise auf ein Todesurteil oder die Hintergründe eines Haftbefehls finden sich darin nicht. Zwei Dokumente weisen aber darauf hin, dass das Dollfuß-Regime Papanek wirklich verhaften wollte. In einem im Dezember 1934 erstellten Verzeichnis über die in »Gewahrsam […] befindlichen soz.dem. Mandatare« findet sich Papaneks Name, der aber händisch durchgestrichen wurde. Eine zweite Liste, die für Propagandazwecke angefertigt wurde, vermerkt ihn als »flüchtig«.
Es sollte fast zwei Jahrzehnte dauern, bis Ernst Papanek erstmals wieder Wiener Boden betrat.
5.
Im Exil
Im März 1934 bittet das Bundeskanzleramt im Namen von »Frau Bundeskanzler« Alwine Dollfuß um eine »Liste aller im Zusammenhang mit der Februarrevolte verhafteten, geflohenen und abgängigen Personen«, die diese zu Propagandazwecken einsetzen will. Ernst Papanek ist hier mit Bleistift als »flüchtig« vermerkt.
Am 15. Februar 1934 bestieg Ernst Papanek einen Zug nach Budapest.93 Der 33-Jährige spekulierte darauf, dass niemand einen sozialdemokratischen Flüchtling in einem Zug ins autoritär regierte Ungarn vermuten würde. Als zusätzliche Sicherheitsvorkehrung wurde Papanek von einer Cousine Lenes begleitet. Diese hatte einen französischen Pass, war äußerst charmant und sollte im Fall der Fälle mit den Grenzbeamten flirten.
In Raab (Győr) stieg Papanek aus und fuhr mit dem nächsten Zug nach Pressburg (Bratislava), wo er Otto Bauer und Julius Deutsch traf. Lene, Gustl und Schorschi hatten Ernst nicht begleitet, weil man fälschlicherweise davon ausging, die exilierten Politiker könnten ohnehin bald zurückkehren. Außerdem verdiente Lene in Wien den Familienunterhalt – in den nächsten Jahren würde sie ihren Ehemann finanziell im Exil unterstützen.94
Am 18. Februar 1934 übersiedelte der geflohene Rest der Parteiführung von Bratislava nach Brünn und gründete dort das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten, kurz ALÖS.95
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Brünn (Brno) liegt nicht weit von Wien entfernt, mit dem Zug sind es heute knapp eineinhalb Stunden. An einem nebelverhangenen Freitag im Januar 2020 wandle ich hier auf den Spuren der Exilanten von einst. Es ist nicht