Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier
2010 gibt es hier den Waschsalon, ein Museum über das Rote Wien und seine Errungenschaften. Durch ein schmales Stiegenhaus geht es zu einer Tür mit der Inschrift »Männerbad 2. Kl.«. Vom Bad selbst ist heute nichts mehr übrig; das modern renovierte Museum präsentiert sich mit ansprechend gestalteten Tafeln und Vitrinen voller Objekte.
»Die vier Figuren beim Haupteingang vom Karl-Marx-Hof stehen für die sozialdemokratischen Tugenden: Aufklärung, Befreiung, Fürsorge und Körperkultur«, erklärt ein älterer Herr mit graumeliertem Haar, der ehrenamtlich Führungen durch den Waschsalon anbietet. Gut zwanzig Menschen stehen im Kreis um ihn, darunter auch einige Italiener und Amerikaner. Im Schnellschritt geht es durch die Meilensteine der Sozialdemokratie in Wien, angefangen mit der 1848er-Revolution.
»Das Rote Wien hat sich dann 1919 durch die ersten freien Wahlen institutionalisiert«, fährt der Herr fort und beginnt beeindruckende Zahlen herunterzurattern: In den 15 Jahren seines Bestehens wurden im sozialdemokratischen Wien über 60.000 Gemeindewohnungen, 89 Kindergärten, 25 Bäder und das Praterstadion gebaut. Voller Tatendrang setzte die Stadtregierung Steuererleichterungen für die unteren Schichten durch, reformierte die Bildung und halbierte die Säuglingssterblichkeit.64 Gegenüber der Vorkriegszeit stieg die Lebenserwartung um ganze 19,5 Jahre. 1934 wohnten 250.000 Menschen, also jeder achte Wiener, in einer neugebauten Sozialwohnung, deren Grundriss im Waschsalon am Boden aufgezeichnet ist. Finanziert wurde das Ganze durch eine von Finanzstadtrat Hugo Breitner erdachte Reichensteuer auf »alles, was nach Luxus riecht«: Champagner, Pferde, Autos und Hauspersonal.
Nach der einstündigen Führung kaufe ich mir einen roten Topflappen mit den drei weißen Pfeilen der Sozialistischen Jugend. Gehäkelt von der »Fleißigen Biene«, einer SPÖ-Frauengruppe, hängt er jetzt an meiner Wand und begleitet mich beim Schreiben über Ernst Papanek.
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Durch die atheistisch-sozialistische Erziehung der Papaneks entstand ein spannender Feiertagskalender: Geschenke gab es an Weihnachten und Geburtstagen, aber der Höhepunkt des Jahres lag im Frühling. Am 1. Mai.
Der »Tag der Arbeit« wurde in Wien erstmals 1890 gefeiert, damals noch verboten von der kaiserlichen Regierung. Seit 1922 gab (und gibt) es die zentrale Maifeier vor dem Rathaus, nachmittags trafen sich die Arbeiter meistens im Prater. »Vom frühen Morgen an brummte unser ganzes Haus vor Aufregung«, beschrieb Gustl Papanek den Feiertag in einem Schulaufsatz.65 Während sein Vater in Arbeiterbezirken Reden hielt, schaute der kleine Gustl ständig zur Tür und auf die Uhr, so aufgeregt wie manches Kind heute auf das Christkind wartet: »Endlich war es Zeit und stolz betrat ich eine Straßenbahn und schwenkte die ganze Zeit eine kleine rote Fahne.« Beim Rathaus angelangt, beobachtete Gustl an der Hand seiner Mutter die vorbeimarschierenden Arbeiter, »überzeugt, dass das ganze Spektakel nur für mich allein veranstaltet wurde«. Ein ganz besonderes Erlebnis für den damals Sechsjährigen war der 1. Mai 1933: »Ernst nahm mich mit zu den Reden und stellte mich dem Bürgermeister Seitz vor«, erzählte mir Gus Papanek. »Und der Bürgermeister sagte zu mir: ›Ah, du bist ja der kleine Papanek.‹ Das machte einen großen Eindruck auf mich.«
Die Maifeiern waren das Aushängeschild des Arbeiterstolzes. Aber nicht nur Feiertage polarisierten Ende der 1920er Jahre. »Es war damals eine hochpolitische Zeit«, erklärte mir Heinz Weiss von den Kinderfreunden bei unserem Gespräch. »Man muss sich das so vorstellen, dass damals durch Österreich ein tiefer Graben lief. Die einen waren die Roten und die anderen waren die Schwarzen, die Christlichsozialen. Und es war undenkbar, dass ein Roter zu einem Verein geht, der kein roter war. Das war unvorstellbar! Die Sozialdemokraten haben auch alles abgedeckt: vom Briefmarkensammlerverein über die Naturfreunde, Sportvereine, Kinderfreunde bis hin zum Arbeiterfischereiverein.«
Eine besondere Rolle kam dabei als Kaderschmiede dem Verband der sozialistischen Arbeiterjugend Deutschösterreich zu, in dem sich Ernst Papanek seit Jahren engagierte. Aufgabe der SAJ war es, die heranwachsenden Generationen »im Geist des Sozialismus zu erziehen, […] damit die Proletarierjugend in den Stand gesetzt wird, werktätigen Anteil am Befreiungskampf der Arbeiterklasse zu nehmen«, heißt es in der Vereinssatzung.66 Das Angebot reichte von geselligen Zusammenkünften bei Volkstanz, Gesang, Ferienlagern und Sport bis zu Diskussionsabenden und sozialistischen Vorträgen. Auch auf die internationale Vernetzung der Arbeiterjugend legte man großen Wert und im Juli 1929 bot sich hierfür die perfekte Möglichkeit: Das zweite Internationale Sozialistische Jugendtreffen fand in Wien statt. Zehntausende Jugendliche reisten in die Donaumetropole, unter anderem aus Italien und sogar aus Palästina. Im Nachlass von Ernst Papanek belegen zahlreiche Fotos die imposanten Massen an fahnenschwenkenden Jugendlichen vor dem Rathaus. Höhepunkt war der Fackelzug: Von der Hohen Warte aus marschierte ein kilometerlanges Lichtermeer auf beiden Seiten des Donaukanals gen Innenstadt. Das Jugendtreffen wurde zum vollen Erfolg, der Historiker Wolfgang Neugebauer nennt es gar eine »der mächtigsten sozialistischen Kundgebungen der Zwischenkriegszeit«.67
In den folgenden Monaten war die Stimmung euphorisch, die Verbrüderung aller Völker schien zum Greifen nah. Dann kam Schlag auf Schlag das böse Erwachen: Am »Schwarzen Donnerstag«, dem 24. Oktober 1929, fiel der Kurs an der New Yorker Börse ins Bodenlose. Der Crash löste die folgenreichste Weltwirtschaftskrise der Geschichte aus, die nächsten Jahre waren geprägt von Massenarbeitslosigkeit, sozialem Elend und politischen Krisen.
Bis 1932 verdoppelten sich die Arbeitslosenzahlen in Wien, besonders hart traf es Jugendliche und Lehrlinge. Als Reaktion rief die Arbeiterkammer in Kooperation mit zahlreichen Jugendverbänden Jugend in Not ins Leben. Das Programm stellte »erwerbslosen Burschen und Mädchen« in den Wintermonaten geheizte Räume zur Verfügung, in denen sie Essen, medizinische Versorgung und Fortbildungsmöglichkeiten erhielten.68 Ernst Papanek beteiligte sich im Jugendbeirat an der Leitung von Jugend in Not, beklagte aber, dass das Programm nicht die psychischen Probleme behandle, die Langzeitarbeitslosigkeit mit sich bringt. So entstand Jugend am Werk, ein großangelegtes, freiwilliges Arbeitsbeschäftigungsprogramm, bei dem Jugendliche für Kost, Logis und ein Taschengeld Spielplätze, Möbel für soziale Einrichtungen oder Wanderwege bauten. Ernst Papanek war überzeugt, dass durch Jugend am Werk ein Anstieg der Jugendkriminalität verhindert wurde. »Sie waren nicht länger eine Last für ihre Familien, sie hatten Arbeit und konnten ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen«, betonte er in einem Aufsatz über Sozialarbeit in Wien.69 Der Großteil der Jugend am Werk-Teilnehmer lebte in selbstverwalteten Jugendheimen; ungefähr zwei Drittel der Heime waren sozialistisch oder von der Gewerkschaft geführt, ein Drittel stand unter katholischer Leitung. Damit galt das Programm als positives Beispiel der parteiübergreifenden Fürsorgearbeit. Trotzdem waren die Jugendheime natürlich ideale Plätze für politische (An)-Werbung. »Es waren Orte, um zu arbeiten, Sport zu machen und indoktriniert zu werden«, brachte es Gus Papanek auf den Punkt.
Für Ernst Papanek war die Arbeit bei Jugend am Werk nur eines von vielen Tätigkeitsfeldern, er arbeitete auch weiterhin für die Kinderfreunde und die Roten Falken. 1930 übernahm er dann die Leitung des Reichsbildungsausschusses der Sozialistischen Jugend, ein einflussreiches Amt innerhalb der Partei: Sein Vorgänger war Otto Felix Kanitz, sein Nachfolger der junge Bruno Kreisky. Mit dreißig Jahren war Ernst Papanek nun voll und ganz Berufspolitiker.
Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörte es, die zahlreichen SAJ-Gruppen in ihrer Bildungsarbeit zu unterstützen und zu vereinheitlichen. Dafür erarbeitete er Anleitungen für Gruppenabende, erstellte Wanderbibliotheken, vermittelte Vortragende und Filmvorführungen und schulte Jugendführer.70 Außerdem warb Papanek aktiv um neue Mitglieder. Dafür setzte er auch bei den Eltern an, unter anderem verfasste er Artikel für die sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Unzufriedene, in denen er Arbeitereltern aufrief, ihre Kinder in Parteiorganisationen zu schicken. »In dieser furchtbaren Trostlosigkeit leuchtet den jungen Menschen nur ein Hoffnungsschimmer: Die Erlösung durch den Sozialismus«, schrieb Papanek.71
Den gesamtpolitischen Entwicklungen folgend verlagerte die SAJ ihre Rolle zunehmend von reiner Bildungsarbeit hin zu politischen Aktionen. Die Lage in Österreich war schon vor der Weltwirtschaftskrise äußerst angespannt gewesen und hatte sich seitdem nur noch verschlimmert. Immer öfter kam es zu gewalttätigen