Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier

Auf Wiedersehen, Kinder! - Lilly Maier


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widmen. Durch Aktionen wie das kostenlose Säuglingswäschepaket und die Einrichtung von Mutterberatungsstellen gelang es dem »Volksarzt« Julius Tandler zum Beispiel, in nur zwölf Jahren die Säuglingssterblichkeit zu halbieren.40 Ein besonderer Fokus des Roten Wiens lag auf der Bildung und dem Erreichen der Jugend: »Wähler zu gewinnen ist nützlich und notwendig«, hatte Parteigründer Victor Adler einst erklärt, »Sozialdemokraten erziehen ist nützlicher und notwendiger.«41 Auf sein Leben zurückblickend erklärte Papanek Jahrzehnte später: »Wir wurden alle in Richtung Bildung gedrängt. Politik wurde von der österreichischen sozialistischen Partei als Bildungsproblem verstanden«.42

      So wurde der vielbeschäftigte Student Papanek Mitglied im Verband der Sozialistischen Studenten und der Akademischen Legion, einer Studentenvereinigung innerhalb des 1923 gegründeten Republikanischen Schutzbundes. Bereits 1919 trat Papanek der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreich (SDAP) bei und übernahm Funktionärsämter, sowohl in der Sozialistischen Jugend als auch in der SDAP-Ortsgruppe Rudolfsheim. Er leitete Heimabende und Ferienlager für die Kinderfreunde und später auch für die Roten Falken.43

      Für die Sozialistische Bildungszentrale hielt Papanek zahlreiche Vorträge in Wien und im Umland. Er war »Volksbildner«, wie man im Jargon der Zeit sagte, und ein äußerst beliebter dazu. Papanek »wurde einer der populärsten Vortragenden in allen Bezirksveranstaltungen Wiens«, erinnerte sich der Schauspieler und Arzt Richard Berczeller.44

      Die jungen Sozialisten sahen sich als das »Bauvolk der kommenden Welt« (später besungen im Lied Die Arbeiter von Wien von Fritz Brügel), ihr Ziel war der »neue Mensch«. Otto Bauer, der unangefochtene Führer der Sozialdemokratie in der Ersten Republik, nannte sie die »Generation der Vollendung«, die Generation, in der der Sozialismus Realität werden würde.45 Wenn Ernst Papanek nun in mitreißenden Reden vor Fabrikarbeitern über die Befreiung aus dem Elend sprach, über den Mut und den Auftrag, eine neue, gerechte Welt zu bauen, dann drückte er damit die Hoffnung aus, dass die Zukunft gerade beginne und dass sie alle ein Teil davon seien.

      In seiner politischen Arbeit kam der junge Papanek mit vielen bedeutenden Vertretern der Sozialdemokratie und des Austromarxismus zusammen. Der aus dem Gefängnis entlassene Fritz Adler war für ihn »der hochgeschätzte, heroische und doch freundschaftliche Führer«46, wichtiger für die Arbeit in der Jugendbewegung waren jedoch Otto Bauer sowie Otto Felix Kanitz, der Vorsitzende der Sozialistischen Jugend und Begründer der Schönbrunner Schule.

      ***

      Am ersten Tag des Jahres 2020 spaziere ich bei strahlendem Sonnenschein durch den Schönbrunner Schlosspark. Die Enten laufen auf dem zugefrorenen Springbrunnen Schlittschuh, aber für Januar ist das Wetter erstaunlich mild. Von der Rückseite kommend, gehe ich auf das Schloss zu. Ich bin auf der Suche nach dem Kindergarten der Kinderfreunde. Vor ein paar Wochen hat mir Heinz Weiss, langjähriger Geschäftsführer und passionierter Haushistoriker der Wiener Kinderfreunde, erzählt, dass es dort eine kleine Ausstellung über die Schönbrunner Erzieherschule gibt. »Da verirrt sich natürlich fast niemand hin«, klagte Weiss; ich aber will sie mir anschauen.

      Als mit dem Ende der Monarchie das Kaiserschloss Eigentum der Republik wurde, sprach man den sozialdemokratischen Kinderfreunden 84 Räume des gigantischen Baus zu. »Die Erzieher in den Kinderheimen waren in der Monarchie ehemalige Soldaten«, erklärte mir Weiss bei unserem Treffen. »Man kann sich vorstellen, was da für ein Ton geherrscht hat.« Nach 1918 sollten nun die Kinderfreunde die Heime übernehmen. Die jedoch hatten zu wenige Erzieher. »Die wachsen ja nicht am Baum«, ergänzte Weiss lachend. So kam man auf die Idee, in Schönbrunn eine Erzieherschule einzurichten, die in den folgenden Jahren die österreichische Reformpädagogik entscheidend prägen sollte. Direktor wurde der 25-jährige Otto Felix Kanitz, zu den Lehrern gehörten Alfred Adler und Josef Luitpold Stern. Kanitz hatte zuvor in einem aufgelassenen Flüchtlingslager in Gmünd die erste selbstverwaltete »Kinderrepublik« Österreichs geleitet und vertrat die Philosophie, dass Erzieher den Kindern auf Augenhöhe begegnen sollten.

      Die damaligen Räume lagen zentral über den Prunkräumen, um den heutigen Kindergarten samt Ausstellung zu finden, muss ich mich aber ganz schön anstrengen. Am Café Residenz vorbei bis in den zweiten Hof, dann liegt links der Hofküchentrakt, schließlich durch eine unscheinbare Tür und tatsächlich: Neben dem bunt geschmückten Eingangsbereich des Kindergartens hängen Infotafeln mit Fotos über die Schönbrunner Schule. Insgesamt 140 Lehrer wurden hier ausgebildet, sie alle lernten, das Kind und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. 1923 gründeten Absolventen dann die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher und schufen ein beliebtes »Propagandainstrument«: das rote Kasperltheater. Mit über hundert Kasperlbühnen tourten die Kinderfreunde durch die Republik. Die Bösewichte waren damals allerdings nicht das Krokodil oder der Polizist, sondern der Nikotinteufel, die Bierhexe, der Alkoholgeist und am allerschlimmsten: der Kapitalist.

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      Auch Ernst Papanek war Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher und leitete für die Kinderfreunde ein Tagesheim und Ferienaktionen in der Freudenau. Dabei studierte er ja eigentlich immer noch Medizin. Dass daraus auch nach zwölf Semestern nichts werden würde, war schon die längste Zeit absehbar und so wechselte Papanek im Herbst 1925 an die Philosophische Fakultät.47 Zeitgleich inskribierte er sich am Pädagogischen Institut der Stadt Wien. Seit sieben Jahren arbeitete Papanek schon als Erzieher, nun ließ er sich endlich auch ganz offiziell zum Lehrer ausbilden.

      Der »hochschulmäßige Lehrerbildungskurs« entsprach einem Studium und fand in enger Zusammenarbeit mit der Universität statt, wo Papanek Vorlesungen in Psychologie, Philosophie, Geschichte und Soziologie belegte. Das Pädagogische Institut war 1923 von Otto Glöckel zur Umsetzung seiner Wiener Reformen gegründet worden, fast alle Professoren dort stammten aus dem Umfeld der Sozialdemokratie.

      Otto Glöckel, möglicherweise der bedeutendste Schulreformer in der Geschichte Österreichs, begann seine Reformen zunächst landesweit, als er 1919 bis 1920 Unterstaatssekretär für Unterricht war. Nach dem Bruch der Koalition mit den Christlichsozialen musste sich Glöckel fortan auf das Rote Wien konzentrieren, wo er von 1922 bis 1934 als Stadtschulratspräsident das Schulsystem weitreichend modernisierte. Seine »Wiener Schulreform« propagierte die sogenannte »Arbeitsschule« (weg von der davor praktizierten »Paukschule«), die viel individuellen Spielraum für Schüler ließ. Bedeutende Elemente waren Koedukation (das gemeinsame Unterrichten von Jungen und Mädchen), lebhafter und kindgerechter Unterricht, häufige Exkursionen, viel Sport- und Werkunterricht, die Wahl von Klassen- und Schulsprechern und ganz allgemein eine Demokratisierung des Schullebens. Eine Einheitsschule sowie Gratis-Lehrmittel und die Abschaffung von Schulgeld sollten für die Chancengleichheit aller Kinder sorgen.48

      Die Wiener Schulreform begleitete Papanek sein ganzes Leben lang und inspirierte viele seiner pädagogischen Unternehmungen. Jahrzehnte später widmete er in Amerika seine Doktorarbeit dem Thema. In der Einleitung betonte er: »Bildung ist nicht nur der Erwerb von Wissen und Fähigkeiten, sondern die Entwicklung bestimmter Einstellungen, Eigenschaften und Lebensgewohnheiten.«49

      Neben Otto Glöckel wurde Papanek sehr stark von dem Psychologen Alfred Adler beeinflusst, einem seiner Professoren am Pädagogischen Institut. Zeit seines Lebens blieb Papanek ein »Adlerianer« und war eng mit Adlers Tochter Alexandra befreundet.50

      Der Sozialdemokrat Alfred Adler hatte nach dem Bruch mit Sigmund Freud für seine tiefenpsychologische Lehre den Begriff »Individualpsychologie« geprägt. Er vertrat die Meinung, dass Menschen weniger durch ihre Triebe als durch ihr soziales Umfeld und ihre Erziehung geprägt seien. Sie bräuchten günstige Bedingungen, um sich weiterzuentwickeln, so Adler, und diese Bedingungen fänden sie im Gruppenleben.51

      Als junger Student besuchte Papanek ab und zu auch Privatvorlesungen von Sigmund Freud in dessen Wohnung in der Berggasse, die er »ungeheuer eindrucksvoll« fand, wie er 1959 in einem Interviewprojekt zu Freud erzählte. Trotzdem hatte Papanek (nicht nur wegen seiner Nähe zu Adler) inhaltlich große Probleme mit Freud und empfand dessen Desinteresse an Politik und an Massenbewegungen


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