Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier

Auf Wiedersehen, Kinder! - Lilly Maier


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Schwarzwald.25

      Am 8. Juli 1919 schloss Papanek das Realgymnasium in der Diefenbachgasse mit der Matura ab, im Herbst darauf schrieb er sich an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien ein.26 Der junge Mann besuchte Vorlesungen in Medizin, Pädiatrie und Psychiatrie und lernte bei prominenten Ärzten wie Julius Tandler, bei dem er eine sechsstündige Sezierübung belegte, oder Clemens von Pirquet, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Zwölf Semester lang studierte Papanek Medizin – zumindest theoretisch. In der Praxis war er viel zu sehr damit beschäftigt, »die Welt zu retten«, wie es mehrere Mitglieder seiner Familie übereinstimmend berichteten. Regelmäßig rasselte er durch Prüfungen und glänzte im Hörsaal durch Abwesenheit. Die Spielkameraden, die Politik und sein vielfältiges Engagement für sozialdemokratische Organisationen, all das war Papanek wichtiger, als die lateinischen Namen menschlicher Knochen auswendig zu lernen.

      ***

      »Er studierte nicht wirklich Medizin, er hatte gar keine Zeit«, brachte es Papaneks spätere Ehefrau Lene in ihren unveröffentlichten Memoiren auf den Punkt. »Er tat, was er sein ganzes Leben lang tat: Er musste die Welt retten. Das meine ich ernst. Er hatte einen übertriebenen Sinn für soziale Gerechtigkeit.«27

      Auch wenn das vielleicht etwas überspitzt klingt, Lene meinte die Zuschreibung von Ernst Papanek als Weltretter nicht abschätzig, sondern als größtmögliches Lob. An anderer Stelle schrieb sie: »Er hat nach seinen Werten gelebt: Niemand war so konsequent, so ehrlich, so wahr wie er.«

      Konsequent, unverstellt und so optimistisch, dass es oft an Idealismus grenzte – quer durch die Jahrzehnte wird Papanek von einer Vielzahl von Weggefährten mit ähnlichen Worten beschrieben. »Ernst war die Art von Mensch, der jeden Morgen aufwachte und sich überlegte, wie er heute der Menschheit dienen konnte. Und er fand meistens etwas, weil die Welt immer so dringend in Not war«, erinnerte sich zum Beispiel Claude Brown, ein Schüler Papaneks.

      Samuel Friedman, ein amerikanischer Sozialist, beschrieb seinen Parteigenossen so: »Er war ein Mann ohne Hass, ohne List, ohne Schuld. Und das meine ich, wenn ich ihn als naiv und unschuldig bezeichne. In unserer modernen Welt […] handeln wir auf eine Art und Weise, von der wir glauben, dass sie andere Menschen beeindrucken wird. Ernst Papanek war nicht so. Er sprach die Wahrheit, wie er sie sah.«28

      Nicht nur charakterlich, auch äußerlich veränderte sich Ernst Papanek im Lauf der Jahrzehnte kaum. Schon mit 18 Jahren bekam er eine Halbglatze, die sein Aussehen sein Leben lang prägte. Das ging so weit, dass Ria Kanitz, die Frau des Pädagogen Otto Felix Kanitz, einen Brief an Papanek einmal an die »vielgeliebte Glatze« adressierte.29 Die runden Brillengläser wurden etwas größer, die Hose spannte etwas mehr, aber wer einmal ein Bild von Papanek gesehen hat, hat kein Problem, ihn auch auf einem zwanzig Jahre später gemachten Gruppenfoto zu erkennen.

      Objektiv betrachtet war Ernst Papanek nicht attraktiv. »Er hatte eine Glatze, er war farblos, er war sehr klein«, formulierte es Eve Stwertka, eine entfernte Verwandte, als ich sie im Herbst 2019 interviewte. Dafür zog Papaneks charismatische Art jeden in seinen Bann. So war es auch bei Stwertka: »Er strahlte etwas aus, das dich anzog«, erzählte sie mir.

      Papanek war ein begnadeter Redner und sein idealistischer Optimismus war ansteckend. In jungen Jahren war der Wiener besonders bei den weiblichen Genossinnen in den Jugendgruppen sehr beliebt. Als er einmal ein Ferienlager leitete, bekam er zu seinem Geburtstag acht Holzpuppen geschenkt, die seine acht Freundinnen – oder besser gesagt, seine acht Verehrerinnen – repräsentierten.30

      ***

      Das Ferienlager mit den vielen Verehrerinnen fand 1919 statt und war eine von Dr. Eugenie Schwarzwald organisierte Ferienkolonie. »Fraudoktor«, wie sie allgemein genannt wurde, leitete eine fortschrittliche Mädchenschule in Wien, an der unter anderem Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg unterrichteten, und engagierte sich intensiv als Philanthropin.31 Sie betrieb eine (von Adolf Loos entworfene) Suppenküche, unterstützte Papaneks Spielkameraden und organisierte 1918 erstmals eine Ferienkolonie, um die Wiener Kriegsjugend aufzupäppeln.32 Im Sommer 1919 wuchs ihre Aktion »Wiener Kinder aufs Land« um eine Reihe weiterer Kolonien, für die »Fraudoktor« mit Jugendorganisationen zusammenarbeitete. Viele Mitglieder der sozialistischen Mittelschülerbewegung nahmen an den Kolonien teil und wurden innerhalb kürzester Zeit selbst als Lehrpersonal rekrutiert. So kam es, dass der erst 19-jährige Ernst Papanek im August 1919 eine Führungsrolle in einer Kolonie für hunderte Arbeiterkinder übernahm.33 Und diese fand an einem denkbar prächtigen Ort statt: in der leerstehenden Kaiservilla in Bad Ischl.

      Am 26. Juli 1919 vermeldete die Neue Freie Presse, dass Dr. Schwarzwald »durch die Vermittlung des Arbeiterrates Bad Ischl und der Bezirkshauptmannschaft Gmunden von der ehemaligen Erzherzogin Marie Valerie der Kavalierstrakt der Kaiservilla in Ischl zur Verfügung gestellt« wurde.34 Die großräumige Villa musste aber erst einmal instand gesetzt werden. Federführend war hierbei Papanek, der sich als großes Organisationstalent entpuppte. Eine schöne Beschreibung darüber findet sich bei Friedrich Scheu, einem langjährigen Mitarbeiter der Arbeiter-Zeitung: »Ernst Papanek, ein kluger, bebrillter, junger Mann, nahm seine Aufgaben ernst. Er gehörte zu jenen Personen, denen immer jene Arbeiten aufgehalst werden, die viel angestrengte Aufmerksamkeit erfordern und für die man gewöhnlich wenig Ruhm erntet. Unter seiner Leitung ging die Umwandlung der vornehmen Kaiservilla in ein Heim für Arbeiterkinder reibungslos, in aller Stille, vor sich.«35

      Im Jahr darauf leitete Papanek eine weitere Schwarzwald-Kolonie in Kaltenbach, einem Ortsteil von Ischl. Die Teilnehmer waren diesmal ältere und hauptsächlich sozialistische Mittelschüler oder Studenten. Papanek war nicht der einzige junge Mann, der hier den Sommer über Theaterstücke inszenierte und sich später einen Namen machte: Auch (Sir) Karl Popper, der spätere Philosoph und Begründer des Kritischen Rationalismus, war mit von der Partie.

      Die Kolonie war wie jedes Bildungsprojekt Schwarzwalds koedukativ angelegt und das sommerliche Zusammenleben der jungen Männer und Frauen sorgte regelmäßig für Gerede. Ernst Papanek fiel wieder einmal die unleidige Aufgabe zu, für Ordnung zu sorgen. Das zeigt sich auch in einem humoristischen Lied der Ferienkolonie:

       Was kommt denn dort aus Wien?

       Das sind die Schwarzwald-Kolonien.

       Wer stellt sie zur Schau?

       Das ist Sektionschef Schwarzwalds Frau. […]

       Wer kehrt uns fort den Dreck?

       Das ist der Ernstl Papanek. 36

      In den folgenden Jahren leitete Papanek immer wieder Ferienkolonien. Von 1919 bis 1920 arbeitete er dann – noch immer ohne formales pädagogisches Training – als Lehrer und für kurze Zeit sogar als Direktor von Schwarzwalds Landeserziehungsheim Harthof am Semmering.37 Zu Weihnachten 1921 rief »Fraudoktor« ein weiteres Hilfsprojekt ins Leben, für das sich der Student Papanek sehr engagierte: die Greisenhilfe der Wiener Jugend. Der Hintergedanke der Greisenhilfe war ähnlich wie bei den Spielkameraden, nur dass es diesmal um verarmte alte Menschen ging. In einem Aufruf der Greisenhilfe appellierten die beteiligten Jugendorganisationen: »Wir können nicht in so eine entsetzliche Welt hineinleben, die Greise verhungern lässt. Diese Welt wird so aussehen, wie wir sie gestalten werden. Wir sind jung und glauben noch daran, dass sie besser werden kann.«38

      In zahlreichen Aktionen sammelten die Jugendlichen Geld und Sachspenden. Papanek, der das »Recherchenbureau« der Greisenhilfe leitete, organisierte Milchpulver, Mehl und Zucker aus skandinavischen Ländern und kümmerte sich um die Verteilung in ganz Wien. Bis Juni 1922 konnten Geldmittel und Waren im Wert von 50 Millionen Kronen aufgebracht werden.39

      Mit seinem humanitären Engagement für Kinder und Alte und seiner Erziehungsarbeit lebte Papanek die sozialdemokratischen Ideale des Roten Wiens. Zwischen 1919 und 1934 verbesserten die roten Reformen das Leben für die Bürger und vor allem die Arbeiter in der Hauptstadt auf beachtliche Art und Weise. Grundlage dafür war die neue österreichische Bundesverfassung,


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