Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier

Auf Wiedersehen, Kinder! - Lilly Maier


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Sozialdemokratie in Österreich. Er hoffte mit seinem terroristischen Attentat die Massen, vor allem aber auch seine eigene Partei, zur Revolution gegen Kaiserreich und Krieg aufzurütteln. Dabei war der junge Adler keineswegs ein Fanatiker. Der 37-jährige Physiker (der einst seinem guten Freund Albert Einstein zuliebe auf eine Professur verzichtet hatte) galt als großer Humanist, wie Ernst Papanek Jahrzehnte später in einer Vorlesung seinen Studenten erklärte.15

      Der zutiefst erschütterte Victor Adler versuchte in den Monaten bis zum Prozess, seinen Sohn für geistig unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Fritz aber stand zu seiner Tat. Mehr noch als der Mord war es dann seine Verteidigungsrede am 18. und 19. Mai 1917, die die Massen polarisierte und der Weltöffentlichkeit zeigte, dass nicht alle in Österreich-Ungarn den Krieg unterstützten. Historiker bewerten seine Rede heute als »Aufsehen erregende Abrechnung mit dem Verbrechen der Massenvernichtung, mit dem habsburgischen Kriegsabsolutismus und der lethargischen, defätistischen Tolerierungspolitik des sozialdemokratischen Parteivorstandes«.16

      Fritz Adler hatte damit gerechnet, für den Mord zum Tode verurteilt zu werden. Doch im Anbetracht der weltpolitischen Lage – im November 1916 war nach fast 70-jähriger Regierungszeit der Kaiser gestorben, im Februar 1917 brachte die Revolution in Russland das Ende des Zarenreichs – wurde das Urteil in eine langjährige Haftstrafe abgewandelt. (Kurz vor Kriegsende begnadigte der neue Kaiser Karl I. Fritz Adler dann sogar vollends.).

      Noch immer tobte der Erste Weltkrieg, während die Bevölkerung im nunmehr zweiten Hungerwinter zunehmend unter der Lebensmittelknappheit litt und die Sehnsucht nach Frieden weiter stieg. Krawalle und Proteste kulminierten 1918 im revolutionsartigen Januarstreik. Der 17-jährige Ernst Papanek war inzwischen Mitglied der sozialistischen Mittelschülerbewegung, einer illegalen und linksradikalen Organisation, die vor allem gegen das monarchisch verstaubte Schulsystem protestierte.17 Um diese Zeit herum wurde er bei Antikriegsdemonstrationen das erste Mal kurzzeitig verhaftet, eine Feuertaufe für junge Sozialisten. Im Oktober 1918 wurde Papanek zum zweiten Mal verhaftet: Er hatte Flugzettel mit dem 14-Punkte-Friedensprogramm des amerikanischen Präsidenten Wilson verteilt. Durch Intervention von Lehrern kam Papanek jedes Mal glimpflich davon.18 Mit schlimmeren Konsequenzen hatte er dann aber zu rechnen, als er seinen Einberufungsbefehl erhielt.

      Gemeinsam mit einer Reihe junger Männer sollte Ernst Papanek den Soldateneid auf den Kaiser leisten. Doch er weigerte sich. Ja, nicht nur er: Die gesamte Gruppe weigerte sich, für die sich in den letzten Atemzügen befindende Monarchie in den Krieg zu ziehen. Darauf stand die Todesstrafe. Doch im Herbst 1918 hatte niemand großes Interesse daran, eine Gruppe Schüler gesammelt vor ein Standgericht zu stellen. Also schlug man ihnen einen Kompromiss vor: Erklärt euch für verrückt. Wer nicht für Kaiser, Volk und Vaterland sterben will, muss schließlich verrückt sein. Allerdings stand darauf nur ein Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Steinhof und nicht der Tod. Wieder weigerten sich Papanek und seine Kameraden. Genau wie ihr großes Vorbild Fritz Adler wollten sie eine Gerichtsverhandlung, in der sie öffentlich ihre Ablehnung des Krieges erklären konnten. Mehrere Wochen lang waren die jungen Männer im Gefängnis, während man ihnen immer wieder neue Kompromisse vorschlug. Das ganze Dilemma erledigte sich schließlich auf »natürliche« Art und Weise, als im November 1918 der Krieg zu Ende war und kurz darauf auch die Monarchie unterging.19

      ***

      »Das sind so Geschichten, die Teil der Familienlegende sind«, erklärte Hanna Papanek 1979 in einem Interview mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands.20

      Die Papanek-Schwiegertochter hatte Ernst und ihren späteren Ehemann Gus 1939 als Jugendliche in Frankreich kennengelernt. Hannas Eltern waren deutsche Sozialdemokraten, die wie die Papaneks im Pariser Exil lebten und ihre Tochter in dieselbe sozialistische Jugendgruppe schickten. Dort hörte Hanna zum ersten Mal die »Familienlegenden« rund um Ernst Papaneks viele Verhaftungen, angefangen mit jenen in Wien. »Für mich hat all dies bedeutet, ich stehe im Schatten von Helden«, erzählte sie in dem Interview 1979. »Und das war ja auch so der Sinn, der Wert der politischen Erziehung.«

      Ernst Papanek hat seinen Kindern und Schülern oft Geschichten über seine wilde politische Jugend erzählt. Ob sich all das wirklich so zugetragen hat, lässt sich aus heutiger Sicht nicht einwandfrei beweisen. Die Polizeiakten für das Jahr 1918 sind während des Zweiten Weltkriegs verbrannt und in den vergilbten Registern des Landesgerichts für Strafsachen im Archiv der Stadt Wien finde ich keine Hinweise darauf, dass Ernst Papanek je angeklagt wurde. Auch das Kriegsarchiv im Österreichischen Staatsarchiv verzeichnet zu Papanek keinen Bestand. Es gibt kein »Grundbuchblatt« über ihn, wie es für alle potenziellen Soldaten angelegt wurde, ebenso fehlt sein Name in den überdimensionierten Registerbüchern für den Buchstaben P.21

      Als Historikerin wünscht man sich, jeden Abschnitt eines Lebens bis ins letzte Detail belegen zu können. Für Papaneks Biografie ist es aber letztlich unwichtig, ob der 18-jährige Ernst wirklich wochenlang in Haft saß oder ob das Habsburgerreich in den letzten Monaten seiner Existenz andere Probleme hatte, als sich mit ein paar Kriegsdienstverweigerern herumzuschlagen. Und wenn man den (zweifelsfrei dokumentierten) Rest seiner Geschichte kennt, stellt sich die Frage sowieso nicht mehr: Seine jugendlichen Demonstrationen waren noch das Geringste, was Ernst Papanek geleistet hat.

      2.

      Eben mal die Welt retten

      Schon mit 18 Jahren bekommt Ernst Papanek eine prägnante Halbglatze, die ihn wesentlich älter erscheinen lässt. Das Foto links wurde um 1920 aufgenommen, da ist der Student gerade einmal zwanzig Jahre alt. Von Vorteil ist die Glatze, um Papanek in Gruppenfotos zu finden, sei es im Kreis seiner Kollegen (vorletzte Reihe 3. v. r.) …

      … oder in der Landarbeiterjugendschule in Wien (3. Reihe 5. v. r.).

      Die Niederlage im Ersten Weltkrieg bedeutete den Untergang für das Herrscherhaus der Habsburger und ihr Reich an der Donau. Die Monarchie und der Adel wurden abgeschafft, der habsburgische Vielvölkerstaat zerbrach in nicht weniger als sieben Nachfolgestaaten. Vor dem Krieg hatte Wien etwas mehr als zwei Millionen Einwohner gezählt, eine angemessene Größe für die Hauptstadt eines Reiches, in dem 1910 über 51 Millionen Menschen lebten. Nach 1918 gab es immer noch etwa zwei Millionen Wiener, aber Österreich selbst war auf magere 6,5 Millionen Einwohner geschrumpft.22 Nicht ohne Grund nannte man Wien den »Wasserkopf« des Landes.23

      Österreich war nun eine demokratische Republik mit universellem Wahlrecht. Landesweit regierten in der Zwischenkriegszeit meist die konservativen Christlichsozialen, die Sozialdemokraten machten sich in der Hauptstadt an die Arbeit. »Die bis dahin gewalttätig unterdrückte junge politische Bewegung flammte auf und hat das hervorgebracht, was wir ›Rotes Wien‹ nennen«, schrieb Ernst Papanek später. »Das Rote Wien war nicht nur eine politische Struktur, die von der siegreichen Sozialdemokratischen Partei geschaffen wurde; es gab den Ton für das gesamte Leben der Gemeinschaft und ihrer Individuen an, die begeistert seiner inspirierenden Musik folgten.«24

      Auch Papanek selbst folgte der »inspirierenden Musik« und fing – ohne jegliche Ausbildung – an, sich als Sozialarbeiter und Erzieher zu engagieren. Auslöser war das Bild, das sich dem 18-Jährigen bot, wenn er im nachkriegsgebeutelten Wien spazieren ging: Zehntausende obdachlose, verwahrloste Kriegswaisen versuchten in den Straßen zu überleben. Kurzerhand organisierte Papanek rund 400 Gymnasiasten und Studenten, um den Kindern zu helfen. Er nannte die Gruppe Spielkameraden und man kann sie wohl am besten als eine frühe Mischung aus Parkbetreuung und street work beschreiben: Sie spielten mit den Kindern und verhalfen ihnen mittels Suppenküchen und Heimen zu Nahrung und Unterkunft. Sobald sie das Vertrauen der Kinder gewonnen hatten, versuchten sie deren Energie in freiwillige Arbeitseinsätze zu lenken, die wiederum anderen halfen. Fast zwei Jahre lang leitete Papanek – anfangs als Schüler, später als Student – die Spielkameraden und trat dabei erstmals mit Persönlichkeiten und Organisationen in Kontakt, mit denen


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