Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier
wurde sie allerdings von ihrer Tante mit Dr. Samuel Goldstern verkuppelt, der nach seiner Ausweisung aus Russland in Wien sein Medizinstudium beendet hatte.60 Nach der Hochzeit kaufte das Ehepaar gemeinsam die Fango-Heilanstalt, ein Sanatorium, das sich auf die heilende Wirkung von vulkanischem Fango-Schlamm aus Italien spezialisiert hatte. Neben der Klinik, in der jährlich über vierzig Tonnen Heilschlamm verwendet wurden, gehörten Samuel und Manja auch noch zwei Miethäuser, die zum Familieneinkommen beitrugen.61
Ihre Kindheit verbrachten Lene und ihre drei Geschwister Lucie, Alexander und Claire umgeben von Gouvernanten, Dienstmädchen und Privatlehrern. Die Wohnung der Goldsterns hatte keine Küche, alle Mahlzeiten wurden aus der Klinikküche geliefert. Weil es in der Lazarettgasse auch keine Geschäfte gab, war Lene ganze zehn Jahre alt, als sie das erste Mal ein rohes Ei sah.62
Obwohl Samuel Goldstern aus einer religiösen Familie stammte, spielte das Judentum in Lenes assimiliertem Elternhaus keine Rolle. Ganz im Gegenteil: Jedes Jahr um die Weihnachtszeit ließen die Goldsterns einen großen Christbaum in der Fango-Klinik aufstellen und die Kinder verteilten Geschenke an die vielen Mitarbeiter.
Ab ihrem zehnten Lebensjahr besuchte die blondgelockte Lene ein Realgymnasium in der Josefstadt, eine der wenigen Schulen Wiens, die damals Mädchen auf die Matura vorbereitete. Die aufgeweckte Lene, die zuhause oft im Schatten ihrer älteren Schwester Lucie stand, genoss die Schulzeit sehr. In den stürmischen Zeiten gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Klassenbeste von ihren Mitschülerinnen als Vertreterin für ein neues Schülerparlament gewählt – und hier kreuzten sich die Wege der reichen Bürgerstochter und des Arbeitersohnes.
Ernst Papanek, der Vertreter seines Gymnasiums, hatte eine Führungsrolle in der sozialistischen Mittelschülerbewegung und es dauerte nicht lange, bis er und Lene sich anfreundeten. Rasch formte sich eine Clique sozialistischer Jugendlicher, zu der auch Alexandra Adler, die Tochter Alfred Adlers, gehörte. Man traf sich in Dirndlkleid und Lederhosen zum Wandern, zum Volkstanz und vor allem zum Diskutieren politischer Theorien. Lene las Marx und Engels, ging in die Arbeiterbezirke Wiens, um Mitgliedsbeiträge für die SDAP einzusammeln, und demonstrierte für die Freilassung Fritz Adlers. »Ich werde nie die Begeisterung vergessen, die mich dazu gebracht hat, in einer Menschenmenge zu marschieren«, erinnerte sie sich später.
Außer Lene war Mutter Manja Goldstern die Einzige in der Familie, die sich für Politik interessierte. Während sich Vater Samuel Goldstern ganz auf die Klinik konzentrierte, hatte Manja kein Problem damit, wenn ihre junge Tochter an Demonstrationen teilnahm. Manja ließ ihren Kindern viele Freiheiten und betonte weltoffene Werte wie Aufrichtigkeit, Toleranz und Respekt, obwohl sie zugleich sehr strenge Moralvorstellungen hatte. Sie war es auch, die alle ihre Töchter darin unterstützte, zu studieren – keine Selbstverständlichkeit für die Zeit.
Samuel Goldstern verlangte, dass zumindest eines seiner Kinder Medizin studierte, um später die Klinik zu übernehmen. Der Familienpatriarch setzte alle seine Hoffnungen auf den einzigen Sohn Alexander, doch der stellte schon als junger Bub klar, dass er daran kein Interesse hatte. Also begann Lene 1919 Medizin zu studieren und gewann dadurch in den Augen ihres Vaters an Achtung. »Er war sehr von meinem Bruder Alex enttäuscht und nannte mich jetzt seinen Sohn«, erklärte sie Jahrzehnte später.
Während ihres Studiums engagierte sich Lene Goldstern gemeinsam mit Ernst Papanek bei der Greisenhilfe und den Spielkameraden, unter anderem inszenierte sie Theaterstücke mit den Straßenkindern: »Ich war sehr begeistert davon, an all diesen sozialen Aktivitäten beteiligt zu sein und Menschen zu helfen, und eine Sozialistin zu sein.«
Für die ersten ein, zwei Jahre ihrer Freundschaft blieben Ernst und Lene nur das: Freunde. Ernst Papanek hatte wie erwähnt eine ganze Reihe an Verehrerinnen und eigentlich war er mit Lenes bester Freundin Bertl zusammen. Eines Tages gestand er Lene jedoch, dass er Bertl gar nicht wirklich mochte und nur nicht wusste, wie er die Beziehung beenden sollte. Sie überzeugte ihn, dass Ehrlichkeit die beste Methode sei, er sprach mit Bertl, und kurz darauf waren Lene und Ernst ein Paar. So sehr man als Unverheiratete im bürgerlichen Wien eben ein Paar sein konnte. In späteren Jahren sprach Lene Papanek immer von einer »Affäre«.
Fast jeden Abend aß Ernst bei den Goldsterns, danach nahm Lene ihn mit auf ihr Zimmer. Er hatte ihr ein Buch von Paolo Mantegazza, einem frühen Pionier der Sexualwissenschaft, geschenkt und es war oft bereits spät in der Nacht, wenn er die Fango-Klinik verließ. »Ich wusste nicht, was sich meine viktorianische Mutter dabei dachte«, erinnerte sich Lene Papanek später. »Ich wollte sie nicht verletzen, also erzählte ich ihr nichts, und sie fragte nicht.«
Nach seiner Hochzeit lebt das junge Ehepaar erst in der Fango-Klinik, die von Lenes Vater Samuel Goldstern geleitet wird, dann zieht es an den Flötzersteig.
Oft trifft sich hier nun die Familie in unterschiedlichen Konstellationen, vor allem um die Buben Gustav und Georg zu besuchen.
Die Großmütter Manja Goldstern und Rosa Papanek haben den kleinen Gustl in ihrer Mitte, rechts auf der Bank sitzt Lene Papanek.
Ernst Papaneks Geschwister mit ihren Ehepartnern, Lene und Rosa halten die Buben auf dem Schoß.
Lene und Ernst hatten gleichzeitig mit dem Medizinstudium begonnen, Lene aber nahm es wesentlich ernster. Ernsts schlechte Noten und der fehlende Studieneifer störten sie nicht, ein Problem gab es jedoch: »Ich bewunderte ihn sehr, mit einer Ausnahme. Ich konnte Kahlheit nicht aushalten und Ernst bekam eine Glatze. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich immer gesagt hatte, es ist mir egal, wie ein Mann aussieht, wenn er nur sich selbst treu bleibt.«
***
Es ist nicht ganz einfach, sich auf die Spur von Lene Papanek zu begeben. In Erinnerungen von Weggefährten überstrahlt der charismatischere Ernst sie meistens, nach Lene muss man richtiggehend suchen. Einen besseren Einblick erhält man nur in autobiografischen Fragmenten, die sie gegen Ende ihres Lebens zusammen mit mehreren Ghostwritern geschrieben hat. Und im Gespräch mit Gus, dem ältesten Sohn der Papaneks.
Im Oktober 2019 besuche ich Gus Papanek in Brookhaven, einer luxuriösen Seniorenwohnanlage in Lexington. Die Stadt im Bundesstaat Massachusetts liegt eine halbe Stunde von Boston entfernt und ist in Amerika berühmt, weil hier 1775 der erste Schuss im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg fiel.
Gustav (Gus) Papanek war lange Zeit Wirtschaftsprofessor an der renommierten Harvard University und reist noch heute – mit über 90 Jahren – durch die Welt, um Regierungen zu wirtschaftspolitischen Themen zu beraten. Das Wochenende meines Besuches ist etwas stressig, weil Gus gemeinsam mit seinem Sohn Tom dabei ist, das Haus zu verkaufen, in dem er jahrzehntelang mit seiner verstorbenen Frau gelebt hat. Trotzdem nimmt er sich einige Stunden Zeit, um mir aus dem Leben seiner Familie zu erzählen. Der ältere Herr freut sich, dass ich ein Buch über seinen Vater schreibe. »Wir alle haben Ernst sehr bewundert und möchten, dass alles getan wird, damit an ihn erinnert wird«, erklärt er mir lächelnd, während wir Lunch bestellen.
Bei dreierlei Burgern und Cobb Salad erzählt mir Gus lebhaft von seiner Kindheit im sozialdemokratischen Wien, beim Cheesecake mit Vanilleeis sind wir in Frankreich angelangt, wo der Dreizehnjährige gemeinsam mit den anderen Flüchtlingskindern im Heim lebte. Nach Kaffee und Tee ziehen wir uns in seine gemütliche neue Wohnung zurück und Gus berichtet mir von der abenteuerlichen Flucht der Familie nach Amerika. Beim Sprechen stützt der 93-Jährige oft seinen Kopf auf eine Hand. Sonst verraten nur ein Spazierstock und ein Computerbildschirm mit Extra-Zoom in Größe eines Fernsehers das Alter des Nationalökonomen. Gegenüber seinem Schreibtisch stehen dutzende Familienfotos, die ganze Wohnung schmücken eindrucksvolle Kunstgegenstände aus Pakistan, wo Gus, seine Frau Hanna und ihre Kinder viele Jahre lebten. Neben dem Regal hängt eine Zeichnung von Schiele, ein Original. »Den Schiele hat meine Mutter