Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier

Auf Wiedersehen, Kinder! - Lilly Maier


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der geschlagenen k. u. k. Armee gegründet worden war. Sie stand den Christlichsozialen nahe, hatte aber auch Verbindungen zum deutschnationalen Lager und wurde großteils vom faschistischen Mussolini-Italien finanziert. Auf der anderen Seite gab es den Republikanischen Schutzbund, den die Sozialdemokraten zum Schutz gegen die Heimwehr gegründet hatten. Sowohl Heimwehr als auch Schutzbund zählten Zehntausende uniformierte und bewaffnete Mitglieder. Zu ihren Aufgaben gehörte anfangs vor allem der Schutz von (Partei-)Veranstaltungen. Dann entwickelte die Heimwehr aber eigene politische Ambitionen. Am 18. Mai 1930 forderte sie im sogenannten »Korneuburger Eid« eine Neuordnung Österreichs, die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und die Bildung eines Ständestaates. Bei den Nationalratswahlen 1930 trat die Heimwehr mit einer eigenen Liste, dem »Heimatblock«, an, einige der Heimwehr-Landesorganisationen kandidierten gemeinsam mit den Christlichsozialen.

      Die Wahlen 1930 sollten in Österreich die letzten Nationalratswahlen in der Ersten Republik sein. Mit 41,1 Prozent wurden die Sozialdemokraten stärkste Kraft, blieben aber in der Opposition, weil die Christlichsozialen eine Koalitionsregierung mit bürgerlichen Kleinparteien anführten. Die NSDAP kam erstmals in Österreich auf drei Prozent, errang aber kein Mandat. Innerhalb der Sozialistischen Jugend reagierte man auf die verschärfte innenpolitische Lage mit der Förderung der Wehrsportler, einer Art jugendlichem Schutzbund, und der Schaffung der Sozialistischen Jungfront, die der innerparteilichen Opposition Raum bot.72 Schon länger hatte es unter der Jugend Unmut über den gemäßigten Kurs der Parteiführung gegeben. Das lag vor allem auch daran, dass die Parteispitze mit Karl Renner, Otto Bauer, Karl Seitz, Otto Glöckel und Fritz Adler seit fast dreißig Jahren unverändert bestand und es nur wenige Möglichkeiten für SAJ-Funktionäre gab, in Führungspositionen aufzurücken. Die Jungfront sollte ihnen nun ein Betätigungsfeld innerhalb der Partei geben, um eine Radikalisierung und Abspaltung zu verhindern.

      Ernst Papanek war ein wichtiges Mitglied innerhalb der Jungfront. 1931 wurde er dann zum Wiener Obmann der SAJ gewählt, leitete aber auch weiterhin den Reichsbildungsausschuss. Im selben Jahr schuf er die Junge Garde, eine Jugendorganisation, die den 14- bis 16-Jährigen den Übertritt von den geselligen, pfadfinderartigen Roten Falken hin zur politischen Arbeit der SAJ erleichtern sollte. Durch diese behutsame Hinführung zur Politik verlor die SAJ weniger Neumitglieder als zuvor. Die von Papanek erarbeiteten Methoden »legten Zeugnis ab vom hohen pädagogischen Niveau der damaligen sozialdemokratischen Jugendarbeit«, urteilt der Historiker Wolfgang Neugebauer in seinem Buch Bauvolk des Sozialismus. An anderer Stelle schreibt er: »Ernst Papanek war eine der herausragendsten Persönlichkeiten der sozialdemokratischen Jugend- und Erziehungsbewegung der Ersten Republik.«73

      Bis 1932 trat Ernst Papanek vor allem als Parteipädagoge und Organisator in Aktion, dann wurde er erstmals in ein öffentliches Amt gewählt. Bei den Wien-Wahlen im April 1932 trat er als Gemeinderatskandidat für den 12. Bezirk an.

      Die Sozialdemokraten schafften mit 59 Prozent wieder die absolute Mehrheit, Karl Seitz blieb Bürgermeister. Die Christlichsozialen hingegen verloren die Hälfte ihrer Mandate – die fast vollständig an eine Partei fielen, die in Wien nun erstmals in den Gemeinderat (Landtag) einzog: die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Österreichs – Hitlerbewegung.

      ***

      »Ich eröffne die Sitzung des Gemeinderates«, sagte Karl Seitz am 24. Mai 1932 mit leiser Stimme. »Lauter!«, rief jemand von der Galerie und wurde sogleich belehrt, dass Zuhörer, die stören, aus dem Saal entfernt würden.74

      »Gemäß § 18 der Verfassung der Bundeshauptstadt Wien obliegt es mir zunächst, die Angelobung der Mitglieder des Gemeinderats durchzuführen«, fuhr Seitz fort.

      Die hundert Abgeordneten, unter ihnen Ernst Papanek, erhoben sich von den halbkreisförmig angeordneten Holzbänken des Gemeinderatssaals im Neuen Rathaus. Von 1872 bis 1883 nach Entwürfen des Architekten Friedrich Schmidt im Stil der Neogotik erbaut, verrieten der eine oder andere Doppeladler im Saal noch immer die monarchische Herkunft des Gebäudes. Direkt über dem Kopf von Papanek hing ein 3.200 Kilogramm schwerer Kronleuchter. Während der Errichtung des Rathauses hatte man den Luster mit Stahlseilen am Dachstuhl befestigt und dann das Dach darum herum gebaut.

      »Ich gelobe, der Republik Österreich und der Stadt Wien unverbrüchliche Treue zu halten, die Gesetze stets und voll zu beobachten und meine Pflichten als Mitglied des Gemeinderats der Stadt Wien gewissenhaft zu erfüllen«, sprach Seitz die Angelobungsformel vor. Als Ernst Papaneks Name vorgelesen wurde, antwortete er mit fester Stimme: »Ich gelobe.«

      Nach der Angelobung versuchte Seitz zur Tagesordnung überzugehen, doch der Fraktionsführer der Nationalsozialisten, Alfred E. Frauenfeld, hinderte ihn daran. »Ich richte diese Worte an die anwesenden deutschen Volksgenossen und nicht an die übrigen Anwesenden«, erklärte Frauenfeld, wurde aber von Gelächter und Zwischenrufen aus den sozialdemokratischen Bänken unterbrochen. »Sie werden sich Ihr hysterisches Geschrei abgewöhnen müssen«, fuhr Frauenfeld fort und attackierte dann Seitz, was jedoch im allgemeinen Chaos von Rufen und Gegenrufen unterging. Der Tonfall und die Machtverhältnisse begannen sich zu verändern.

      ***

      Ernst Papanek betonte später oft, dass die Immunität, die er nun als Landtagsabgeordneter genoss, der Grund für seine Wahl gewesen war. Sie erleichterte die »halb legale Arbeit der SAJ« in den folgenden Jahren.75 Michael Rosecker, stellvertretender Direktor der SPÖ-Akademie Renner Institut, meint, das Ganze könnte auch einen »weltlicheren« Grund gehabt haben: »Es war eine gute Möglichkeit, Genossen, die keinen Brotberuf hatten, ein Auskommen zu geben«, erklärte er mir.

      Der 32-jährige Papanek war ein zuverlässiger Gemeinderat, er fehlte bei kaum einer Sitzung. Sehr aktiv war er allerdings nicht: In seiner gesamten Karriere im Landtag hielt er nur zwei Reden, beide Male ging es um Jugend in Not. Dafür war Papanek jedoch Mitglied im Gemeinderatsausschuss für Personalangelegenheiten und Verwaltungsreform, der Tarifverhandlungen für die tausenden städtischen Angestellten regelte. »Ein sehr wichtiger Ausschuss in der Lagerlogik der damaligen Zeit«, bestätigte mir Michael Rosecker.

      Innerhalb der Personalkommission war Papanek für die städtischen Schulen, Kindergärten und Tagesheime sowie für die Gemeindewache, eine Art städtische Polizei, zuständig. In den Amtsblättern der Stadt Wien füllen die Listen mit von der Kommission beschlossenen Gehaltserhöhungen, Pensionierungen und der Genehmigung von Sonderurlaub dutzende Seiten.76

      Auch wenn der Gemeinderat Papanek nur zwei Reden hielt, bewies er in beiden eindrucksvoll seine rhetorischen Fähigkeiten – vor allem, wenn es darum ging, die Nationalsozialisten vorzuführen. Am 1. Juli 1932 warf er ihnen vor, ihr eigenes Parteiprogramm nicht zu kennen, und zitierte immer wieder aus dem Völkischen Beobachter. »Ich werde Ihnen die Nummer zuschicken«, versprach Papanek dem Fraktionsvorsitzenden Frauenfeld, »für Ihre Bildung ist mir nichts zu teuer«. Die Stenografin vermerkte: »Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.« Im Verlauf von Papaneks Rede riefen die Nazi-Abgeordneten immer wieder dazwischen, das Programm Jugend in Not helfe nur Juden – obwohl sie nur Minuten zuvor erklärt hatten, es gäbe keine arbeitslosen Juden. Ernst Papanek wies sie darauf hin, die Zwischenrufe wurden zunehmend rabiater. Schließlich sprang Bürgermeister Seitz seinem Parteigenossen bei: »Bitte nur keine Feigheiten, meine Herren! Sie müssen doch die Kraft haben, das anzuhören! Man hat sogar Sie angehört!«77

      Auch auf der Zuschauertribüne regte sich antisemitische Kritik an Papanek. Seine anwesende kleine Schwester Olga hörte, wie jemand dort sagte: »Der Gemeinderat ist mit der blonden Jüdin verheiratet.« Dass Papanek – zumindest in den Augen der Nazis – selbst jüdisch war, schienen die Störer nicht zu wissen, seine Verbindung zur prominenten Familie Goldstern aber war stadtbekannt.78

      Die Situation war symptomatisch für die Verschlimmerung der politischen Kultur. Am 30. September 1932 kam es im Gemeinderat sogar zu einem Handgemenge zwischen nationalsozialistischen und sozialdemokratischen Gemeinderäten, bei dem Stahlruten und Schlagringe zum Einsatz kamen.79 Auch auf die Straße trug man den Kampf: In der Österreichischen Nationalbibliothek lagert eine Reihe von Plakaten, die zur »Abrechnung mit dem


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