Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier

Auf Wiedersehen, Kinder! - Lilly Maier


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seines rhetorischen Talents setzte die Partei Papanek auch im Burgenland ein. »Das war damals ein Aufbaugebiet, ein Kampf um ein neues Territorium für die SDAP, weil es ja früher ein ungarischer Staatsteil gewesen war«, erklärte mir Michael Rosecker. Der Wahlkampf im bäuerlichen Burgenland, wo es nur wenig Industrie und wenige Arbeiter gab, lief schleppend. Oft musste Ernst Papanek bis zu zehn Kilometer zu Fuß gehen, um dann vor sechs Menschen zu sprechen. »Wenn es auch manchmal geregnet hat, und der Weg, der von einem Ort zum anderen damals noch marschiert werden musste, weder betoniert noch asphaltiert war, es war doch eine schöne Zeit«, schrieb er Jahre später.81 1973 bezeichneten der SPÖ-Landeshauptmann Theodor Kery und der spätere Bundeskanzler Fred Sinowatz Ernst Papanek in einem Brief als »Lehrmeister« der »damals noch jungen burgenländischen Arbeiterbewegung«.82

      Oft störten Deutschnationale oder Christlichsoziale die Veranstaltungen im Burgenland. Einmal streute ein Nazi Papanek Pfeffer in die Augen, sodass dieser für einige Stunden blind war, ein anderes Mal wurde der Sozialdemokrat aus dem Fenster geworfen.83 »Seine politischen Aktivitäten brachten ihn oft in Gefahr«, berichtete mir Gus Papanek. »Für mich zeigt die Tatsache, dass er ins Burgenland geschickt wurde, dass er als mutig galt und bereit war, diese Aufgabe zu übernehmen.«

      Der Jahreswechsel 1932/33 brachte keine Beruhigung in Europa. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler in Deutschland zum Reichskanzler ernannt. In Österreich traten am 4. März während einer Geschäftsordnungsdebatte nacheinander die drei Nationalratspräsidenten zurück. Der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nutzte das dabei entstehende Chaos für seine autoritären Bestrebungen und erklärte, das Parlament habe sich selbst ausgeschaltet.84 Mithilfe eines Ermächtigungsgesetzes aus dem Ersten Weltkrieg regierte er von nun an diktatorisch per Notverordnungen. Dollfuß verhinderte mit Polizeigewalt die Neukonstituierung des Nationalrats, beschränkte die Presse- und Versammlungsfreiheit massiv, verbot Wahlen und führte die Todesstrafe wieder ein. Ein besonderer Affront gegen die Sozialdemokraten war das Verbot des Schutzbundes und der Aufmärsche am 1. Mai.

      Die SDAP wehrte sich so gut es ging: 300.000 Menschen nahmen am 1. Mai 1933 dennoch an »Massenspaziergängen« teil, politische Feiern wurden als Sportveranstaltungen getarnt. Ernst Papanek leitete eine illegale Maifeier auf einer Lichtung im Wienerwald. Aber die Stimmung schlug rasch um: In den nächsten Monaten trat ein Drittel aller Parteimitglieder aus, viele der (jungen) Radikalen liefen zu den Kommunisten und vereinzelt sogar zu den Nationalsozialisten über.

      Die Sozialdemokraten begannen, sich auf eine Zukunft in der Illegalität und im Widerstand vorzubereiten. Auch die Sozialistische Jugend reagierte und wählte auf ihrem Verbandstag Ostern 1933 Ernst Papanek zum Obmann der SAJ.

      Die Wahl Papaneks entsprach einem lange überfälligen Generationswechsel in der SAJ-Führung, war aber auch Zeichen für die »zunehmend politische Aktivierung der SAJ«, betont der Historiker Wolfgang Neugebauer. »Die neue SAJ-Führung, die sich des Ernstes der politischen Lage voll bewusst war, bemühte sich, die Aktivität der sozialistischen Jugend auf politischem, propagandistischem und paramilitärischen Gebiet auf das Äußerste zu steigern«, schreibt er.85 Neugebauer führte 1968 per Brief ein Interview mit Ernst Papanek. In seitenlangen Antworten erklärte Papanek sich Neugebauer: »Wir waren und blieben Anhänger der Demokratie und hatten nicht die Absicht, den Faschismus durch Kommunismus zu ersetzen. Wir versuchten, alle Hindernisse, die die Regierung unserer Tätigkeit in den Weg legte, zu überwinden. […] Wir waren bereit, ›unter Grund‹ zu gehen. Wir rechneten damit, dass wir es zu tun hätten und sahen darin einen Kampf für die Demokratie, der anderseits kaum mehr möglich war.«86

      Unter der Leitung von Ernst Papanek versuchte die SAJ in den folgenden Monaten den Spagat zwischen politischem Widerstandskampf und traditioneller Bildungsarbeit. Die Wehrsportübungen wurden intensiviert, Papanek selbst lernte Jiu-Jitsu, um sich waffenlos verteidigen zu können. Mit Sonderzügen führte er Jugendgruppen nach Bratislava, um den in Österreich verbotenen Film Im Westen nichts Neues zu sehen. Sonntagnachmittags trafen sich tausende Jugendliche zu Fünf-Minuten-Demonstrationen im Prater – wenn die Polizei eintraf, waren alle schon wieder weg, dafür drehten rote Fahnen am Riesenrad ihre Runden.

      Bei SAJ-Veranstaltungen saß nun die Polizei im Publikum und überwachte argwöhnisch, ob jemand Dollfuß kritisierte. Bei einer Großversammlung zum Thema »Warum die Drohnen im Bienenreich getötet werden« griff der Polizeikommissar einige Male nach seiner Kappe, erinnerte sich Papanek. »Wenn er sie aufgesetzt hätte, wäre die Versammlung aufgelöst worden und die Polizei einmarschiert! Er sagte mir nach der Versammlung, er hätte sehr viel über das anscheinend menschliche Verhalten der Bienen gelernt.«

      Im Herbst 1933 versuchte das Bundeskanzleramt, nach dem Schutzbund und der KPÖ nun auch die Sozialistische Jugend zu verbieten. Papanek erfuhr davon und schickte eilig ein Rundschreiben an alle Mitglieder. »Sofort nach dem Lesen vernichten!« stand groß als Betreff im Brief, in dem der SAJ-Obmann Weisungen für den Ernstfall gab. (Nicht alle hielten sich daran, eine Kopie landete bei der Polizei und liegt heute im Österreichischen Staatsarchiv.) Das Hauptargument der Regierung für ein Verbot der SAJ waren die paramilitärischen Wehrsportübungen, durch die die Jugendorganisation ihren »satzungsgemäßen Wirkungskreis« überschritten hätte, sowie regierungskritische Schriften.87 Überraschenderweise scheiterte der Verbotsversuch. Möglicherweise hinderte Papaneks Immunität als Landtagsabgeordneter die Behörden an einer konsequenten Vorgangsweise. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sich die zuständige Magistratsabteilung als Teil der sozialdemokratischen Wiener Gemeindeverwaltung weigerte, die beantragte Auflösung zu vollziehen.88 Die SAJ blieb – vorerst – bestehen.

      Vom 14. bis 15. Oktober 1933 tagte der letzte Parteitag der Sozialdemokratischen Partei. Es wurden Vorbereitungen für einen österreichweiten Generalstreik getroffen und festgelegt, unter welchen Umständen man zu den Waffen greifen würde: beim Verbot der SDAP oder der Gewerkschaften, beim Absetzen des Wiener Bürgermeisters oder im Falle einer faschistischen Verfassung. Auch ausländische Sozialdemokraten wie der Franzose Léon Blum, der Tschechoslowake Josef Stivín und Fritz Adler als Sekretär der Sozialistischen Arbeiter-Internationalen nahmen am Parteitag teil und versicherten den Österreichern ihre Unterstützung, vor allem in Form von Waffenlieferungen.89

      Gerade die jüngeren Genossen drängten darauf, nicht mehr tatenlos zuzusehen. In der Partei herrschte aber keineswegs Einigkeit darüber, dass Kämpfen die beste Option sei. Otto Bauer und Karl Renner unternahmen immer wieder Versuche, auf Kanzler Dollfuß zuzugehen.90

      »Man muss verstehen, dass sich zum Beispiel die Kommunisten leichter mit sowas getan haben«, betonte der SPÖ-Historiker Michael Rosecker im Gespräch mit mir. »Die KPÖ war eine jugendliche Kaderpartei. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei war eine Partei mit alten Leuten, Kindern, Männern und Frauen; das war eine tiefverzweigte Organisation in der Alltags- und Lebenswelt der Menschen. Da hat es Kampfrhetorik gegeben, natürlich, aber sie war eingebettet in die Banalitäten des Alltags. Und so eine Organisation in einen Bürgerkrieg zu führen – dass das bei den Menschen der Führung schwere moralische Konflikte und Hemmungen auslöste, ist verständlich.«

      ***

      Der Februaraufstand, die Februarunruhen, eine Revolution oder gar ein Bürgerkrieg – es gibt viele Namen für die Ereignisse in Österreich zwischen dem 12. und 15. Februar 1934. Egal, wie man es nennt, der Ausgang bleibt immer derselbe: die Niederschlagung der Sozialdemokratie, das Ende des Roten Wiens, der Siegeszug von Diktatur und Austrofaschismus und schlussendlich, vier Jahre später, der »Anschluss« Österreichs an Hitlerdeutschland.

      Aber zurück zum Anfang: In der ersten Februarwoche verstärkte die Polizei ihre seit Monaten laufende Suche nach Waffen in sozialdemokratischen Arbeiterheimen.91 Am 9. Februar, einem Freitag, fand die letzte Sitzung des Wiener Gemeinderats statt. Von Samstagnacht bis Sonntagmittag schob Ernst Papanek Dienst am Notfalltelefon im Parteibüro in der Rechten Wienzeile 97 und erhielt Berichte über verhaftete Schutzbund-Führer. Die Lage galt aber weiterhin als so stabil, dass Papanek nach seiner Ablösung mit Lene ins Kino fuhr, wo sie den Parteiführer Otto Bauer und dessen Frau trafen. Im Sascha-Palast in der Ungargasse lief Menschen im Hotel,


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