Auf Wiedersehen, Kinder!. Lilly Maier

Auf Wiedersehen, Kinder! - Lilly Maier


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Schwestern Olga und Margarethe posierend im Fotolabor …

      … der Straßenbahnausweis seiner Mutter Rosa …

      … und ein Foto der »Trödlerei Spira«, die von seinen Großeltern, Rosas Eltern, betrieben wurde.

      1.

      Vom Kaiser zur Sozialdemokratie

      Wir schreiben das Jahr 1900. Zwei Tage nachdem die Pummerin, die größte Glocke Österreichs, im Stephansdom das 20. Jahrhundert eingeläutet hatte, erschien erstmals die Österreichische Kronen Zeitung. Die Pariser Weltausstellung gab einen Ausblick auf das technokratische neue Zeitalter und begeisterte mit einer Rolltreppe, dem Tonfilm und dem Dieselmotor, während Ferdinand von Zeppelin in Friedrichshafen erste Probeflüge mit dem nach ihm benannten Starrluftschiff unternahm. Die Donaumonarchie wurde seit über fünfzig Jahren mit fester Hand vom frisch verwitweten Kaiser Franz Joseph I. regiert, im Juli sorgte die unstandesgemäße Hochzeit des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand für einen Adelsskandal. Obwohl der Kaiser als reaktionär galt und mit zunehmendem Unabhängigkeitsstreben der einzelnen Nationalitäten in seinem Vielvölkerreich zu kämpfen hatte, blühte das geistige Leben im Wien des Fin de Siècle. Gustav Klimt malte seine ersten Atterseebilder. Sigmund Freud veröffentlichte sein bahnbrechendes Buch Die Traumdeutung, das Grundlagenwerk der Psychoanalyse. Auf kaiserlichen Erlass hin durften erstmals Frauen studieren und den Doktortitel erhalten.

      In diese Welt wurde Ernst Papanek am 20. August 1900 hineingeboren. Sein Vater Johann Papanek war Ende des 19. Jahrhunderts als Handelsreisender auf der Suche nach einem besseren Leben aus dem südmährischen Bisenz (Bzenec) nach Wien gekommen.4 Dort lernte er Rosa Spira kennen, die ebenfalls aus einer mährischen Familie stammte, aber in Wien aufgewachsen war. Das jüdische Paar heiratete am 27. März 1898 in der Synagoge in Wien-Fünfhaus und bekam drei Kinder: Margarethe, Ernst und Olga.5

      Eines der wenigen erhaltenen Kinderfotos zeigt die Papanek-Geschwister 1906 beim Posieren im Fotoatelier: Die Mädchen tragen weiße Kleider und Blumen im Haar, Ernst einen Matrosenanzug.

      Bis 1911 lebten die Papaneks in der Gumpendorfer Straße 122 im 6. Bezirk. Ernst besuchte die nahgelegene Volksschule für Knaben in der Rosagasse 8.6 In Naturlehre, Geschichte, Geographie sowie im Gesangsunterricht glänzte er, aber mit der »äußerlichen Form der schriftlichen Arbeiten« tat er sich laut Zeugnis schwer. Dann übersiedelte die Familie in eine Wohnung in der Reindorfgasse 17 im 15. Bezirk, einem vierstöckigen Mietshaus neben der Gastwirtschaft »Zum Guten Hirten« und der Pfarrkirche Reindorf zur »Allerheiligsten Dreifaltigkeit«, einem josephinischen Kirchenbau.

      Ernst wuchs in einem kleinbürgerlichen, ärmlichen Elternhaus auf. Sein Vater Johann arbeitete als reisender Händler, Rosa war Schneidergehilfin. Die Papaneks und ihre Vorfahren waren jüdisch, allerdings nahmen sie religiöse Vorschriften und Traditionen wohl nicht sehr streng. So wurde die Geburtsurkunde von Ernst zwar von der Israelitischen Kultusgemeinde ausgestellt, Johann und Rosa ließen ihren Sohn aber nicht beschneiden und gaben ihm auch nicht – wie bei Juden üblich – einen zusätzlichen hebräischen Vornamen.

      Die Papaneks waren also keineswegs fromm, trotzdem gab es eine kurze Phase in Ernsts Kindheit, in der er sich betont jüdisch gab und sogar Rabbiner werden wollte. »Er war jemand, der passionierend über alles war«, erklärte Ernsts Sohn Gus Papanek in amerikanisch-deutschem Sprachmix 1979 in einem Interview.7 Wenn Ernst Papanek sich für etwas interessierte, dann immer mit Haut und Haar, dann warf er sich geradezu auf ein Thema. So sollte es mit seinem lebenslangen leidenschaftlichen Einsatz für die Sozialdemokratie sein und so war es bei seiner kurzen »Liebesaffäre« mit dem Judentum.

      Wenn der halbwüchsige Ernst nun am Samstag seine Großeltern mütterlicherseits in ihrer »Trödlerei Spira« besuchte, hatte er ein Problem. Sie schenkten ihm und seinen Schwestern Geld, aber am jüdischen Ruhetag Schabbat durfte man dieses nicht in die Hand nehmen. Also hielt er die Tasche seines Matrosenanzugs weit auf, damit die Großmutter das Geld hineinwerfen konnte, ohne dass er es berühren musste.

      In der Volksschule besuchte Ernst noch den »mosaischen« Religionsunterricht, als Jugendlicher erklärte er sich dann aber für konfessionslos. Zeit seines Lebens blieb er bei dieser Einstellung – als Erwachsener hatte er nur mehr ein sehr rudimentäres Wissen über das Judentum.

      Während seiner Kindheit erlebte Ernst Papanek das letzte Aufblühen der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie, dann brachten die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 schockwellenartige Veränderungen. Papanek war zu diesem Zeitpunkt Schüler am Realgymnasium in der Diefenbachgasse und überzeugter Monarchist. »Der Kaiser war eine herrliche Gestalt für mich«, erinnerte er sich Jahrzehnte später.8 Papanek kam aus einer unpolitischen Familie und verstand daher viele Zusammenhänge nicht. Als kleiner Bub las er einmal auf einem Wahlplakat, dass die Sozialdemokratie für das Volk sei. Aber in der Schule hatte er gelernt, dass der Kaiser für das Volk sei. Seine Schlussfolgerung: Der Kaiser war Sozialdemokrat.

      1914 wurde Johann Papanek zum Kriegsdienst einberufen und Ernst begann die Familie mit Gelegenheitsarbeiten finanziell zu unterstützen. Gleichzeitig ließ sich der 14-Jährige von der allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken und trug mit seiner kleinen Schwester Süßigkeiten zu den Zügen, die die Soldaten an die Front brachten.9 Seine monarchisch-patriotische Treue zeigt auch ein um die Zeit entstandenes Schulfoto: Papanek als gutaussehender Junge mit aufgewecktem Gesicht, gestrickter Krawatte und einem militärisch anmutenden Kreuzanstecker am Revers.

      Einen ersten Riss bekam Ernst Papaneks Weltbild, als er beobachtete, wie junge Soldaten zu den Klängen des Radetzkymarsches durch die Straßen Wiens marschierten. Nachbarn säumten die Straßen, winkten den Soldaten zu und bewarfen sie mit Blumen. Für einen kurzen Moment trat ein lachender Soldat aus der Reihe, um eine der Blumen aufzuheben, da stürmte ein Feldwebel auf ihn zu und riss ihn brutal in die Formation zurück. Der Soldat verstummte und in seinem Blick spiegelte sich plötzlich all die Todesangst und Vorahnung dessen, was der Krieg noch bringen würde. Die Szene ließ Ernst Papanek ein Leben lang nicht los. Wenige Jahre vor seinem Tod erklärte er, er könne einen ganzen Roman über diesen einen Augenblick schreiben, so sehr wirke er in ihm nach.10

      Der aufgerüttelte Jugendliche stellte nun erst einmal alles in Frage: den Krieg, den Kaiser, die Politik. Noch allerdings hatte er keinen Ort für seine neuen Überzeugungen. »Ich war mehr Rebell als Revolutionär«, beschrieb Papanek seine Einstellung später, »mehr Anarchist als Sozialist«.11 Klassenkameraden schlugen ihm vor, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beizutreten, aber er zögerte. Nach seiner Abkehr vom kaisertreuen Patriotismus fand der idealistische 14-Jährige die Sozialdemokraten nun erst einmal nicht sozial(istisch) genug. Zu viele Kompromisse, zu wenig Interesse am »Lumpenproletariat«, an den Massen an hungernden Menschen auf der Straße, klagte er.12 Gute zwei Jahre dauerte es, dann beschloss Papanek, dass zu wenig Sozialismus immer noch besser sei als gar keiner und dass auch der größte Idealist auf verlorenem Boden kämpft, wenn er alleine ist. Also trat er 1916 der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschösterreich bei.13

      In der fünfjährigen Volksschule schreibt Ernst Papanek gute bis gemischte Noten, für eine Versetzung auf das Realgymnasium reicht es aber.

      Das Parteilokal Rudolfsheim lag nur unweit von seinem Elternhaus entfernt und dort nahm er jetzt regelmäßig an Diskussionsabenden teil. Nur wenige Monate später kam es zu einem für Papanek und die gesamte Bewegung einschneidenden Ereignis: Am 21. Oktober 1916 erschoss der Parteisekretär Friedrich (Fritz) Adler im Wiener Hotel Meißl & Schadn in aller Öffentlichkeit den Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh.14

      Stürgkh galt als Kriegstreiber und regierte dank kaiserlicher Verordnungen zunehmend


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