Schwarzes Gold. Dominique Manotti
»Da komme ich gerade her, Herr Staatsanwalt.«
»Man hat dort eine Hypothese, glaube ich.«
»Welche, Herr Staatsanwalt? Es wurde nichts dergleichen erwähnt.«
»Für sie ist Pieris Ermordung im Zusammenhang mit all den Abrechnungen zu betrachten, die die Côte seit Monaten mit Blut tränken, eine Episode im Machtkampf zwischen Zampa und Francis Le Belge um das Erbe der Guérini-Brüder. Es ist möglich, dass Pieri mit Verspätung für seine anrüchige Vergangenheit an der Seite von Antoine Guérini bezahlt hat. Wenn das zutrifft, liegt der Schlüssel für diese Abrechnung nicht bei der Somar, die, wie Ihnen jeder sagen wird, ein respektables Unternehmen ist, und das soll sie auch bleiben. Wir wollen nicht alles durcheinanderwerfen. Trotz seiner Vergangenheit war aus Pieri seit etwa zehn Jahren eine angesehene Persönlichkeit der Marseiller Wirtschaft geworden.«
»Wann werden wir eine Rekonstruktion des Verbrechenshergangs durchführen können?«
»Das wäre möglicherweise eine schlechte Reklame für unsere Casinos zu Beginn der Tourismussaison. Und teuer ist es auch. Wir wollen keine unvernünftigen Ausgaben verursachen. Wie Pieri erschossen wurde, scheint sehr klar. Ihre Niçoiser Kollegen haben mir einen Bericht dazu übergeben.« Der Staatsanwalt steht auf, drückt Daquin herzlich die Hand. »Halten Sie mich in kurzen Abständen auf dem Laufenden. Wir zählen darauf, dass Sie umsichtig vorgehen. Angesichts der Person des Opfers ist dies ein extrem heikler Fall.«
Rückfahrt nach Marseille, über zwei Stunden Fahrt, sehr lästig, Daquin hat weder eine Vorliebe für Autos noch fürs Fahren, auch nicht als Sport. Als er Nizza über die Promenade des Anglais verlässt, fährt er im Schritttempo am Palais de la Méditerranée vorüber. Eine hohe Fassade in aggressivem Weiß vom Typ mehrstöckige Sahnetorte. Ein Durcheinander von Stilen, pseudo-römische Arkaden, gerahmt von pseudogriechischen Pilastern, gekrönt von Basreliefs und Statuen, die sehr nach 19. Jahrhundert aussehen. Ein Tempel des schlechten Niçoiser Geschmacks der Dreißigerjahre. Dieser Tatort ist eine Theaterkulisse, perfekt für ein inszeniertes Verbrechen. Solange man mir keine Rekonstruktion genehmigt, bleibt das Ganze für mich ein Schattenspiel. Ich muss mit eigenen Augen sehen, was passiert ist. Wir werden unsere eigene Rekonstruktion durchführen.
Während der Fahrt schweifen seine Gedanken umher. Gemischte Tagesbilanz. Positiv die Reaktionen von Grimbert und Delmas. Das Team ist im Begriff, sich zu bilden, ich kann es regelrecht spüren. Passabel das Treffen mit Bonino. Verheerend die Unterredung mit Staatsanwalt Coulon. Er liefert die »offizielle« Version, will sagen, seine eigene, nicht die von Bonino: Exekution durch das Milieu. Wie sagte Grimbert? »Ich stelle gewaltige Ungereimtheiten fest.« Und schloss die Möglichkeit einer Inszenierung nicht aus. Der ist der geborene Bulle. Und aus mir unbekannten Gründen zählt Staatsanwalt Coulon auf mich, den Jungspund, um die These einer Abrechnung im Milieu zügig zu bestätigen und den Fall zu begraben. Deutlicher konnte er es nicht sagen. Und wenn ich nicht die offizielle Linie verfolge, werde ich aufs Abstellgleis geschoben und habe nichts zu erwarten, weder vom Direktor noch vom Staatsanwalt, niemand wird mich unterstützen. Gut. Ich werde mich nicht abschieben lassen. Einzige Möglichkeit, dem zu entgehen: die Mörder finden, oder zumindest Fährten auftun, Fakten, Beweise. Coulons Blockadehaltung ist zu verbohrt, um haltbar zu sein, wenn ich vorankomme, und sei es nur wenige Schritte. Ohne ein bisschen Glück, viel Glück, werde ich es nicht schaffen. Nach draußen gehen, Witterung aufnehmen, herumlaufen, viele Gelegenheiten schaffen, um meinem Glück zu begegnen, und wenn ich ihm begegne, werde ich es zu ergreifen wissen. Bis dahin lege ich mich auf die Lauer, Geduld ist eine Tugend. Schon möglich, aber wir haben nur fünfzehn Tage. Keine ausgemachte Sache. Aufregend.
Marseille, Vorfreude auf die Wohnung hoch über dem Getriebe, dem Lärm und den Gerüchen des Vieux-Port. Der Plan für heute Abend: Cognac auf der Loggia. Allein. Das Vergnügen, allein zu sein. Das ganze Jahr in Beirut ist er das nie gewesen, allein. Und das hat ihm am Ende zu schaffen gemacht. Beirut, eine Idee von Lenglet. Als Daquin Lenglet begegnet ist, war er sechzehn Jahre alt. Seine selbstmordgefährdete Mutter hatte sich schließlich mit Alkohol und Medikamenten umgebracht und war seit drei Jahren tot. Er hegte eine Vorliebe für Jungs, von der er nicht recht wusste, wie er sie leben sollte, und befand sich im offenen Krieg gegen seinen Vater. Lenglet brachte ihm bei, ohne Komplexe zu vögeln. Eine weder zur Schau gestellte noch versteckte Sexualität, ganz normal. Dabei haben sie nie eine sexuelle Beziehung gehabt oder in Liebesdingen konkurriert, was ihnen eine stabile und dauerhafte Freundschaft ermöglicht. Sie haben zusammen Politologie studiert, beide mit glänzendem Abschluss, und derselben Neigung zu geistigen und körperlichen Abenteuern folgend hat Lenglet sich dem diplomatischen Dienst in seiner geheimdienstnahen Variante zugewandt und Daquin der Polizei, eine Revolte gegen seinen Vater, für den der diplomatische Dienst denkbar war, die Polizei – ein Bettlerberuf – dagegen nicht, er hat einen Juraabschluss gemacht und ist dann in die Kommissarsschule eingetreten. Danach Beirut, Sicherheitsdienst der französischen Botschaft, wo Lenglet seit zwei Jahren arbeitete, die Begegnung mit Paul Sawiri, einem fünfundvierzigjährigen Libanesen, Mitarbeiter von Lenglet, intelligent, kultiviert. Seine erste dauerhafte Beziehung, ein Jahr, eine Ewigkeit. Erdrückend mit der Zeit, wie übrigens auch die ständige Gegenwart Lenglets. Eine noch nicht abgeschlossene Trennung. Und jetzt Marseille, Cognac, Vieux-Port und Alleinsein.
Als er ankommt, stellt er den Wagen im Évêché ab und geht zu Fuß. Abstecher zur Kaffeerösterei auf der Canebière, wo er einen elektrischen Espressokocher und ein Kilo gemahlenen Kaffee aus Italien kauft. Zu Hause hat er kaum geduscht, als das Telefon klingelt. Vincent Royer, ein Kommilitone von der Jurafakultät.
»Porticcio rief an, um mir zu sagen, dass du eine Weile in Marseille bist und er dir seine Wohnung geliehen hat. Du hättest es schlechter treffen können!«
»Sagen wir, ich beschwere mich nicht.«
»Weißt du, dass ich nach Marseille zurück bin, um mich als Anwalt niederzulassen?«
»Porticcio erzählte davon. Gefällt es dir hier?«
»Ja, ich liebe meine Heimatstadt. Und ich habe großes Glück. Ich bin Partner von Maître Lombardino, wir haben beim bevorstehenden Riesenprozess um die Zerschlagung der berüchtigten French Connection die Verteidigung einiger Angeklagter übernommen, insgesamt über dreißig Beschuldigte. Ich vermute, du hast im Évêché davon reden hören?« Daquin brummt etwas. »Ich bin zuständig für das Dossier der Ehefrau des Hauptangeklagten. Das ist faszinierend, in beruflicher Hinsicht.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Wir könnten uns vielleicht treffen …«
»Morgen, komm zum Abendessen zu mir, besser gesagt zu Porticcio, am Quai du Port. Du kennst die Adresse, wenn ich recht verstanden habe. Etwas später, gegen neun, ich weiß nicht, um wie viel Uhr ich im Évêché fertig bin …«
»Abgemacht. Sehr gern.«
Vincent, Mitglied der kleinen Clique an der Jurafakultät. Vage Erinnerung … Ich denke morgen darüber nach.
Heute Abend macht sich Daquin daran, die Plattensammlung seines Freundes, überwiegend Klassik, nach Jazz zu durchstöbern, und setzt sich mit seinem Cognac in einen Liegestuhl auf der Loggia. Die Lichter des Vieux-Port blinken in der Nacht. Es ist kühl. Morgen ist ein anderer Tag.
Mittwoch, Marseille
Die großen nationalen Tageszeitungen melden Pieris Ermordung auf einer Spalte im Innenteil, Rubrik Vermischtes:
MARSEILLER REEDER AUF DER PROMENADE DES ANGLAIS IN NIZZA ERSCHOSSEN
Maxime Pieri, ein Akteur bei der wirtschaftlichen Umstrukturierung des Hafens von Marseille, scheint mit einigen Jahren Verspätung für seine anrüchigen Verbindungen zum Guérini-Clan in der unmittelbaren Nachkriegszeit gebüßt zu haben.
Gleich am Morgen versammeln sich Daquin und seine beiden Inspektoren in ihrem Büro. Grimbert kommt allen anderen zuvor.
»Wie von Ihnen beauftragt,