Ein Blockhaus in der Einsamkeit. Nicole Lischewski
Ich wischte meine schneefeuchte Hand an der Fleecehose ab und begann mit den Hunden der Bärenfährte zu folgen. Die knorrigen Äste der Fichten ließen immer wieder einen Teil ihrer kalten Ladung in meinen Jackenkragen fallen, als ich mich unter ihnen hindurchwand. Über umgestürzte Bäume war auch der Bär geklettert: Die Schleifspur seines Hinterteils zog sich zwischen den Tatzenabdrücken über ein paar besonders dicke, quer liegende Stämme. In dem zunehmend moorigen Gelände lehnten die verkümmerten Fichten trunken aneinander, die schwärzlichen Pfützen darunter waren mit hauchdünnem Eis versiegelt. Fahlgelbes Sumpfgras ragte elegant aus dem Schnee und strich gegen meine Beine.
Anders als die festgeklopften Pfade der Schneehasen folgte die Bärenspur keiner bestimmten Richtung. Vereinzelte Hagebutten leuchteten im Unterholz, unter ihnen feine Tupfen von Hermelinspuren, als hätte ein Kind alle fünfzehn Zentimeter zwei Finger in den Schnee gepresst. Das Gezwitscher eines kleinen Schwarms Meisen durchbrach die Stille des Waldes.
Mein Menschsein schien mir fehl am Platz zu sein, hatten doch alle andern Lebewesen um mich herum vier Beine oder Flügel. Bloß einen Einblick in das Leben des Bären wollte ich bekommen, erahnen, mit welchen Gedanken er sich durch den Wald bewegt hatte. Vielleicht folgte ich ihm auch einfach aus meinem Bedürfnis nach Kontakt und dem Wunsch zu wissen, was in meiner Nachbarschaft vor sich ging.
Die Gedanken des Bären – so weit war es mit mir schon gekommen. Für den Fall, dass der Bär noch in der Nähe war, rief ich ab und zu laut nach den Hunden, obwohl sie sich recht dicht bei mir hielten. Die Spuren interessierten mich, aber überraschen wollte ich das Tier nicht; auch wenn ein Bär normalerweise vor so vielen Hunden Reißaus nehmen würde.
Im offenen Pappelwald wanden sich die Spuren zwischen den Bäumen hin und her. Ich pflückte von den dürren Zweigen der Highbush-Cranberry-Sträucher ein paar hellrote, glasige Beeren, die mir sauer und leicht bitter auf der Zunge zergingen. Fast unkenntlich gemacht von den Hundepfoten führte die Bärenspur vor mir weg und hielt auf einmal inne. Tief waren die Tatzenabdrücke in die fünf Zentimeter Schnee gedrückt, hatten die Gräser darunter hervorgeschmolzen, an denen sich jetzt die neuen Schneeflocken verfingen.
Unser Blockhaus in der Dämmerung
Dort hatte er gestanden, der Bär, in den weiß-braunen Winterwald gestarrt und die Neuigkeiten gerochen, die der Wind ihm zutrug. Vielleicht den Rauch aus unserer Ofenröhre, das Nass des großen Gletschersees, die herben Beeren und alte Fährten von Chris, den Hunden und mir. Mit zögernden Schritten, so erzählte die gedrängte Zahl seiner Spuren, hatte der Bär sich wieder umgewandt und war zurückgegangen. Vielleicht dachte er schon an seine Höhle, in der er sich bald zusammenrollen und die kalt und dunkel gewordene Welt bis zum Frühling vergessen würde.
Dir geht es im Moment nicht viel anders als mir, Bär. Fühlst dich auch etwas seltsam in dieser Zeit der Umstellung, der Einkehr, wo es in der Wildnis so still wird. Zögernd kehrte ich um und kürzte zu einem unserer Trampelpfade in Richtung Blockhaus ab. Langsam brach die Dämmerung herein.
Es ist erst in der totalen Einsamkeit, wenn kein anderer Mensch mehr da ist, dass sich alle Sinne dem Land weit öffnen. Lebt man doch als Mensch im täglichen Dialog mit anderen, an denen man sich erkennt und definiert. Fällt das weg, dann greifen die Augen, Ohren, Nase und Hände in ihrem Bedürfnis nach Kontakt und Austausch nach den Bergen, der sterilen Winterluft, dem Ruf eines Raben. Die Handfläche liegt weich im Schnee, der noch vor Stunden die Pranke eines Bären hielt. Die Grenzen zwischen dem, was mich ausmacht, und dem wilden Land um mich herum fangen an, zu verwischen.
Der Unglücksrabe
Zitterpappeln mit Raureif
Der Unglücksrabe
Tagish Lake, 16. November: Eisnebel.
Die Öllampe tünchte das Stillleben aus Teetassen, Tellern und Töpfen auf der Küchenanrichte in ein anheimelnd goldenes Licht, das auch das Innenthermometer erhellte: elf Grad. Brr. Koyah, der mit seinen inzwischen elf Jahren sicher nichts gegen eine Zentralheizung einzuwenden hätte, drängte sich unter meinem Arm hindurch, als ich vor dem Holzofen niederkniete. Ich strich ihm über seine samtweichen Ohren.
„Na, du alter Stinker? Gut geschlafen, hm? Nee, ich will kein Küsschen. Komm, lass mich mal in Ruhe Feuer machen.“ Vorsichtig blies ich auf die Glut, bis die erste Flamme kam, und legte Holz nach. Das Feuer begann an dem winzigen Scheiterhaufen zu lecken und gab prasselnd die Wärme so vieler Sommer frei.
Eisnebel
Der Wasserkessel summte mir auf dem Propangasherd eine leise Hintergrundmusik, als ich das Radio an seiner Handkurbel neu aufwand. Während ich der Wettervorhersage lauschte (kalt und grau im ganzen Yukon und auch Atlin), goss ich das brodelnde Wasser in den Kaffeefilter auf meiner Tasse und mischte mir in einer Schale mit Kondensmilch, Wasser und Müsli mein Frühstück. Das Kaffeearoma vermischte sich mit dem leichten Rauchgeruch des Feuers.
Ich liebte diese winterliche Morgenroutine, das gemächliche Wach- und Hellwerden, in dem das Blockhaus wie ein Schoß der Geborgenheit war: Das sanfte Licht der Öllampe und die Wärme meines Feuers inmitten der dunklen, kalten Wildnis.
Draußen begannen sich die kahlen Äste der Pappeln skelettös gegen den dunkelgrauen Himmel abzuheben. Seit Chris fort war, rückten die Stunden der Helligkeit immer dichter zusammen. Widerwillig nur schob sich die blasse Sonne am späten Vormittag über die Berge, lang angekündigt von einer fast zwei Stunden währenden Morgendämmerung.
Bei minus 10, minus 14 Grad wie heute dampfte der See wie ein riesiger Waschzuber, kühlte aus, obwohl man den von Gletscherwasser gespeisten See selbst im Hochsommer nicht anders als eiskalt bezeichnen konnte. Die grau verhangene Novemberlandschaft verwandelte sich zu einem unwirklichen, verschwommenen Nebelbild, in dem sich die andere Seeseite nur mehr schemenhaft abzeichnete. Morgens, wenn es am kältesten war, verschluckte der feuchte Eisnebel sogar den See. Gerade das Ufer und ein Streifen grau-blaues Wasser ließen sich noch erkennen. Fantastisch lange Eiskristalle setzten sich an den Tannenzweigen und Pappelästen ab, zierliche weiße Federn, die wie Festschmuck an den Bäumen prangten.
Die Sonne kämpft sich durch den Eisnebel
Tagsüber, wenn die Temperaturen anstiegen, hob sich die Nebeldecke stetig, bis sie schließlich auf hundert Metern über dem Wasser festhing. Gespenstisch drehten sich dampfende Nebelschleier über dem See, wirbelten hoch in die Luft wie ein Heer tanzender Geister.
Feucht wie aus einer Gruft legte sich dann der leiseste Windhauch auf mein Gesicht, ein klammer Abschiedsgruß des Sees, bevor er für die nächsten sechs Monate eine Decke aus Eis über sich ziehen würde. Der Nebel setzte an den längsten Spitzen Hundefell und an meinen Haaren winzige Eiskristalle wie feine Spinnweben ab.
Weiter weg vom See dagegen, nur ein, zwei Kilometer entfernt, schien die Sonne aus dem klaren Winterhimmel auf eine kältere und scharf umrissene Landschaft, die nicht von der großen Wasserfläche warmgehalten und eingenebelt wurde.
Kauend überlegte ich mir meine Pflichten für diesen Nebeltag. Die kleinen Arbeiten – Holz sägen und spalten, Wasser holen, mit den Hunden spazieren gehen, um die Cabin herum Schnee schippen, die Öllampen neu füllen – waren das Gerüst eines jeden Tages, das in den Monaten ohne Chris meinem völlig amorphen Leben einen festen Rahmen, eine Routine und Wichtigkeit gab.
Morgenstimmung in der Cabin
Zwei große Stapel Brennholz