Ein Blockhaus in der Einsamkeit. Nicole Lischewski
Aufmerksamkeit auf sich zog. Er tat nicht weh, aber etwas stimmte daran nicht. Ich schluckte, saß ganz still. Kein Zahn meldete sich. Ich schob mir einen weiteren Löffel Haferflockenmix in den Mund und kaute auf der linken Seite. Da war es wieder: Kein Zahnschmerz, aber die Plombe, die ein gutes Drittel des Backenzahns ausmachte, bewegte sich sachte, ganz leicht, hin und her. Mit Herzklopfen stellte ich die Müslischale auf den Tisch und trank einen Schluck Kaffee zur Nervenstärkung.
Typisch. Fast jedes Jahr passierte zum Winter hin irgendetwas, das keinerlei Problem, höchstens ungelegen wäre, wenn es einige Wochen früher geschehen wäre. Doch kaum, dass die Bootssaison, in der wir die Wildnis noch leicht verlassen konnten, vorbei und Chris irgendwo auf Reisen war, geschah es. Einmal war es ein Formular, das ich ausfüllen, unterschreiben und per Post verschicken sollte, als jemand meine Kreditkartennummer zweckentfremdet hatte; im letzten Winter hatte der inzwischen fünfzehnjährige Blizzard eine Augenentzündung, die nicht besser wurde. Ein anderes Mal ging eine der Kettensägen kaputt – und diesen Winter war es also ein Zahn.
Ein Zahn, von dem nicht mehr viel übrig war. Was, wenn die Plombe herausbrach? Ob dann der Nerv freiliegen würde? Aber jetzt noch zum Zahnarzt – wie denn? Ein Wasserflugzeug konnte aus Atlin nicht mehr kommen, da sie schon längst von ihren Pontons genommen waren. Ich müsste noch gut anderthalb Monate warten, bis sie auf Skis umgerüstet und die Seen sicher genug zum Landen gefroren wären. Hubschrauber? Aber ich bekäme niemals alle vier Hunde und mich in einem Jet-Ranger verstaut. Ich konnte sie ja nicht einfach hier lassen, da es sich nicht an einem Tag erledigen ließ. Und allein die Kosten – schon für die Fliegerei weit über tausend Dollar. Ich könnte vielleicht – ein lautes Rumsen unter der Cabin riss mich aus meinen Gedanken.
Hermelin
Drei Hundeköpfe fuhren hoch, nur der alte Blizzard war schwerhörig und hatte nichts gemerkt. Fragend schauten die Hunde mich an.
„Ich war's nicht. Vielleicht ist das Hermelin auf Mäusejagd“, schlug ich vor. Das im Winter elegant in seinen blütenweißen Pelz und schwarze Schwanzspitze gekleidete Wiesel sorgte regelmäßig für Mord und Totschlag in der Mäusepopulation unter dem Haus.
Schräg unter mir raschelte es laut, dann klang es, als würde etwas durch die Gegend geschleift. Sollte etwa ein Bär …? Unwahrscheinlich. Die waren doch längst im Winterschlaf, auch der kleine Fährtenleger vom Oktober. Aber irgendetwas Großes krabbelte direkt unter mir herum.
„Bleibt“, sagte ich zu den Hunden und stand so leise auf, wie es auf dem knarrenden Sperrholzboden möglich war. Mit dem Bärenpfefferspray in der Hand zog ich vorsichtig die Tür auf und spähte unter die Cabin. Ein Rabe hüpfte unter dem Haus hervor und flog schwerfällig in den nächsten Baum, wo er auf einem tiefliegenden Ast sitzen blieb.
„Hey“, sagte ich überrascht. „Was soll das denn?“
Ein Rabe zu Besuch
Der Rabe fixierte mich mit starrem Blick. Ich schaute unter die Cabin, von wo der große Vogel eine schwarze Mülltüte, in der sich ein Rest Isolierwolle befand, hervorgezerrt hatte. Der Schnee vor dem Blockhaus war gestrichelt mit einer Unzahl von Rabenspuren.
„Du, tut mir leid, aber da ist nichts Essbares. Chris hat den Herbstmüll mit raus auf die Halde genommen.“
Doch offenbar kannte sich der Rabe mit der menschlichen Wegwerfgesellschaft aus. Er blieb sitzen. Ich stopfte die Tüte unter die Cabin, weiter nach hinten. So was Dreistes! Um Probleme mit Bären zu vermeiden, ließen wir nie Abfälle herumliegen und damit war auch für Raben nichts zu holen. Erstaunlich, dass er sich so weit unter die Cabin gewagt hatte, wo doch das Haus unten nach drei Seiten hin abgesiegelt war. Vermutlich war es ein Atliner Rabe, der sich normalerweise auf der Müllhalde durchschlug – darum war er so abgebrüht und kannte sich mit Plastiktüten aus.
Ich ließ ihn in der Pappel sitzen, schwarz und bucklig in der grauen Morgendämmerung. „Die Vögel“ von Hitchcock kamen mir in den Sinn.
In der Küche legte ich mir Seife und Shampoo, Waschlappen und Handtuch zurecht.
Bei dem kurzen Tageslicht schaffe ich das niemals an einem Tag: nach Atlin fliegen, 200 Kilometer nach Whitehorse fahren, zum Zahnarzt, zurück nach Atlin, wieder heimfliegen. Und wenn ich schon draußen bin, müsste ich direkt einen Großeinkauf machen und den Hubschrauber vollladen, damit es sich irgendwie lohnt. Aber so viel Geld habe ich auch nicht mehr übrig, um jetzt noch viel einzukaufen. Mist. Verärgert goss ich warmes Wasser in meine Waschschüssel. Und wen soll ich einfliegen lassen, um solange auf die Hunde aufzupassen?
Alltägliches Anheizen des Ofens
Ich zog mich aus, tunkte den Kopf in die Schüssel und massierte mit fahrigen Fingern Shampoo in meine Haare. Für den Flug müsste ich außerdem ein paar extra Tage einkalkulieren, da sie bei dem Nebel nicht immer fliegen konnten. Selbst wenn ich plötzlich starke Schmerzen bekäme – alles müsste erst organisiert werden, bevor ich raus könnte. Egal, wie weh es tat. Ich hielt meinen Kopf über die Küchenspüle und goss mir Wasser über die Haare. Schaumig kreiselte es in den Abfluss und plätscherte in den Eimer unter der Spüle.
Schon wieder jemanden um einen Gefallen bitten: auf die Hunde aufzupassen und mir eventuell ein Auto zu leihen, da wir keines mehr besaßen. Der Postbus fuhr nur drei Mal die Woche von Atlin nach Whitehorse.
Immer waren meine Zivilisationsbesuche mit diversen Bitten verbunden. Kannst du mich mal hierhin fahren, kannst du meine Post abholen, kannst du mir etwas aus Whitehorse mitbringen. Sicher, ich verließ die Wildnis nur zwei, drei Mal im Jahr, aber stets hatte ich eine ganze Anzahl von Gefallen von meinen Freunden zu erfragen. Und meine Möglichkeiten, mich zu revanchieren, waren sehr begrenzt geworden.
Plötzlich polterte es erneut laut unter dem Haus.
„Jetzt ist aber gut“, rief ich ärgerlich, drückte das Wasser aus meinen Haaren und stapfte nackt und tropfend zur Tür. Vogelterror brauchte ich jetzt nicht! Eiskalte Luft schlug mir entgegen. Der Rabe segelte schwerfällig in einen Baum – diesmal einen andern, wo er erneut auf einem tiefen Ast landete. Normalerweise sitzen sie doch viel weiter oben? Fröstelnd schaute ich den schwarzen Vogel an. Irgendwie machte er keinen gesunden Eindruck. Seine Schwingen hingen leicht herab. Ich seufzte. „Du hast richtig Hunger, was? Wieso fliegst du nicht rüber nach Atlin, das ist doch kein Problem für dich! Zwei Seen und ein Fluss.“
Der Rabe bewegte sich nicht, wie die Vögel es sonst meist tun, wenn man mit ihnen redet. Kein Kopfdrehen, kein auf dem Ast trippeln, nichts. Nur der starre Blick, der sich in meine Augen bohrte.
Vielleicht hat er noch nicht so viele Unterhaltungen mit nackten, nasshaarigen Frauen geführt, dachte ich schaudernd – recht hat er, es ist zu kalt, um splitternackt im Türrahmen zu stehen. Ein paar Sekunden lang sahen wir uns stumm an, dann machte ich die Tür zu und schaute aus dem Fenster. Der Rabe sah von draußen hinein.
„Spanner“, sagte ich und ging zurück in die Küche, um mein Waschritual zu beenden. Sollte ich ihn füttern oder nicht? Eigentlich fanden wir es sinnvoller, wenn Wildtiere sich ihr Futter selbst beschafften. Nur den Kolibris konnten wir nicht widerstehen und hängten jeden Sommer eine Nektarröhre für sie auf.
Ich zog mir wieder meine schwarzen Fleecehosen und das Sweatshirt an, schlich zur Tür und riss sie plötzlich auf. Der Rabe hüpfte flink unter dem Haus hervor, schlug mit den Flügeln und hob sich in die Luft. Diesmal sah ich in seiner linken Schwinge ein Loch in der Größe der kanadischen Ein-Dollar-Münze aufblitzen. Ein Nachbar in Not! Natürlich musste er gefüttert werden.
Blaugraue Wolken hingen tief über den Bergen, hatten die dramatisch gezackten Gipfel am Südende des Sees ganz ausgelöscht, als ich mit zwei Handvoll Hundetrockenfutter zum Ufer hinunterging. Ernst und still sah der dunkle Wald aus, ebenso bleiern der