Ein Blockhaus in der Einsamkeit. Nicole Lischewski
Kopf nach links, zupfte an einer Weide und brach mit einem kurzen Kopfnicken den Endtrieb eines dünnen, kahlen Zweiges ab. Kauend schaute sie mich an.
„Tut mir leid wegen der Hunde. Die hatten sich wohl auch erschreckt. Zwei Babys hast du! Bist aber eine tolle Mama. Und so eine Schöne!“ Die langen Ohren, deren cremefarbenes Innenfell nach außen hin mit einer feinen Linie schwarzer Haare abgegrenzt war, spitzten sich. Erleichtert nahm ich die damit ausgedrückte Wachsamkeit und Interesse wahr – bei angelegten Ohren und einem vorgestreckten, gesenkten Kopf machte man sich besser davon. Ihr Mähnenfell legte sich langsam wieder flach, getüpfelt mit darin verfangenen Schneeflocken. Anscheinend hatte ihr die Hundebegegnung nicht nachhaltig die Laune verdorben. Eines der Kälber versuchte sich hinter ihr unsichtbar zu machen, indem es sich näher an sie drängte, während das andere mich skeptisch beäugte.
Elchkuh und Kalb
„Na, ihr? Ganz schön groß seid ihr schon. Ist alles okay.“ Fröstelnd verschränkte ich meine Arme vor der Brust und trat auf der Stelle. Schade, ich hätte gerne gewusst, welchen Geschlechts die beiden Kälber waren, aber konnte es von hier aus nicht erkennen. Doch ich wollte sie nicht weiter bedrängen – mit etwas Glück würden sie noch eine Weile in der Gegend bleiben. Chris fragte sich inzwischen sicher schon, was geschehen war, fiel mir ein.
„Dann fresst erst mal was auf den Schreck hin. Ich geh jetzt auch wieder.“ Ich wandte mich um und hastete an unserem mannshohen Stapel Feuerholz vorbei zur Cabin zurück.
Die Kanalanzeige des Funkgeräts glühte mir zwischen den Essensvorräten entgegen. „Chris? Bist du noch dran?“
„Ja, was war denn los? Du warst so lange weg.“
„Drei Elche! Eine Kuh mit Zwillingen, direkt bei der Cabin“, sagte ich atemlos und warf meine Jacke aufs Bett. „Ich nehme mal an, dass die Hunde gehört haben, wie sie vom See hochgekommen sind. Mensch, hier ist was los!“ Ich blies mir eine Haarsträhne von der Stirn und lehnte mich gegen einen Sack Reis. Schneewasser lief von meinen Stiefelsohlen langsam auf die Spargeldosen zu. Ich zog die Gummistiefel aus und schob sie zum Treppenaufgang hin. „Da siehst du mal, was du alles verpasst!“
„Ja, ja, das brauchst du mir gar nicht extra zu sagen!“ Chris seufzte. „Irgendwie habe ich gerade sowieso kaum Lust wegzufahren. Ist es wirklich okay, dass du wieder so lange allein bist?“
Bekam er nun plötzlich Gewissensbisse? Unwahrscheinlich – denn weswegen? Mir gefiel es doch gut, das Alleinsein. Ich rückte näher ans Funkgerät. „Ah ja, klar. Du weißt doch, es ist so ein Abtauchen in eine ganz andere Welt. Hast du die nächsten Tage in Atlin noch ein volles Programm?“
Chris stöhnte. „Ja, ganz schön. Ich muss gleich sehen, dass ich ein paar Sperrholzplatten organisiere, um das Jetboot schneesicher einzupacken. Wenigstens hat's gut geklappt, es aus dem Wasser zu ziehen – da fing es gerade erst an, zu schneien. Heute Abend bin ich bei Wayne und Cindy zum Essen eingeladen, morgen bei Ann – und Montag geht ja schon der Flug. Und wie sieht deine Planung aus?“
Darauf, dass er unsere Freunde sah, war ich doch etwas neidisch. Seit Chris gestern über die Seen nach Atlin gefahren war, hatte er nicht nur mit einer ganzen Handvoll Menschen gesprochen, sondern sogar welche gesehen! Ich dagegen war das letzte Mal vor zwei Monaten im Dorf gewesen und plante auch nicht, vor dem Sommer wieder hinzufahren. Meine Ausflüge in die Zivilisation waren auf zwei kurze Exkursionen pro Jahr geschrumpft; ich war dem Wildnisleben inzwischen mit Haut und Haaren verfallen. Klein kam mir meine Welt vor.
„Och … Ich denke, ich gehe noch mal raus, vielleicht sind die Elche ja noch da.“
Die Berge sind bereits verschneit
„Gut, ich mach mich jetzt besser auf, das Sperrholz zu besorgen, bevor es dunkel wird – sollen wir morgen nochmals funken?“
„Okay. Gleiche Zeit?“
„Ja, das sollte gehen. Dann pass auf dich auf und grüß mir die Elche, ja? Ich liebe dich, Sweetie!“
Sagt der das doch tatsächlich über den öffentlichen Funk! Na, wieso eigentlich auch nicht?
„Bis morgen dann. Ich lieb dich auch. Raven Hill clear.“
„Como Lake out.“
Ich stellte das Funkgerät ab und stieg glücklich und beschwingt durch das Gespräch die Stiege hinunter. Da zog er hin, mein Freund, sich unter die Menschen zu mischen und seine sozialen Kontakte zu pflegen. Sollte er doch! Nein, hinaus in die Menschenwelt zog mich inzwischen kaum noch etwas. Fremd, irgendwie unverständlich waren mir die Menschen geworden, deren Leben ungleich facettenreicher als das meine war; die täglich Dutzende, sogar Hunderte anderer Menschen sahen, sich mit ihnen arrangieren mussten; die Arbeitskollegen, Kinder und Chefs hatten, Freunde, die sie mal eben so sehen konnten. Über was konnte ich mit ihnen noch groß reden? Im Laufe der sechs Jahre, die seit dem Bau der Cabin vergangen waren, hatten sich Elche, Schnee, Bären, Bäume und Eis zu meinen Themen entwickelt.
„Wollt ihr mit rauskommen?“
Eine rhetorische Frage. Die vier Hunde waren sofort auf den Beinen und schwänzelten aufgeregt um mich herum. Ich legte Silas und Moldy ihre Teletakthalsbänder an, die uns unter den Elchen, Stachelschweinen, Wölfen und Bären viele Sorgen und potenzielle Tierarztkosten ersparten: Falls der Jagdinstinkt ihr Hirn einmal ausschaltete, kamen unsere auf den fein regulierbaren Elektroimpuls trainierten Hunde sofort.
Moldy
Mir dagegen schnallte ich das Bärenspray um, dazu kamen noch der übliche Tagesrucksack mit dem Notpeilsender und den Erste-Hilfe-Sachen, sodass ich für alles von problematischen Tierbegegnungen bis zu Unfällen abseits der Blockhütte gut gerüstet war. Fliegender Händler, die Wildnisversion – so kam ich mir mit den ganzen Sachen vor. Ich sah auf die von den Schneeflocken verschleierten Zitterpappeln und den wintergrauen See hinaus. Schneller und dichter fiel der Schnee, verwischte das Tageslicht zu einer verfrühten Dämmerung, zog meine Welt noch enger zusammen, als sie sowieso schon war. Bevor ich die Hunde hinausließ, ging ich allein den Pfad hoch und schaute nach den Elchen – aber sie waren nirgendwo mehr zu sehen. Ihre Spuren führten von unserem Grundstück fort.
„Silas, bei Fuß! Moldy!“ Enttäuscht lotste ich die nach der Elchfamilie schnuppernden Hunde in den Pappelwald hinein. Für das nächste Vierteljahr würde ich nicht mehr viele Lebewesen zu Gesicht bekommen, die größer als ein Hund waren. Tierbegegnungen waren mir unsagbar wertvoll geworden.
Ich bohrte meine Hände tiefer in die Jackentaschen. Nach dem Funkgespräch mit Chris, dem Hundegebell und der Aufregung mit den Elchen kam mir der Wald so still vor, als hielte er den Atem an. Eine leichte Brise trug den intensiven Nadelbaumgeruch einer Tannengruppe zu mir herüber. Nichts schien sich in dieser Einsamkeit zu bewegen, außer mir und den Hunden. Plötzlich schweiften alle vier vom Pfad ins Gebüsch ab, ließen kleine Wolken Neuschnee von den Weidensträuchern stieben.
Erregt bebten die Hundenasen über eine frische Spur im Schnee. Am Rande unseres Pfades fand ich einen unversehrten Abdruck, der allerdings von keinem Elch herrührte. Eine ovale Mulde in Handgröße war in den Schnee gepresst: Ein Bär! Ähnlich wie ein breit ausgetretener, menschlicher Fuß sah die Fährte aus, mit einem kleinen Gestirn von fünf Krallen gekrönt. Sogar die Falten der Fußsohle waren zart im Schnee abgezeichnet. Ich legte meine Hand in den Abdruck der nicht viel größeren Pranke. In weiten Schlenkern verlor sich die Spur im Wald. Nur das Hecheln der Hunde zerschnitt die Stille.
Bärenspur im Schnee
„Ein Schwarzbär“, sagte ich leise und fühlte mich beschenkt – es war doch nicht so einsam.